Nr. 174.- 1916. Unterhaltungsblatt des vorwärts Dollllttstag. 27. Juli. Ein Serum-Institut. (SÄutz.) Das Serum eines jeden Pferdes wird nach jeder Abzapfung zuerst an Kaninchen geprüft. Es ist«in großer Stall da, der erfüllt ist von dem feinen Pfeifen von Tausenden von Stallhasen. Der Bedarf ist sehr groß, und es müssen infolgedessen ständig neue ange- schafft werden. .Warum werden für diese Proben immer die Kaninchen be- nützt?" Der Direktor antwortete:„Die Gründe sind verschiedener Art; zunächst sind sie leicht zu züchten und zu unterhalten und kosten nicht viel. Sie kommen uns durchschnittlich auf 75 Cts. bis auf I Frank per Stück zu stehen. Aber der Hauptgrund ist, daß sie das zweifelhafte Vorrecht besitzen, so ungefähr alle Krankheiten be- kommen zu können. Wie Sie sehen, haben sie eine Bleiplombe am Ohr mit einer Nummer darauf. Das ist die einzige Möglichkeit, sie auseinander zu halten und zu wissen, welches Individuum eine bestimmte Injektion erhalten hat." Nun folgten wir dem abgezapften Blute. Die Flaschen wurden sofort, nachdem sie gefüllt waren, in einen Kühlraum gebracht, wo sie ruhig stehen bleiben, damit die Blutkügelchen sich setzen können. I» diesem Kühlraum verbleiben sie 96 Stunden. Alsdann merkt man, ob das Serum gut ist oder nicht. Die wässerige Flüssigkeit wird abgenommen, auf den Probetieren kontrolliert und, falls gut, Mit deip der vielen anderen Pferde in eine Abteilung verbracht, wo sie sterilisiert wird. Dann gelangt sie in die Eiskeller zur Auf- bewahrung, bis die Ablieferung erfolgt. Das Tetanus-Serum behält seine Wirksamkeit auf unbeschränkte Zeit hinaus. Ja, man hat sogar konstatiert, daß das ältere besser ist als das frische, weniger Akzidenz verursacht, und man bewahrt es somit wie guten alten Wein. In den Eiskellern sah es merkwürdig aus. Ueberall ringsum standen riesige Schränke mit den schrecklichsten Aufschriften: Teta- nus, Pest, Diphtherie, Dysenterie---- Eis war nicht vorhanden, die Abküblung erfolgt auf Grund eines modernen Systems, bei dem die abgekühlte Luft erst gänzlich getrocknet wird und dann durch die verschiedenen Kühlkästen zirkuliert. Dies hat zum Vorteil, daß man zum Schließen der Flaschen Kattunpfropfen benützen kann, die die größte Dichtigkeit ergeben, ober nicht gegen Feuchtigkeit Be- stand haben. Die ganze Kellerabteilung ist aus Eisenbeton, so daß im Falle eines Brandes der kostbare Vorrat nicht umkommen kann. Das Serum wird je nach Bedarf, aus den großen Flaschen, m denen es aufgehoben wird, in kleine Flaschen von 19 Kubikzenti- metcr, die Menge für eine einmalige Injektion, umgefüllt, und so verschickt. Dafür hat man Spezialmaschinen, die von Frauen be- dient werden. Das sorgfältig sterilisierte Fläschchen wird einge- setzt und eine Pedalbewegung sorgt dafür, daß die genaue Menge einfließt. Auf diese Weise können per �Stunde vierzig Fläschchen gefüllt werden. In einem anderen Spezialapparat werden sie dann fest verschlossen, worauf aufs Neue eine zweimal wiederholte Erhitzung erfolgt, für den Fall, daß die Sterilisation nach dieser Tätigkeit nicht mehr vollkommen sein sollte. Dann sind die Fläsch- chen fertig zum Versand. An der Front öffnet der behandelnde Chirurg das Fläschchen durch einige Striche mit einer kleinen Feile und gibt dem Ver- mundeten seine Injektion, die ihn gegen die ftüher so häusig vor- kommende, furchtbare Krankheit absolut schützt. Gewöhnlich wird