Nr. 184.- 1916.Unterhaltungsblatt öes vorwärtsAieustag, 8. August.Shackletons letzte Zorfthungsreise.Endlich sind einige genauere Nachrichten über den Verlauf derletzten Forschungsreise von Ehackleton, dem ehemals auch in Berlinmit gerechtem Sinn gefeierten Südpolarforscher, aus englischen geo-graphischen Zeitschriften zu uns gedrungen und kennzeichnen dieSchicksale und Ergebnisse als überaus kläglich. Das soll demverdienten Polarforscher nicht als Verschulden angerechnet werden,da er vielmehr unter äußerster Mißgunst des Geschicks zu leidenhatte. Luft, Eis und Wasser hatten sich gegen ihn verschworen, undes ist fast als ein Wunder anzusehen, daß er überhaupt lebend miteinigen Begleitern aus der Eiswüste wieder aufgetaucht ist, wäh-rend der größere Teil seiner Mannschaften dort zurückbleiben muhteund entweder schon erlegen ist oder einer höchst unsicheren Er-rettung entgegenharrt.Shackleton fuhr auf seiner„Endurance" am 6. Dezember 1914von«üd-Georgien aus, zunächst in südlicher Richtung. Schon beiden Sandwichinseln— nicht zu verwechseln mit der gleichnamigenInselgruppe im Stillen Ozean— traf er auf schweres Packeis, daseine möglichst baldige Landung wünschenswert machte, wonach dasSchiff zurückgesandt werden sollte. Beides blieb versagt, da sich eingeeigneter Landungsplatz� nicht fand. Infolgedessen mußte dasSchiff weiter an der Küste von Coatsland entlang fahren, wobeidie südlich anschließende Küste, die jenes Land mit dem von Filchner1911/12 entdeckten Prinz-Luitpold�Land verbindet, aufgenommenwurde— das wichtigste und fast einzige Ergebnis der Reife. DieKüste erhielt den Namen Cairdküste. Der weitere Verlauf derReise war eine Kette von Unglücksfällen, die jede Möglichkeit selb-ständiger Forschungen verhinderte. Schon im Februar, also imsüdlichen Hochsommer fiel das Thermometer auf 45 Grad unterdem Gefrierpunkt, und das Schiff wurde vollständig im Packeiseingeschlossen, also dem Eis, Wind und Meer auf Gnade und Un-gnade überliefert. Die berüchtigten Eispressungen, die sich im Laufedes Winters zu gewaltiger Stärke steigerten, brachten es in größteGefahr. Der südlichste Punkt der Reise wurde schon bei 77 Graderreicht, wählend Filchner in fast derselben Länge wenigstens nahezu78 Grad gewonnen hatte. Nun wandte sich die Drift des Eisesmit dem Schiff gegen Nordwesten und behielt im Zickzackkurs dieseHauptrichtung bei. Nachdem das Fahrzeug durch die furchtbarenEispressungen schließlich ein großes Leck erhalten hatte, mußte derlängst geplante Entschluß, es zu verlassen, ausgeführt werden.Alles Brauchbare wurde auf das Eis geschafft, insbesondere Boote,Schlitten, Eßvorräte und alle notwendigen Teile der Ausrüstung.Dies geschah im Oktober lölS.Das Schiff hielt sich noch bis zum 29. November, an welchemTage es versank. Schon vorher hatte man versucht, mit den Bootenund den von Hunden gezogenen Schlitten schneller nordwärts überdas Eis vorzudringen, es bot aber wegen seiner durch Pressungenentstandenen Unebenheiten und Spalten ein unüberwindlichesHindernis. Die Polarforscher mußten also mit dem Eise treibendibr weiteres Schicksal erwarten, eine furchtbare Geduldsprobe, dadas Eis mit äußerster Langsamkeit, nur etwa 3 Kilometer täglich,nach Norden trieb. Ende Dezember scheiterte ein neuer Versucheiner Schlitten- und Bootfahrt aufs neue, und so fand der zweiteSommer die Expedition immer noch auf der Eisscholle, die sich nundrohend verkleinerte. Im März 1916 war sie nur noch 199 Qua-dratmcter groß. Unterdes waren natürlich auch die Nahrungs-mittelvorräte