Nr. 185.- 1916. Unterhaltungsblatt öes vorwärts Mittuioch, 9. August. Nur ein Granatsplitter. Von Emil Unger. Sie hatte möch zu einem Plauderstündchen eingeladen, die kleine, zarte Sprachlehrerin mit den feinaeschnittenen, durchgeistigten Zügen und dem leicht angegrauten, einstmals kastanienbraunen Haar. Außer mir war rroch eine Schriftstellerin da, eine reife, knochige Dame, die .tiefempfundene" N>mane schreibt, und ein junges, schüchternes Fräulein, die Nichte Zer Gastgeberin, Wir saßen auf>,\em grünumrankten, blumenleuchtenden Balkon der Gartenhau-Zwohnustg. Ter Tag verdämmerte, und über die leeren Bauflächen hintrVg trug uns eine leichte Brise die frische, würzige Luft aus dem Grunewald wellenweise zu. Eine heilige Ruhe herrschte ringsum, Äm Horizont leuchtete ein rosiger Schein, und im hohen Wipfel einer einsamen Pappel flötete eine Amsel, tief und voll, wie in Andawt versunken.— Die weihevolle Stimmung legte sich wie ein stummer Bcs'shl auf unsere Lippen. Wir schwiegen alle und schauten hinaus, in den Frieden des Abends, von einer unsichtbaren Macht bezwungen. So saßen wir und hielten Zwiesprache mit unserem eigenen Ich, bis ein profanes, hastiges Klingelzeichen die Stille wie mit einem Messer durchschnitt. Die Hausfrau stand auf und öffnete die Korridortür und kam zurück mit einer Depesche. Sie öffnete das Schriftstück mit ihren weißen, schlanken Fingern, und die zitterten merklich. Als sie den Inhalt gelesen hatte, sagte sie, zu der Nichte gewendet, mit vibrierender Stimme: „Else, Hans ist verwundet, er liegt in Düsseldorf. � Das Mädchen sah erschreckt auf, ihre blauen Augen füllten sich zusehends mit Tränen. Die Haus'frau empfand unsere fragenden Blicke und fügte erklärend chinzu: „Es ist mein Neffe, delg Bruder von Else." Das Mädchen begann heiß aufzuschluchzen. Nach einer Weile sagte sie: „Tante, geht heute noch ein Zug dahin?" „Kind, Du kannst doch heute nicht mehr fahren, wer weiß, ob überhaupt jetzt schon jemand zu ihm darf," beschwichtigte die Tante und fuhr mit der Hand leise über den blonden Scheitel des Mädchens.„Onkel Fritz ist ja da und morgen wiffen wir dann schon näheres." Nun begann sie selbst zu weinen, man sah ihr an, wie sie der« gebens die Tränen zu meistern suchte. „So ein guter Junge, und erst 2» Jahre alt."— Sie konnte nicht mehr weiter sprechen. „Aber Kinder, regt Euch doch nicht jetzt schon aus," mischte sich die Schrislstellerin ein,„Ihr wißt ja noch gor nichts Genaues, wartet doch erst ab.— Und dann spricht ja das Telegramm nur von einem Granatsplitter, das kann doch nicht so schlimm sein." „Nicht schlimm sein, nur ein Granatsplitter", wiederholte unsere Gastgeberin mit eigentümlicher Betonung und trocknete sich die Augen. Dann stand sie aus und grvg ins Zimmer. Als sie zurück- kam, hatte sie in ihrer weißen, zarieft. Hand einen schweren Gegen- stand, den sie aus den Tuch fallen ließ, ßt schlug harr auf. Es war ein Stück Gußeisen, so groß wie ein Aschbecher, und war an den Kamen rissig und geborsten. Stellenweise war es scharf und glatt wie ein Messer, dann folgten wieder Zähne, als sei es aus dem Rachen eines Raubtiers gesprengt und zwischendurch ragten Spitzen und Stacheln auf, daß einem das Gruseln überkommen konnte. „Es ist nur ein Granatsplitter", sagte unsere Hausfrau mit trockener Stimme,„mein Neffe hat ihn selbst mitgebracht, als er hier auf Urlaub war." Das Stück Eisen ging jetzt von Hand zu Hand. Auch der Blau- strumpf hob es wiegend und prüfend auf, doch ohne etwas zu