die ganze Menge von l9 Kubikzentimeter injiziert. Sollte in einem gegebenen Augenblick Mangel an Serum sein, dann genügt auch ein kleineres Ouantum, aber zur Verhütung von Neben- erscheinungen ist es besser, die ganze Menge zu geben. Die In- jektion genügt noch, wenn sie fiinf Tage nach der Verwundung er- folgt. Sie immunisiert den Patienten aber lediglich auf die Dauer von 19 Tagen. Sieht nach Ablauf dieser Zeit die Wunde noch schlecht aus, so muß eine neue Einspritzung erfolgen. Zum Schluß noch einige Zahlen. Das Institut Pasteur hat augenblicklich in Garckws und den übrigen Vlätzen 1199 Pferde in Behandlung Seit Beginn des Krieges hat es llA Millionen Fläschchen Serum gegen Tetanus und ebensoviel Fläschchen Serum gegen andere Krankheiten produziert, dazu hat es momentan noch mehr als� eine Million Fläschchen Antitetanusserum in Vorrat. Mangel ist also ausgeschlossen. Die Serums, die in Garches pro- dusiert werden, sind nach der Reihenfolge der Entdeckung, die gegen Diphterie , Tetanus, Pest, Streptokokkus , Genickstarre, Dysenterie und endlich das gegen Schlangengift, die Spezialität von Dr. Cal- mette.. in Lille , das seit dieser Platz in den Händen der Deutschest ist, ebenfalls hier angefertigt wird. Es gibt also genug Männer, die, genau wie vor dem Kriege, ruhig und unermüdlich weiter arbeiten zum Wohle ihrer Mit- menschen. Es tut einem wohl, sie an ihrer Beschäftigung zu sehen— sind wir dieses Schauspiel ja nun seit beinahe zwei Iah- ren nicht mehr gewohnt. Aber es gibt einem doch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.... (z)(Deutsch von Julius Zerfaß .) kleines Feuilleton. Srennessel-Poesie. Der Weltkrieg hat der Brennessel eine hohe Bedeutung ver« liehen. Ueberall wird sie jetzt gesammelt, damit daraus ein Ge- webe verfertigt wird, das uns zur Bekleidung dienen soll. So wird man unwillkürlich erinnert an dos Märchen von den Brennessel- Hemden für den verwunschenen Prinzen. Auch in der Sage vom Eberstein spielen Brennesselhemden eine große Rolle. Hier verbot ein berriswer Vogt einer holden Maid die Heirat mit dem Schloßgärtner.„Ich will dir aber," sprach er heimtückisch,„die Heirat nicht gänzlich verbieten, doch sollst du nicht eher heiraten, bis du mir zwei Hemden aus den Nesseln, die aus dem Grabe deiner Eltern wachsen, bereitet hast." Dabei dachte er natürlich, daß die Dirne dies nie fertig bringen würde. Doch das Mädchen ging unerschrocken an die Arbeit. Bald wurde sie jedoch kleinmütig und dachte, sie würde das schwere Werk in ihrem Leben nicht vollbringen können. Darob wemte sie sehr. Da kam ein altes Bergweiblein, tröstete sie und webte ihr die Hemden fertig. So triumphierte das Mädchen über den Vogt. Unseren Vorfahren, den alten Germanen, war die Brennessel heilig und dem Donnergott, Donar, geweiht. Auf diese Verehrung gehen viel abergläubische Gebräuche, die sich noch hier und da im deutschen Volke erkalten haben, zurück. So legt man in Tirol beim Gewitter Brennesseln ins Feuer, damit der Blitz nicht einschlägt, und am Johannislag backt man Brennesselkuchen, um sich vor Hexerei zu schützen. Mancherorts pflückt man auch am Grün- donnerstag Brennesseln und bewahrt sie auf als Talisman gegen Jammer und Elend. Und im Volkslied wird die Brennessel als Sinnbild der Liebes- trauer also besungen: Ei. Bauer, laß mir die RöSlein steh», Sie sind nicht dein. Du trägst wohl noch von Nesselkraut Ein Kränzelein. Das