knapp geworden, so daß die meisten Hunde ge-schlachtet und die Mahlzeiten verkleinert werden mußten. DieJagd konnte nichts liefern, da sich außer wenigen Seehunden keinGetier zeigte. Am.23. März tauchten fern die Spitzen der InselIoinville auf, ohne daß die geringste Hoffnung bestand, über densie umgürtenden Eispanzer dorthin zu gelangen. Dasselbe galtvon der zwei Wochen später gesichteten Clarence-Jnsel der Süd-schetlandsgruppe. Am 8. April ging die Eisscholle ganz in Trüm-wer, und die Polarfahrer mutzten sich nun auf Gedeih oder Vcr-derb ihren kleinen Booten anvertrauen. Mit ihnen in dem durchSturm berüchtigten Südpolarmeer bewohntes Land zu erreichen,konnte eigentlich kaum erhofft werden. Trotzdem konnte amIb. April die Elefantinsel gewonnen werden, die aber in ihrerUnbewohntheit noch keine Rettung bedeutete. Infolgedessen ließShackleton 22 Mann hier in einer Eisgrotte zurück und versuchtemit nur vier Leuten bis Süd-Georgien zu gelangen, das rund1399 Kilometer entfernt lag. Nach einer Fahrt von fast dreiWochen gelang es tatsächlich über das sturmbewegte Meer dieInsel zu erreichen und über ihre bis 1299 Meter ansteigendenGletscher hinweg nach der Wolfgangsstation auf der Nordseitedurchzustoßen. Der Forscher und seine Begleiter waren nun ge-rettet. Aber alle bisherigen Versuche, die auf der Elefantinselzurückgebliebenen Leute zu holen oder ihnen auch nur Proviantzukommen zu lassen, sind fehlgeschlagen.Die Expedition muß als gescheitert angesehen werden, da ihreigentlicher Plan, über den Südpol hinweg nach dem Viktorialanddas Südpolargebiet zu durchqueren, nicht einmal in Angriff ge-nommen werden konnte. Auch das Schiff.Aurora", das unterdesauf der anderen Seite der Antarktis in dem Gebiet des Viktoria-landes Proviantniederlagen für Shackleton schaffen sollte, ist vomMißgeschick verfolgt gewesen und mußte gleichfalls eine größereAnzahl von Leuten in bedenklicher Lage im ewigen Eise zurück-lassen. Als ein nicht überraschendes, aber immerhin als Bestäti-gung früherer Erfahrungen nennenswertes Ergebnis mag nocherwähnt werden, daß die Drift der Schiffe in beiden Gebieten desSüdpolarmeeres rechtsgehende Strömungen, also von Osten überSüden nach Westen, festgestellt haben.kleines Feuilleton.Das Telephon im Zuge.Die neueste technische Errungenschaft in den mit allem mo-dernen Komfort ausgestatteten amerikanischen Zügen ist— dasTelephon. Eine Versuchsfahrt, die der Erfinder des Eisenbahn-telephonS, W. Macfarlane, unternahm, hatte ein günstiges Re-sultat. Macfarlane konnte mit seinem Bureau in New Dort 29 Mi-nuten telephonieren, während der Zug mit einer Geschwindigkeitvon 89 Ktloinetern in der Stunde nach Pennsylvanien raste. Eshandelt sich um ein sehr einfaches System, das die Schienen selbstals Stromleiter benutzt. An dem Gestell der Lokomotive sind zweiden Strom abnehmende Metallbürsten angebracht, die mit denSchienen in ununterbrochenem Kontakt bleiben; an sie sind dieLeitungsdrähte zum Telephonapparat im Zuge unmittelbar ange-schloffen. Von den Schienen kann dann bei der einer Telephon-zentrale zunächst gelegenen Station der Strom abgenommen und indas gewöhnliche Telephonnetz übergeleitet werden, wo auf üblicheWeise jede gewünschte Verbindung hergestellt wird.Der klangschristenöruck.Unter den zahlreichen Erfindungen, die in letzter Zeit auSgeprobtwurden, um das Los der Kriegsblinden durch Schaffung einer mög-lichst hochwertigen Blindenschrift'zu erleichtern, erregt das erst jüngstvollendere System des sog. Klangschriflendruckes