sagen, überhaupt schien keiner mehr reden zu wollen. Es war ganz dunkel geworden. Vom Bahndamm her stachen die Lichter durch die Nachr. Ein Zug donnerte in die Ferne. Der Heizer wühlte im Kesselfeuer, daß Funkengarben aufstoben und sich in lodernde Strahlenbündel auslösten, lieber uns begann ein Phonograph„Ave Maria' zu spielen. Das Schweigen lastete sichtlich auf allen. Wir sahen wie festgebannt aus das schwarze, zackige Eisen, das sich selten scharf und brutal von der weißen Tischdecke abhob. Es drückte wie mir Zentnerlast auf unsere Gemüter. Wir hatten zu Ansang des Abends über Nietzsche diskutiert. Die Schriftstellerin vergötterte ihn, unsere Gastgeberin hatte ge« schllderl, wie sie mit dem Dichterphilosophen gerungen habe und nicht fertig geworden sei mit ihm, während ich seine Weltanschauung enl» schieden ablehnte, aber der Schönheit seiner Sprache und dem kühnen Flug seines Geistes Bewunderung zollte. Nun hätte keiner mehr über Nietzsche sprechen mögen. Das mißgestaltete Geschoßstück be« herrschte die Runde und ließ keinen anderen Gedanken mehr auf- kommen. Ich kannte den armen Hans nicht, aber ich dachte an ihn,— von dem Eiien huschten meine Gedanken dorthin, wo er lag.— an das weiße Bett, aus dem ein junges, noch mädchenhaft weiches Ge- ficht auftauchte, den Kops mit Binden umwickelt, unter denen dickes, l blondes Haar eigensinnig hervorquoll. Und es war ja nur ein �Granatsplitter, der ihn getroffen hatte. So lag er— und tausend andere lagen auch so— da— dort— überall! Und plötzlich fröstelte uns alle. Es war gewiß nur Einbildung — der Abend war lau und von Wärme gesättigt. Uns aber war der Frost in die Glieder geschlagen. Wir standen auf. Die Haus- frau nahm das Eisen mit spitzen Fingern— wie etwas Grausiges — und trug es in die Stube. Tie Schriftstellerin nahm Abschied, und ich auch. Der Nachiwind koste wohlig um meine Schläfen, und ich hörte immer wieder eine Stimme, die da sagte:„Es ist ja nur ein Granatsplitter!" kleines Feuilleton. Der Vater üer IZugtechnik. Die auch die kühnsten Hoffnungen weit überragende Enkwick- lung, tvclche die Flugzeugtcchnik seit ihrem verhältnismäßig kurzen Bestehen durchmachte, und die im Kriege abgelegten Zeugnisse der außerordentlichen Verwendungsfähigkeit unserer Flugmaschinen lassen heute die Arbeiten, die der deutsche Pionier der Flugzeug- kunst Otto Lilienthal mit Einsatz seines Wissens und selbst seines Lebens unternahm, in doppelt hellem Licht erscheinen. Otto Lilienthal , der am 23. Mai 1848 in Anklam geboren wurde, war nicht nur der erste praktische Flugtechniker, sondern überhaupt ein geniales Erfindertalcnt aus den verschiedensten Ge- bieten. Wie einem von dem Bruder des Erfinders, Gustav Lilien- tbal, entworfenen Charakterbild zu entnehmen ist, zeigte Lilicnthal schon als kleiner Junge eine außerordentliche Handgeschicklichkeit und großes Zcichentalent. Das letztere betätigte er bereits mit vier Jahren, und als Vierzehnjähriger modellierte er sein Porträt vor dem Spiegel so gut, daß die Familie eine Zeitlang den Plan erwog, ihn Bildhauer werden zu lassen, welche Absicht jedoch aus peku- niären Gründen wieder fallengelassen werden mußte. So folgte er seiner hohen technischen Begabung und studierte auf der Gewerbe- akademie, deren Direktor Reuleaux ihm den Vorschlag machte, bei ihm als Assistenz einzutreten. Doch Lilienthal liebte zu sehr den freien Wettkamps im praktischen Leben, denn er war in ebenso großem Maße Künstler wie Techniker, und er nahm sich