Nesselkraut ist bitter und herb, Es brennet sehr. Verloren Hab ich mein feines Lieb, Das reut mich sehr. Es reut mich sehr und tut mir In meinem Herzen weh, Daß ich die Herzallerliebste Soll sehen nimmermehr. Hewitterzlmmer. Die Gewitterfurcht ist eine psychologische Erscheinung, die alles Vertrauen in die technische Vervollkommnung unserer Zeit und in die Wirksamkeit des Blitzableiters nicht völlig aus der Welt zu schaffen vermag. Früher griffen Leute, die es sich leisten konnten, gelegentlich zu recht sonderbaren Abwehrmaßnahmen. Im neunten Kapitel der Reuierschen Erzählung„Dörchläuchling" finden wir bei- spielsweise die überaus ergötzlich zu lesende Schilderung, wie sich „Dörchläuchling"— der Herzog Adolf Friedrich IV. von Mecklen- burg-Strelitz. der von 1752— 1794 regierte— vor dem Blitz zu schützen versucht hat. Danach stand mitten in dem Zimmer, in dem sich Dörchläuchling aufhielt, ein Tritt auf Flaschenhälsen und darauf eine Art von Laube mit Fenstern rundherum, die bis unten hin gingen, so daß das Ganze wie ein Vogelbauer aussah. Obendrauf war ein hellblauer seidener Baldachin angebracht, unter dem 15 Per- lonen Platz hatten. Und in dieser eigenartigen Vorrichtung saß Dörchläuchling in tausend Aengsten in einem Lehnstuhl, bekleidet mit einem geldseidenen Schlafrock und mit einer grünseidenen Schlaf- mütze. An den Füßen trug er ein paar Schuhe, die mit rotem Siegellack lackiert waren. AuS dem Zimmer war all und jedes Metall entfernt worden. Da Dörchläuchling der Meinung war, daß ebenso wie Metall und der Schall auch der Rauch den Blitz anziehe, durfte an solchen Tagen im Palais kein Feuer angemacht werden und Dörchläuchling aß sogar kalt zu Mittag. Auch andere ängstliche Leute waren da- mals darauf bedacht, ihr kostbares Leben bei einem Gewitter in Sicherheit zu bringen. In einer aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stammenden und von einem Dr. Krüger in Helm- stedt herrührenden Schilderung lesen wir über die Einrichtung eines solchen Gewitterziinmers die folgenden belustigenden Einzelheiten: „Ich erblickte", so erzählt Dr. Krüger,„in einem großen Saal eine Gesellschaft von etwa 29 Personen. Der Fußboden und die Wände des Saales waren mit blauen seidenen Tapeten überzogen, die Damen saßen auf großen seidenen Stühlen, hatten seidene Kleider an und ihre Füße aus seidene Kiffen ge- setzt. Einige Mannspersonen, welche nicht mit seidenen Kleidern versehen waren, hingen in der Schwebe an Stricken von blauer Seide. In dem ganzen Zimmer war nicht das ge- ringste von Metall anzutreffen, und die GlaStafeln der Fenster, welche sehr groß waren, waren mit Pech eingekittet. Mitten im Saal hing ein kristallener Leuchter mit Wachslichtern, und vor dem Zimmer standen sechs Bediente auf Pechtonnen und halten Fackeln von eben dieser Materie in der Hand." Um dieselbe Zeit wurde auch zum ersten Male da? Elektrisieren zu Heilzwecken angewandt, und man pflegte damals die zu elektrisierenden Personen entweder an seidenen Stricken frei schweben zu lassen oder auf Betten zu legen, die an seidenen Stricken hingen. Auf jeden Fall aber wurde verhindert, daß die Personen, die sich elektrisieren ließen, direkt den Boden berührten. Man wendete also bei Gewittern dasselbe Ver- fahren, aber in entgegengesetztem Sinne an, um sich gegenüber der Blitzgefahr zu isolieren... Operationen bei gleichzeitiger Röntgen- öurchleuchtung. Gerade