von PrivatdozentDr. Max Herz unstreitig das größte Interesse. Die Bedeutung derErfindung des Dr. Herz ist vor allem darin zu suchen, daß sie nichtnur den völlig Erblindeten, sondern auch den Schwachsichtigen unddarüber hinaus sogar den völlig Gesunden großen Dienst zu leistenvermag. Die bisherigen Blindenschriften, deren es verschiedene gibt,hatten alle den Kardinalfehler gemeinsam, daß die mit ihnen her-gestellten Druckschriften notwendigerweise einen ungeheuren Umfangbatten, so daß z. B. ein Heftchen von Reclams Universal-Bibliothek in der heute am meisten verbreiteten Blindenschriftvon Braille die Größe eines Lexikonbandes umfassen würde. DerKlangschristendruck von Dr. Herz besitzt, wie der Erfinder selbst inder.Umschau" darlegt, den grundlegenden Vorteil, daß er den Um-fang des Druckmaterials sogar noch in ganz außerordentlicher Weisezu verringern vermag. Die technische Seite dcS Klangschristendruckesergibt sich in der Hauptsache aus einer Verschmelzung des Gramms-phons und der Morsetelegraphie. Die Lautzeichen werden in fastmikroskopischer Kleinheit auf eine rotierende Wachsscheibe geschrieben.Mit Hilfe eines auf galvanischem Wege angefertigten Negativs dieserScheibe können durch eine Presse Abzüge in beliebiger Zahl auf ent-sprechend präpariertem Papier hergestellt werden. Da diese Zeichenzu klein sind, um noch durch den tastenden Finger wahrgenommenwerden zu können, findet ihre Reproduktion mit Hilfe des Gramms-phons statt, und zwar wird hierzu ein Hilfsapparat kleinsten For-mats und höchst einfacher Konstruktion verwendet. In diesem Apparatüberträgt ein spitzer Stift die in das Papier eingeprägten Uneben-heilen auf eine schwingende Membrane, von welcher die Zeichen nichtnur abgelastet, sondern vor allem abgehört werden können. Die vondieser Membrane gegebenen Lautzeichen äußern sich in einemlangen oder kurzen, hohen oder tiefen Schwirren, in einer Folge vonLauten, welche den Morsezeichen ähnlich sind und den Silbenoder Worten entsprechend in deutlich erkennbaren Gruppen vereinigtwerden. Je geringer die Umdrehungsgeschwindigkeit des Papiers ist,bei der die Laute noch abgetastet oder besser abgehorcht werdenkönnen, desto mehr kann man auch den Umfang der Schrift ver«ringern. Bei dem gegenwärtig von Dr. Herz gebrauchten Modellist die Lautschrift noch deutlich, wenn eine einzige Umdrehung 89 Se-künden dauert, und dies genügt, um den Inhalt eines gewöhnlichenganzen Druckbogens bereits auf einem Ouartblatt unterzubringen.Wie groß die Ersparnis des UmfangeS sein kann, geht daraus hervor,daß die erste geplante.Klangschristenzeitung" die Größe einer ge-wöhnlichen Postkarte nicht überschreiten soll. Wenn es tatsächlichgelingt, die Umdrehungsgeschwindigkeit noch mehr zu verringern,ohne daß die Genauigkeit der Lautempfindung gestört wird, werdenBibliotheken, die Tausende von Bänden umfassen, in einem gewöhn-lichen Bücherkasten untergebracht werden können, wobei noch alseines der wichtigsten Momente zu betonen ist, daß der Preis derKlangschriftendrucke denjenigen der gewöhnlichen Druckerzeugnissegleicher Flächenausdehnung nicht übersteigen wird.Haben Sie Vögel Farbensinn!Das viel erörterte und gerade in jüngster Zeit viel bekämpfteProblem, inwieweit Tiere imstande sind, Farben zu erkennen,wurde durch sehr interessante Versuche von E. Hahn um einenguten Schritt vorwärts geführt. Wenn es auch bereits erwiesenwar, daß höhere Säugetiere, wie z. B. Affen, die Farbe ebensosehen wie der Mensch, so war man doch namentlich über den Farben-sinn