vor. die in seiner Phantasie bereits gestalteten technischen Probleme aus eigene Faust zu lösen. Seine Begabung von fast beispielloser Vielseitig- iteit ließ ihn zum Schöpfer der verschiedenartigsten Neuerungen werden. Nach mehrjähriger Tätigkeit in zwei Maschinenfabriken gründete er im Anfang der achtziger Jahre eine eigene Werkstatt, die er bald zu einer großen Fabrik erweiterte. Sein Verhältnis zu den ihm unterstellten Arbeitern zeigte ihn auch als äußerst sozial denkenden Menschen. „Technische Unmöglichkeiten gibt es nicht", war sein Wabl- spruch, und schon in früher Jugend zeigte er eine außerordentliche Spannkraft der Nerven, worüber sein Bruder in einer kleinen Episode berichtet:„Als wir einst mit anderen Jungen in unseren im ersten Stock des Elternhauses in Anklam gelegenen Zimmern uns eigenhändig Schietzpulver bereiteten, dessen Wirkung wir durch Schietzen mit einer kleinen Messingkanone in die gegenüberliegende Tür des Nachbars erprobten, erwog unser würdiger Verein die Art und Weise, wie man sich bei plötzlich ausbrechendem Feuer retten könnte. Als wir anderen noch über den besten Weg über die Dächer uns stritten, sagte Otto kein Wort, sondern schwang sich auf die Brüstung des offenen Fensters und sprang von dort auf den gepflasterten Hos, gerade vor den Augen unserer zu Tode er- schreckten Mutter. Diesen Zug der Tollkühnheit hat er behalten zu seinem Schaden und der Welt Nutzen, denn die Gleitflüge, welche ihm das Leben kosteten, waren sehr gefährlich, aber auch sehr lehr- reich." Zahlreiche der Lilienthalschen Erfindungen sind außerordent- lich volkstümlich geworden, wie z. B. der heute über die ganze Welt verbreitete Anker-Steinbaukasten. In seinen Flugzeugunterneh- mungen, die er nach mehrjährigen theoretischen Arbeiten im Jahre 1883 praktisch begann, war Lilienthal in seiner Liebenswürdigkeit und Mitteilsamkeit stets bereit,„Witzbegierigen und oft leider nur Neugierigen seine Ideen und Experimente vorzuführen. Fast zu sehr! Als er mit großen Kosten nahe Lichterfelde für die Flugver- suche eine 15 Meter hohe Anhöhe hatte aufschütten lassen und von der Spitze des Hügels die bekannten Gleitflüge ausführte, da wurde dieser Platz ein Wallfahrtsort für die schaulustigen Berliner, die sich am Fuße des Hügels lagerten, ihre Witze rissen und als Dank für die prächtige Schaustellung ihr bekanntes„Stullenpapier" zu- rücklietzen. Jetzt ist der Berg von der nahen Lichterfelder Brauerei mit Anlagen geschmückt, und eine Tafel zeigt die Bedeutung des Platzes an". Die fast leichtsinnig zu nennende Furchtlosigkeit, mit der Lilienthal seine Gleitflugversuche in immer umfangreicherer Weise fortsetzte, führte zu dem bekannten Absturz bei Rhinow , der am 9. August 1896 dem Leben dieses Pioniers der Flicgekunst eiu allzu frühes Ende bereitete.___ Wie schlafen die Vögel! Die Vögel schlafen sitzend, so wird ein jeder aus diese Frage antworten, denn daS ist eine so allgemein bekannte Tatsache, daß sie uns gar nicht auffällig vorkommt. Wir fragen uns daher meist auch nicht weiter nach dem eigentlichen Grunde dieser an sich doch recht merkwürdigen und interessanten Erscheinung. Während des Schlafens nehmen die Vögel eine geduckte Stellung an, bei der durch die Last des Körpers der Unterschenkel aus den Laus gedrückt wird. Dadurch werden die Sehnen der einzelnen Zehen fest an- gezogen und umspannen so unwtllkürlich den Zweig wie eine Klammer. Durch diesen einfachen mechanischen Lorgang wird der Vogel ohne eigene Anstrengung durch