der Krieg hat gezeigt, wie große Dienste die Röntgen- strahlenbenutzung der Chirurgie leisten kann. Noch wirksamer wäre natürlich diese Hilfe, wenn die Röntgenstrahlen dem Messer des Chirurgen den Weg direkt wiesen, nicht wie bisher bei der Durch- leuchtung oder Photographie indirekt. Nun hat Prof. Dr. Holzknecht, der Vorstand des Röntgeninstituts amallgemeinenKrankenhaus inWien, eine Röntgeneinrichtung geschaffen, die die Anwendung der Röntgen- strahlen unmittelbar während der Operation ermöglicht. Bei der Röntgenoperalionsanlage Holzknechts ist der Apparat nicht im Operationssaal, sondern im Nebenraum untergebracht. Der Operateur bedient sich des Brillenkryptoskops und kann nun im vollen Tageslicht in einer Art Guckkasten das Röntgenbild sehen. Auf die Einzelheiten kommt es hier nicht an, hier handelt es sich nur darum, festzustellen, daß die ärztliche Kunst wieder einen erheblichen Schritt weitergekommen ist. In der Klinik des bekannten Wiener Chirurgen Hofrat v. Eiselsberg wurde ein derartiger Apparat aufgestellt und v. Eiselsberg berichtete in einer Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte über die so aus- geführten Operationen. Danach ist die neue Methode den bisherigen, bei welchen während der Operation verfinstert werden mußte, weit vorzuziehen. Durch diese Methode kommt man mit wesentlich kleineren Eingriffen aus und findet vor allem Geschosse, die man früher vergeblich suchte. Unter anderem gelang es v. Eiselsberg ein« Nadel, die ein Verbrecher sich ins Herz gestoßen, die im Herz- beutel steckte, mit Hilfe des Verfahrens leicht zu entfernen. Notize». — Privatdozent Dr. Ha m macher f. An der Spitze seiner Koinpagnie fiel am 29. Juli im Felde dieser junge Gelehrte, der bereits mit 24 Jahren als Privatdozent an der Bonner Universität zugelassen wurde. Sein umfangrelcheS Hauptwerk er- schien unter dem Titel„Das philosophische und ökonoinische System des Marxismus ". Als Gegner von Marx sucht er sich darin mit seinen Theorien auseinanderzusetzen. So wenig man seine Kritik des Marxismus überzeugend nennen können wird, so haben doch auch diejenigen, die sie zurückwiesen, den großen Fleiß und den wlssenschastlichen Ernst dieser Arbeit anerkannt. In Emil Hammacher verliert die Wissenschaft jedenfalls einen Mann, dessen Wissen und Können noch viel für die Zukunft versprach. Hammacher erreichte ein Alter von nur 31 Jahren. — Wieviel Atome enthält ein Gramm Radium? Die in einem Gramm Radium enthaltene Menge Atome stellt sich nach wissenschaftlichen Berechnungen auf etwa 2,73 X 19 21, das sind 2 739 909 999 909 Milliarden. Von diesem Vorrat zerfallen in jeder Sekunde etwa 3,4 X 19�, also 34 999 999 999 Milliarden oder 34 Billionen Atome. Das ergibt aber auf das ganze Jahr immer noch erst einen unfaßbar kleinen Gewichtsverlust, nämlich einen Ver- lust von 9,9994 Gramm. Zur tot erklärt. Von Ernst Wichert. lös . sie aus dem Bett gesprungen war, die Kleider über- geworfen hotte und vor die Haustür trat, verließ er bereits den Hof und lenkte nach dem Flusse zu. Sie sah das Auf- Wasser hoch aufspritzen, als die Pferde die Böschung des Ufers hinabtrabten. Es war eine Fahrt, bei der auch dem Mutigen das Herz § lagen konnte. Von der See her bäumten sich die schwarzen olkön wie riesige Ungetüme auf, kämpften miteinander, ballten sich zu dichten Massen zusammen, rissen plötzlich wieder ab und jagten mit zerzausten Rändern, einander