der Vögel noch sehr im Zweifel. So wurde bisher vonHühnern Blaublindheit angenommen; nunmehr hat es sich jedochgezeigt, daß die Hühner die blaue Farbe deutlich erkennen undvon allen anderen, auch von blauähnlichen, blaugrauen Farben-tönen, recht gut zu unterscheiden verstehen. Die Versuche wurdenzum Teil in der Weise angestellt, daß in vollständig dunklem Raumnur das Futter— Reiskörner—, und zwar durch die von obeneinfallenden Strahlen des Spektrums beleuchtet wurde, zum ande-ren Teil, daß künstlich gefärbte Körner verfüttert wurden. BeideVersuchsarten ergaben, daß die Hühner und damit also wohl alleTagvögel sämtliche Farben des Spektrums wahrnehmen und voneinander unterscheiden können.Dieses Farbenerkennungsvermögen beruht aller Wahrschein-lichkcit nach auf einer sehr interessanten Differenzierung im Baudes Vogelauges. In den Sehzapfen der Netzhaut des Vogelaugessind nämlich verschiedene farbige Oelkugeln eingelagert, die inFarbe und Verteilung bei den einzelnen Vogelarten wechseln, beiverwandten Arten aber übereinstimmen. Während Raubvögelz. B. nur drei Arten von Oelkugeln aufweisen, besitzen die Hühner-vögel deren fünf, und zwar rote, orangefarbene, gelbgrüne, grüneund farblose Oelkugeln. Und mit Hilfe dieser Oelkugeln, die jenach chrer Farbe immer nur ganz bestimmte� Farbstrahlen desSpektrums aufnehmen und durchlassen, fo beispielsweise die rotenKugeln nur die roten Strahlen— ausgenommen sind nur diefarblosen Kugeln, die alle farbigen Strahlen durchlassen— gehtjedenfalls das Farbensehen der Vögel vor sich. D?e große Rolle,die jenen Oelkugeln im Vogelauge zugeteilt ist, kann man auchdaran erkennen, daß sich schon im Embryoauge am 19. Prüfungö-tag einige Oelkugeln erkennen lassen. Ein weiterer Beweis fürdie Wichtigkeit der Oelkugeln beim Farbensehen der Vögel lie�idarin, daß die Zahl der farblosen Kugeln, also derjenigen, die alleFarben durchlassen, beim Tagvogelauge am größten ist, vermutlichdeshalb, weil der am Tage sliegende Vogel ungleich mehr Farbenzu erkennen und zu unterscheiden hat, als der Nachtvogel.Notize«.— Emil Pohls„Jongleur" hat seinen ersten Akt nichtfür die Posse„Jung mutz man sein" herleihen müssen, wie hieram Sonntag zu lesen war. Vielmehr haben die Bearbeiter desebenso berühmten Kunstwerkes.Wenn zwei Hochzeit machen" dieseAnleihe aufgenommen.— D i e Große Berliner Kunstausstellung ver-anstaltet an jedem Montag und Donnerstag, vormittags 11 Uhr,unentgeltliche Führungen, und zwar durch ausstellende Künst-ler selbst. Die erste Führung findet unter Leitung des MalersKayser-Eichberg am Donnerstag, den 19. August, statt, die zweiteam Montag, den 14. August, hat Max Schlichting übernommen.— Wann wird der Krieg aus sein? Diese wohl schontausendmal ohne Resultat erörterte Frage beantwortet die humoristischeSchützengrabenzeitung.Bochofage" wie folgt:„Der Krieg wirdaufhören, sowie die Feindseligkeiten eingestellt werden. Dieses Er-eignis wiederum wird sich durch das Aufhören der Kämpfe an allenFronten kundtun. 48 Stunden vor deni Kriegsende werden wirnoch keinen Frieden haben, aber dann wird es ganz bestimmt nurnoch zwei Tage dauern. Das Ende des Krieges wird sich eine be-stimmte Anzahl von Jahren vor dein Tode eines Politikers ein-stellen, dessen Name mit einem Buchstaben anfängt, der ohneSchwierigkeiten im Alphabet gefunden werden kann."(z)— Ein Petroleum-Kanal. Um die teuren Bahnfracht-kosten für den Petroleumtransport zu erniedrigen, hat jetzt einekalifornische Petroleum-Gesellschaft eine Röhrenleitung nach demHafen von Los Angeles angelegt, die 242 Kilometer lang ist undaußerdem eine 87 Kilometer lange Abzweigung besitzt. 