die Last seines eigenen Körpers auf dem Zweige festgehalten. Die Spechte schlafen sogar in hängender Stellung, die scharfen Klauen tief in die Baum- rinde eingeschlagen. Die zarten kleinen Sirandläufer kann man oft am Meeresstrande truppweise auf einem Bein zusammenstehend und den Kopf unier den Flügel gesteckt im tiefsten Schlafe antreffen, un- bekümmert um das Sausen des Windes, der ihr Gefieder ausein- anderbläst, und um das Rauschen der MeereSwogen, die donnernd ums Ufer branden. Schwinimvögel schlafen häufig aus dem Wasser, den Kopf unter dem Flügel verborgen, und lassen sich ohne Ruderschlag gemächlich von der Strömung fort- treiben. Der Schlaf der Vögel ist sehr verschieden: manche haben einen sehr festen, andere dagegen nur einen äußerst Isichren Schlaf . Schlafende Messen kann nian mit der Hand ergreifen, sie wachen erst dann ans und blinzeln noch sekundenlang schlaftrunken mit ihren kleinen Aeuglein. ohne gleich die Gefahr zu erkennen, in der sie schweben. Die Eulen, die sich überhaupt durch ein ungemein scharfes Gehör vor anderen Vögeln auszeichnen, hören auch im tiefsten Schlafe jede Annäherung. Gewöhnlich erwachen die Vögel schon vor Sonnenaufgang und begeben sich bereits gegen Abend, wenn sich die Sonne dem Untergang entgegenneigt, zur Ruhe. Ein rechter Langschläfer unter der Vogelwell ist dagegen der färben- duftige Alpenmauerläufer. Erst wenn die Sonne schon hoch am Himmel steht, verläßt er seinen nächtlichen Schlupfwinkel, eine Ge- steinsplalte in einer Felsenwand, um hüpfend, mit halb gelüfteten Flügeln an den steilen Wänden entlang zu klettern und sie mit seinem langen Schnabel nach Spinnen und anderen Kerbtieren abzusuchen. Zur Zeil der Paarung läßt die Liebe die Vögel oftmals den Schlaf ganz vergessen und wir können sie fast die ganze Nacht hindurch hören, wie sie leise, gleichsam im Traume zwitjchernd, das geliebte Weibchen herbeizulocken suchen. Notize«. — E i n neuer Dürer im Kupfer st ichkabinett. Durch Geschenk kam in den Besitz der Berliner Museen eine Zeich- rning, auf der Dürer den AugÄmrgcr Großkausmann und Bankier Fugger dargestellt hat. — Das Sammeln von Tee- und Arzneipflanzen sollte so betrieben werden, daß nur die Triebe und Blätter genommen werden, die Blütenstände aber unverletzt bleiben. Es geschieht am besten bei sonnigem Wetter, damit die Blätter möglichst noch gleich am selben Tage in dünnen Schichten getrocknet werden können. Längeres Tragen im Rucksack schädigt. Zur Vermeidung der Aus- rottung empfiehlt die„Deutsche landwirtschaftliche Wochenschrift" vor allem Baldrian, Bittcrklee, KalmuS, Seifenkraut, Tausendgüldenkraut zu schonen, während Hagebutre, Heidelbeere, Huflattich, Johanniskraut, Kamille, Kümmel, Lindenblüte, Spitzwegerich. Wermut und Wachholderbeere wegen ihrer Ausbreitung ohne Einschränkung gesammelt werden können. — Die vom Zensor genehmigte Schöpfungs» ge schichte. Die Films, die in den englischen Lichtspieltheatern zur Vorführung gelangen, müssen, sofern sie Kriegsdarstellungen vorführen, den Vermerk:„Mit Bewilligung der Zensur" auf der Leinwand wiedergeben. In Birmingham wurde nun vor kurzem zum ersten Male ein Film vorgeführt, in dem fixe und wage- mutige Regisseure nichts weniger als die Schöpfungsgeschichte ans die Leinwand gebannt hatten. Zunächst erblickte man auf der Leinwand das Wort„Es werde Licht", worauf man aus den Nebeln die Sonne sich bilden sah. So gelangte man auf ebenso langem wie interessantem Wege allmählich bis zur Erschaffung des Menschen. Aber die Vorführungen überraschten die Zuschauer nicht so sehr, wie die gleich nach dem Wort„Es werde Licht" er- schienene und während der ganzen Zeit auf der Leinwand ver- bliebene Titelaufschrift„Wie Gott die Welt schuf mit Bewilligung der Zensur". Zur tot erklärt. 