verfolgend und teilweise überholend, über den bleichen Himmel. Von Zeit zu Zeit brach ein Sonnenstrahl durch die von einem heftigen Windstoß geöffnete Lücke und beleuchtete grell und strichweise die weite Fläche, die wie ein uferloser See dalag, aus welchem hin und her niedrige Schneedämme oder schmutziggraue Eisinseln auftauchten. An manchen Stellen war die Fahrstraße durch kleine Tannenbäumchen kenntlich gemacht, welche nun zum Teil tief im Wasser standen oder auch bereits ihren festen Stützpunkt im Eise verloren hatten und unigefallen waren, so daß die Wellen darüber hinweg- schälten. Soweit man umschaute, war kein lebendes Wesen zu entdecken, und die Nehrung lag fern, trostlos grau und öde, oft nur in unsicheren Umrissen erkennbar. Die Pferde trieften von Schweiß, dampften wie kochendes Wasser und wagten nur zitternd Schritt nach Schritt, oft über ein ver- borgenes Eisstück stolpernd oder in ein ausgewaschenes Loch einbrechend. So ging es fast zwei Stunden fort, und nicht viel niehr als die Hälfte des Weges war zurückgelegt. Die er- müdcten Tiere konnten nicht mehr vorwärts, er mußte auf einer verhältnismäßig trockenen Stelle Halt machen. JFn der Aufregung und stets die gespannteste Aufmerk- sammit auf das Fuhrwerk richtend, hatte er bisher keine Zeit gehabt, an sich selbst zu denken. Erst jetzt, wo er ermattet die Leine und Peitsche fallen ließ und auf das Chaos rund um sich her ausschaute, fing seine Phantasie zu arbeiten an. Es war ihm, als ob die Wolken immer tiefer zur Erde strebten und ihn vom Boden fortwirbcln wollten; sein Ohr vernahm unheimliche Töne, als ob unter ihm die Wellen am Eise nagten, als ob bald hier, bald dort von unten her gegen die Decke gehämmert würde, um zu proben, wo sie am dünnsten sei und am leichtesten brechen werde. Mitunter war's, wie wenn in der Ferne Kanonen gelöst würden und dumpf hin- überdröhnten, und dann knatterte plötzlich das Kleingewehr- fcuer ganz in der Nähe, daß er entsetzt aufsprang.„Und wenn sie dich nicht liebt!" stöhnte er; lieber gleich hier be- graben sein!" Er hielt's keine Viertelstunde aus, bewegungslos in dieser schrecklichen Einöde. Wieder peitschte er die Pferde an, wieder mußte er vom Damm herunter ins Wasser, das bis zur Nehrung zu reichen schien; jede Marke für den Weg ver- schwand, nur das letzte Fischerhaus drüben gab ihm die Rich- tung an. Und plötzlich stolperten die Pferde, zogen den Schlitten mit einem heftigen Ruck an und versanken vor ihm. Mit einem jähen Schrei sprang er hinaus.-- Annika hatte die letzte Nacht kein Auge zugemacht. Zwar wiederholte sie sich tausendmal:„Er wird nicht kommen— er kann nicht kommen— Gott sei Tank, daß er nicht kommt!" Aber je weiter die Zeit vorrückte und je näher die Stunde kam, in der er so fest versichert hatte, sich wieder einzufinden, desto unruhiger schaute sie aus dem Fenster auf das Haff hinaus, nach der Richtung hin, die er nehmen mußte.„Es wäre Toll- heit," sagte sie sich, aber:„Er wäre dessen fähig," mußte sie jedesmal hinzusetzen. Sie ahnte die Leidenschaftlichkeit seiner Neigung und war nicht unempfindlich gegen die Vorstellung, daß er sich ihretwegen in Gefahr bringen könne. Endlich kam es ihr so vor, als ob sie einen schwarzen Punkt auf der Eis- und Wasserfläche in Bewegung sähe. Sie strengte ihr Auge an und sah den schwarzen Punkt nun ganz deutlich, aber die Bewegung hörte auf.