18 Pump-werke sind längs dieser Leitung aufgestellt, Höhen von 1159 und1399 Metern waren zu überwinden. Der.Kanal" liefert an seinemEndpunkte stündlich 159 Kubikmeter Petroleum.Zur tot erklärt.Von Ernst Wicher t.29j„Sprich nicht so, Annika," bat er gerührt und legte seinenArm um sie.„Ich sage Dir ja, wenn Du mich noch liebst, soist alles gut. Ich will Dir keinen Vorwurf machen, daß Duschwach gewesen bist— wir sind alle nur schwache Menschenund sehen nicht weiter, als unsere Augen reichen. Es ist nochnichts geschehen, was uns durchaus trennen muß; Du bist nochrein und kannst zu mir zurückkehren. Komm, Annika, kommmit mir. Unser Boot liegt am Flusse; in zehn Minuten ist'ssegelfertig— wir tragen unseren Knaben hinein und fahrenhinüber nach der Nehrung. Das Fischerhaus gehört unsnoch, und ich bringe so viel Geld mit, daß wir das Gerät leichtwieder in den Stand setzen können. Wir wohnen dort, wievorhin— wir trennen uns nicht mehr, Annika. Laß alle Be-denken, sei, was Du doch bist, mein liebes, schönes Weib—komm, Annika!"Ihre Brust wogte stürmisch, ihr Atem flog, sie zitterteam ganzen Leibe. Aber im nächsten Moment schon machte siesich mit einer raschen Bewegung von ihm los.„Ich habegestern einen Eid geleistet," sagte sie,„und den hat Gott ge-hört. Der Eid ist zwischen uns. Laß mich zum Pfarrerl"Sie eilte fort. Peter Klars stand eine Weile wie einge-wurzelt.„Also doch— also doch—" bebten seine Lippen.Er warf sich ins Gras, stützte den Kopf auf und grübelte vorsich hin. Es war immer derselbe kurze Kreislauf der Ge-danken, nur hastiger und immer hastiger und deshalb um soschneller vollendet. Ganz unfähig, die Sache von irgendeineranderen Seite anzuschauen, suchte er nach gar keiner anderenmöglichen Lösung. Wenn Annika ihm nicht folgte, so war'sdoch richtig mit ihr und Konrad. Dann stand aber auch fest,daß sie ihre Untreue und Hinterlist nicht genießen sollten—es gab noch Mittel, sie für ewig zu trennen.Wenn er in der Seele des unglücklichen Weibes hättelesen können! Welche schreckliche Nacht lag hinter ihr, undmit welchem Grauen hatte sie die Morgensonne ins Fensterscheinen sehenh Me eine Verbrecherin, deren Schuld plötzlichoffenkundig wird, kam sie sich vor, denn sie hatte nie aufge-hört, im Innersten daran zu zweifeln, daß sie recht tue, undnur die abmahnende Stimme durch die freundlichen ZuredenKonrads und der Nachbarn betäuben lassen. Nicht einmal imRausch der Leidenschaft hatte sie gesündigt— sie liebte Konradnicht. Nur weil er sie liebte, weil er für sie sein Leben inGefahr gebracht, weil er ihrem Kinde eine sorgenlose Zukunfteröffnete, weil er ihr als ein achtenswerter Mann erschien,hatte sie sich allmählich in'den Gedanken hineingcwöhnt, seineFrau sein zu können, ohne tiefere Neigung. Ja, gerade inder Vergeblichkeit der Bemühung, eine solche ttefere Neigungzu gewinnen, hatte sie eine Art von Entschuldigung und des-halb auch Beruhigung gefunden. Sie gab Konrad nichts,meinte sie, was sie dem geliebten Toten entziehen müßte oderwas derselbe auch nur mit ihm teilen sollte. Sie glaubte ihmauch so eine pflichttreue Gattin sein zu können, aber ihrerJugendliebe nicht untreu werden zu dürfen. Ihre Erfahrungreichte weit genug, um sie zu überzeugen, daß gerade in ihremStande die meisten Ehen lediglich aus äußeren Rücksichtenabgeschlossen wurden; so hatte sie noch immer vor vielen dasGlück voraus, das schöne Andenken an ein