30j Bon Ernst Sichert. „Du bist einen Bund eingegangen, der nur geheiligt ist, wenn ihn die Herzen schließen. Entheilige ihn nun wenig- stens nicht noch mehr, indem Du jener früheren Neigung Raum läßt, die ihm gegenüber sträflich ist. Niemand kann zweien Herren dienen: dem einen aber, dem wir angehören, j ollen wir mit ganzer Seele angehören." „Ich will mich zwingen, an ihn nicht mehr zu denken," versprach sie und fügte leiser hinzu:„außer daß er doch der Vater meines Kindes ist— das darf ich doch nicht vergessen, hochwürdigster Herr? Aber ich will mir einreden, daß er wirk- lich tot sei, und daß wir uns erst drüben im Himmel wieder- finden können— denn da wird's ja wohl erlaubt sein. Aber nicht wahr, Herr Pfarrer, auch dieser Bund ist nun aufge- hoben, da es ja feststeht, daß ich nicht Witwe war? Sprechen Sie ein Wort des Trostes in meiner Seelenangst I Man zwingt mich doch nicht, Hilgrubers Frau zu sein?" Sie war auf die Knie gesunken und hatte bei diesen letzten Worten die gefalteten Hände zum Geistlichen, und dann, als sie in seinem halb verwunderten, halb streng ver- weisenden Blick keine Hoffnung las, zu dem mild lächelnden Christuskopf über ihm aufgehoben. Der Pfarrer legte die rechte Hand auf ihre Schulter, wies mit der linken zurück nach der Wand und sprach salbungsvoll:„In dessen Namen ist Deine neue Ehe gestern eingesegnet; sorge, daß sie vor ihm bestehen kann." In ihrem Auge malte sich der volle Ausdruck des Schreckens, der sie erfaßt hatte. Alle Spannung schien aus ihren Muskeln, alles Blut aus ihren Adern gewichen; sie fiel mit dem Kopfe aus den Stuhl zurück, von dem sie herab- geglitten war, und lag so regungslos, bis der Geistliche sie aufrichtete. Tz!n alten Herrn verließ seine bisherige Ruhe. Er sagte einige Sprüche her. die paßten oder auch nicht paßten, und redete ihr zu, gelassener im Schmerz zu sein und vernünffig zu überlegen, was sein und nicht sein könne. „Was hast Du Dir denn eigentlich für Gedanken gemacht, mein Kind, als Du zu mir kamst?" schloß er.„Wie kann ich aufheben, was ich vor Gott vereinigt habe? Nur eine gerichlliche Scheidung könnte Dich wieder frei machen." „Und wird das Gericht uns scheiden?" fragte sie mit angstbeklommener Stimme.„Ich kann ja nicht die Seine bleiben— lieber sterben I" „Versündige Dich nicht, mein Kind," rief er, durch diese letzte Aeußerung ihrer verzweifelten Stimmung wieder auf sicheres Gebiet gebracht.„Niemand soll allerdings am Leben übermäßig hängen, denn es ist nur die Vorbereitung zum Jenseits, aber niemand soll auch nach dem Tode verlangen, da nur Gott weiß, wie lange seine Prüfungszeit dauern soll. Wachet und betet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet! Seid stark in eurer Pflicht, auch wenn sie euch schwer wird! Und wem könnte jetzt Deine Pflicht gehören, als dem Manne, den Du Dir selbst gewählt hast?" Ob Annika ihn hörte, war ungewiß; sie hatte die Augen geschlossen und, neben dem Stuhl kniend, das Gesicht auf die Arme gelegt. Nach einer Weile erhob sie sich und stützte sich auf die Lehne.