„Es ist Täuschung," dachte sie; aber sie ging doch hinaus und eine Strecke auf den Sandberg hinter dem Hause hinauf, von wo sie eine weitere Umsicht hatte. Die schwarze Stelle auf dem Eise war nicht zu verkennen, aber bei dem trüben Wetter und der weiten Ent- fernung ließen sich die Umrisse nicht deutlich unterscheiden. Und wenn es der Schlitten war, warum stand er still? Sie erinnerte sich, daß ihr Mann einmal ein kleines Fernrohr von England mitgebracht und zurückgelassen hatte. Eiligst kehrte sie zum Hause zurück und suchte es aus dem Kasten hervor. Als sie auf ihren früheren Standpunkt zurückkehrte, konnte sie mit bloßen Augen bemerken, daß die dunkle Masse wieder fortrückte.„Er ist's," rief sie. Gleich darauf gab ihr das Glas die Ueberzcugung, daß sie nicht irrte. Mit be- klommenem Herzen folgte sie dem Schlitten, wie er sich lang- sam und meist im Wasser näherte; die Zeit schien sich endlos zu dehnen. Sie wußte, daß ein breiter Eisriß zu passieren war, und zitterte vor dem Gedanken, daß die Pferde ihn ver- fehlen könnten. Mehrere Nachbarn fanden sich ein und schauten gleichfalls neugierig und ängstlich hinüber, etwa wie man vom Strande aus ein Schiff beobachtet, das im Sturm den Hafen sucht. Plötzlich ließ die Fischerfrau das Glas fallen und kreischte laut auf:„Er versinkt— zu Hilfe!" Die übrigen Zuschauer, denen das Verschwinden des Schlittens nicht unbemerkt geblieben war, machten sich gleichfalls durch verschiedene Ausrufungen Luft, rührten sich aber nicht von der Stelle.„Zu Hilfe!" wiederholte Annika,„es ist der Krüger!"—„Dem nützt sein Geld nichts mehr," hieß es: „ein Wunder, daß er noch so weit gekommen ist." Aber die Fischersfrau beruhigte sich nicht so bald. Sie lief nach dem Hause hinunter, riß einen Handschlitten aus dem Stall, raffte einige Stangen zusammen, die unter die Dachbalken geschoben waren, und machte sich auf den Weg nach dem Haffe. Nun faßten auch die Männer Mut, folgten ihr und beratschlagten, was zu tun sei. Man kam überein, ein leichtes Boot auf zwei Schlitten zu setzen und so den Ver- such zu wagen, über das Eis und die offenen Blänkcn die Ungliicksstclle zu erreichen. Annika ließ sich nicht abhalten, sie zu begleiten; sie watete, in jeder Hand eine Stange, um sich beim Einbrechen zu sichern, durch das Schncewasscr voran. Es war nicht leicht, in der Richtung zu bleiben, da jeder An- haltsvunkt fehlte, aber endlich fand man doch nicht weit von dem Spalt das schwimmende Heupolster, das sich vom Schlitten losgelöst haben mußte. Man machte das Boot frei und setzte über, soweit das Wasser tief genug war.„Dort!" rief Annika, und zeigte auf einen Schneehaufen, der die Fläche überragte. Ein Mensch lag dort, mit dem Oberkörper auf dein Schnee, mit den Füßen im Wasser, scheinbar regungslos. Nach wenigen Minuten war man dort.„Konrad Hilgruber!" rief Annika, neben ihm niederstürzend und seinen unbedeckten Kopf auf ihren Arm hebend. Wie vom Tode erweckt, schlug er die Augen auf, sah mit einem unbeschreiblich glückseligen Blick in ihr übergebeugtes Gesicht, und fiel dann in Ohn- macht zurück. Man trug ihn nach dem Boot und erreichte glücklich das Fischerdorf. Am nächsten Tage ging bei heftigem Sturm das Haff auf. Konrad Hilgruber lag krank in der Hütte eines Fischers, und Annika saß neben seinem Bett, eifrig damit beschäftigt, ihn zu pflegen.(Forts, folgt.)
Ausgabe
33 (27.7.1916) 174
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