innigeres, befriedigenderes Verhältnis bewahren zu können.Jetzt freilich war allen diesen Klügeleien der Boden ent-zogen. Die Grenze zwischen der Neigung und der Pflicht, dievorhin der Tod so sicher abgesteckt zu haben schien, war Plötz-lich wieder verwischt worden und sie stand ratlos da, wenn siean einen Ausgleich dachte. Auf welche Seite konnte sie sichstellen, ohne sich noch schwerer zu versündigen?Der Vorfall von gestern abend war auch im Pfarrhausebekannt geworden. Der Pfarrer, ein würdiger, in seinenreligiösen Ansichten orthodoxer alter Herr, hatte Annika er-wartet. Er nahm sie in seine kleine stille Studierswbe, setztesich auf den Lehnstuhl am Schreibtisch, über dem in schwarzemRahmen ein schöner Christuskopf hing, ließ die Frau gegen-über demselben Platz nehmen und forderte sie auf, mit mög-lichster Ruhe den Fall vorzutragen.„Vor den Menschen ist Dein Tun gerechtfertigt, meinKind," sagte er, nachdem sie unter reichlichen Tränenergüssenihre Beichte geendet hatte.„Das Gesetz gestattet unter ge-wissen Umständen die Todeserklärung eines Menschen, unddiese Umstände müssen hier wohl vorgelegen haben, da sonstder Richter seinen Spruch zurückgehalten hätte. Eine solcheTodeserklärung hat aber die Wirkung, als ob der Tod wirk-lich eingetreten wäre, und Du bist deshalb auch wohlberechttgtgewesen, Dich als Witwe zu betrachten. Ob es einer chrift-lichen Frau würdig ist, von diesem Mittel Gebrauch zumachen, um die zweite Ehe eingehen zu können, das will ichununtersucht lassen. Du klagst Dich ja selbst einer schwerenSünde vor Gott an und siehst in dem Unglück, das Dich nunbetroffen hat, seine strafende Hand. Nimm nun auch dieBuße durch strengste Pflichterfüllung auf Dich."Annika küßte seine Hand.„Was ist meine Pflicht, hoch-würdigster Herr?" fragte sie schüchtern.„Ich weiß nicht genau, welche Folgen die bürgerlichenGesetze der Rückkehr eines Fürtotcrklärten geben," fuhr ergemessen fort.„Ohne Zweifel wird derselbe in alle seinefrüheren Rechte nach Möglichkeit wieder hergestellt—"„So wäre ich noch seine Frau?" unterbrach sie ihn infreudiger Erregung und bedeckte mit heißen Küssen seineHand.Er entzog ihr dieselbe und gab ihr einen Wink, sichwieder zu setzen.„Ich sage, nach Möglichkeit!" erwiderte ernach einer Pause streng:„das heißt, soweit eine Herstellungerfolgen kann, ohne daß diejenigen geschädigt werden, ivelcheim Vertrauen auf die Gültigkeit der Todeserklärung Rechteerlangt haben. Würdest Du ledig geblieben sein, so wäre keinZweifel, daß die frühere Ehe fortbestände, ohne daß es einesneuen kirchlichen Akts zur Wiedervereinigung bedürfte; aberdieser Fall liegt hier nicht vor, mein Kind. Du hast überDeine Person zum zweiten Male unter Mitwirkung derKirche verfügt und dadurch die Rückkehr zum früheren Ver-hältnis unmöglich gemacht; Deine zweite Ehe hat die ersteaufgehoben."„Ich wußte es ja—" hauchte sie leise und zitternd hin:„es ist vorbei mit uns, armer Peter Klars.— Und es mußvorbei sein," fuhr sie kräftiger fort;„ich bin Deiner nichtmehr würdig."„Du fühlst, daß Du ihn noch liebst?" fragte der Geist-liche.Sie nickte zustimmend, ohne zu ihm aufzusehen.„Ichhabe nie aufgehört, ihn zu lieben," bestätigte sie.mit allerInnigkeit.„Und doch hast Du einesii anderen Deine Hand gereicht?"-Sie versuchte eine Erklärung.„Dann ist Dein Unrecht größer, als ich glaubte," sagteer kopffchüttelnd.„Du hast einen braven Mann hinter-gangen, der volle Aufrichtigkeit verdiente—"„Ich hab's ihm ja gesagt," klagte sie,„aber er wollte nichtauf mich höxtzn,".(Forts, folgt.)