„Und es gibt kein Mittel, uns zu scheiden?" fragte sie fast rauh. Der Geistliche, der seinen geistlichen Zuspruch als ver- schwendet ansah, hob unwillig den Kopf, rieb die Nase mit dem rotseidenen Taschentuch, rückte sein Samtkäppchen zurecht und ging ein paarmal in der Stube auf und ab. Er mochte doch überlegen, ob es zum Segen gereichen könne, für die Befestigung einer solchen Ehe zu sorgen; andererseits fühlte er sich augenblicklich zu sehr in seinem geistlichen Amte, um eine rein menschliche Rücksichtnahme bei sich aufkommen zu lassen. So blieb er denn, nachdem er in Gedanken seine Antwort gehörig formuliert hatte, vor Annika stehen und sagte fest und bestimmt:„Es gibt kein Mittel, wenigstens keins, das mit Sitte und Religion bestehen kann, und das ich daher auch nur nennen darf. Geh zu Deinem Manne und halte ihm. was Du versprochen hast." Annika weinte nicht mehr, aber ihr Auge Kar glanzlos und ohne Leben. Sie küßte dem Pfarrer wieder die Hand, nicht in leidenschaftlicher Aufregung, wie vorbin, sondern förmlich und kühl. Dann ging sie leise hinaus, ohne noch ein Wort zu sagen. Sie hatte nicht gefunden, was sie suchte, keinen Trost, keine Beruhigung, keinen guten Rat— nur schreckliche Gewißheit. Sie hatte gehofft, das Ihrige getan zu haben, wenn sie Peter Klars entsagte; nun erfuhr sie aber, daß viel mehr von ihr gefordert werde. Aber zugleich fühlte sie auch in sich die Unmöglichkeit, dieser Forderung zu genügen. Als sie den Kirchensteg entlang ging, dachte sie darüber nach, was das für ein Mittel gegen Sitte und Religion wäre, das zum Ziele führen könnte. Peter Klars lag noch auf der Stelle, auf der sie ihn ver- lassen hatte.„Nun, was meint der Pfaffe?" fragte er barsch. „Daß ich Konrad Hilgrubers Frau bin!" antwortete sie mit trockenem Tone, dem eine Beimischung von Bitterkeit nicht fehlte. Er maß sie mit einem Blick, der sie hätte in Schrecken setzen können, wenn sie überhaupt noch für Furcht empfänalich gewesen wäre.„Und das meinst Du auch?" rief er. Sie ließ sich neben ibm nieder, legte ihre Hand auf die seinige und sagte mild:„Sei ruhig und gut, Peter, und ver- traue mir." „Du liebst ihn," fuhr er wild auf,„sag's nur gerade heraus, Du liebst ihn, und ich bin Dir im Wege! Warum noch die Verstellung? O, daß ich Dir einmal vertraut habe! Es war schon zu viel daran." „Du hast recht!" sagte sie traurig,„es war zu viel Ver- trauen. Aber daß ich ihn liebe, darfst Du nicht glauben, Peter! Der alte Pfarrer meint zwar, es sei noch eine Sünde mehr, aber ich will sie gern auf mich nehmen Ich habe Dir vorhin nicht ordentlich Rede gestanden, weil ich im stillen doch noch hoffte, der gelehrte Mann würde einen Ausweg wissen, wie wir wieder zusammenkämen, und Dir hinterher nicht das Herz noch schwerer machen wollte, wenn ich mich getäuscht hätte. Und ich habe mich getäuscht, denn es ist kein Ausweg — ich habe Dich durch meine Schuld verloren. Laß mich zu Ende sprechen, ich bitte Dich! Es ist vielleicht das letztemal, daß ich so mit Dir reden kann. Denn wir müssen uns trennen, das ist bei mir ganz sicher. Laß Dir's nicht schwer werden, von mir zu scheiden, und denke immer daran, wie ich Dich gekränkt habe, damit Dir's leichter wird. Tann, wenn Tu wieder in der Fremde bist, wirst Du mich vergessen." „Oho!" rief er zornig,„Du willst mich fortschicken, da- mit Du hier ungestört die Frucht vom verbotenen Baum pflücken kannst! Daß ich ein Narr wäre! Wenn ich Dich nicht haben kann— und ich sehe wohl, wie Du mit mir stehst — er soll Dich nicht besitzen!"(Forts, folgt.)
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33 (9.8.1916) 185
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