Nr. 253.- 1916. Unterhaltungsbiatt öes Vorwärts Zonllabeud,4.NoveUlle!. berliner Ausstellungen. besser Ur y— Jacob Ulberts— Franz Marc . Bei Paul Cassirer bekommen wir Bilder von LesserHry zu sehen. Die meisten dieser in Farbigkeit düsteren Szenen wurden während der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderls gemalt; sie bereiten ein schmerzhaftes Vergnügen. Man sieht das Stimmungs- geheimnis irgendeines qualmigen Winkels in einemKaffeehause, die Ein- sanrkeit einer gequälten Seele inmitten des Slrasiengewühls, bell durch- sonnte Dachstuben, in die sich weltfremde Angst' geflüchtet hat. Lesier Ury ist der Maler eines knurrenden Pessimismus. Er hat einmal einen Jeremias gemalt: unter hohem, funkelnd ausqesternlem Himmel die zerwühlte, in sich verkauerte Gestalt eines Hoffnungslosen, aus dem die Nacht lastet, der aber von weither die Stimme Gottes zu hören meint. Von solcher Jeremiade(im ernsten wie im komischen Sinne) findet sich etwas auch in dem kleinsten Bildchen dieses glühend an sich selbst glaubende» Zweiflers. Ist Max Liebermann ein Berliner jüdischer Konsession, so treffen wir in Ury den Juden, der in das Chaos der Großstadt verschlagen wurde, ohne sich hier zurechtfinden zu können. Das angstvolle Verirrtsein, das sehnsüchtig noch Ausschan flattert, ist das, was den Bildern Urys etwas Rührendes gibt. Der Maler glaubt sich von Liebermann vergewaltigt und in den Schalten gedrückt; er irrt: das Wesen seiner mißtrauischen, zerfaserten Natur zwingt ihn, abseits zu bleiben. Er lebt vom Leide; die Erwartung des Wunders ist seine Stärke. Man beachte: während Liebermann seine Bilder kanalisiert, das heißt die Perspektive mit rücksichtsloser Energie quer über die Leinwand treibt und so machtvoll den Raum gestaltet, rückt Ury die dar- gestellten Dinge flächig in den Vordergrund oder versteckt sie im Halbdämmer, öffnet dann ober eine Seite des Bildes zu einem Ausblick, die Sehnsucht hinauszulassen. Etwa:«in Mädchen vor dem Fenster, still, einsam umsponnen; draußen aber, jenseits, singt das Licht, schwingen Sonne und Lust. Ury ist ein Jenseitsmaler: An den Wassern zu Babel saßen.wir und weinten, wenn wir an Zldn dachten... «» » Jacob Alberis, der im Salon der Mathilde Rahl(Pots- damer Straße IMc) seine neuesten Arbeiten zeigt, lebt als ein Heiterer in der Gegenwart. Es ist dies aber nicht die seichte Lebens- tust des Wellstädtischen; es ist dies die überzeugte Gewißheit von dem Gotlgeborgensein der Natur. Ein protestantischer Pantheismus; das Malvergnügen der alten Holländer hat den fleischfestcii Schleswig -Holsteiner geweckt. Er malt die Hallig, die grüne, violett blühende, vom User begrenzte Ebene; die Hallighäuser, träumende Hütten, innen blank wie die Haut windfrischer Mädchen; er malt das Mceer, ein glitzerndes Sichregen aus silbrigen Volants. Alberts ist ein Bürgerlicher mit Eiprit, ein Heimatlicher, der weit durch die Welt reiste(er hat auch in Italien und Griechenland gemalt), ein Einfacher, der Kompliziertes kennt, und vor allem: ein lieber, guter Mensch. Jede« seiner lichten Bilder ist ein Bekenntnis der Dankbarkeit gegen den Reichtum der Erde, auch dort, wo fie einfach und schlicht scheint. >» Dämonisch gibt sich Franz Marc . Die Bilder, die in den Ausstellungsräumen des.Sturm" dem Gefallenen zum Gedächtnis neu aufgehangen worden sind, kennen wir größtenteils schon von einer früheren Veranstaltung her. Wir sind für dies Wiedersehen dankbar. Es ist immer eine Lust, dem Ungebändigten zu begegnen. Marc war ein Urwaldwanderer. Einer, der in die Tiefen der Leidenschast Einblick hatte. Die Sprache vorweltlicher Tiere war ,hm bekannt; die rauschende Symphonie der ersten Schöpfungstage hat an sein Ohr geschlagen. Wir hören das Heulen wild schweifender Wölfe, das Angstpfeifen der Rehe, das Kauen der Rinder. Die Farbcnbrünste des Paradieses wirbeln vor uns: Feuer. Dampf, Sturm, das Zerkrachen blitzgetroffener Baum- riefen. Das Unwahrscheinliche ist uns aus Bühnenabstand nahe ge- kommen. Aengstliche mögen diesen geistigen Indianer abscheulich finden; den Menschen der Witterung ist er ein Wild von fanatischer Rasse. Franz Marc bestätigt, daß ein Schrei mehr sein kann als eine Melodie._ E. Er. Kleines Feuilleton. Der kindliche Sewegungsörang. Welche Mutter und welche berufliche Erzieherin der Kleinen ist darüber noch nicht fast in Verzweiflung geraten, daß es so schwer ist, Kinder zu einer in Stille und Ruhe ausgeübten Betätigung zu bringen I Da hilft manchmal weder Güte noch Streng«, der Be- wegungsdrang beim Kinde— und besonder? beim gesunden und gut entwickelten Kinde— erweist sich mitunter stärker als alle elterliche und erzieherische Autorität. Kaum hat Mutter resp. Fräulein nur den Rücken gewandt, geht der Spektakel, geht das Getobe wieder von neuem los. Es gibt nun Eltern und Erzieher, dke glauben, dies Verhalten der Kinder auf den traditionellen Ungehorsam, ja auf ausgesprochene Renitenz zurückführen zu müsse», und um diese vermuteten Un« rügenden aus ihren Kindern auszutreiben, wenden sie dann oft strenge Strafen an. Sie geben dabei von der überkommenen Meinung aus, daß Kinder Menschen seien mit den gleichen geistigen Fähigkeiten wie wir Erwachsenen, nur von kleinerer Dimension und geringeren körperlichen Kräften. Die moderne Jugendforschung bat nun aber gezeigt, daß da« Kind nichts weniger ist als ein Erwachsener in Miniaturausgabe, sondern sich in körper- licher und geistiger Hinsicht so sehr von Erwachsenen unterscheidet, daß man eigentlich verpflichtet wäre, die Kinder als Menschen ganz anderer Art zu betrachten. Wir dürfen von ihnen deshalb auch nicht das gleiche Verhalten wie von Erwachsenen fordern. So ist zum Beispiel das Kind— und zwar je jünger es ist, desto weniger— einfach gar nicht imstande, seine Bewegungen- und Handlungen so durch den Willen zu regieren, wie dies der Erwachsene vermag und meist von ihm verlangt. Die Nerven- bahnen, die das Zentrum seines Bewegungsapparates, das Rücken- mark, mit bestinimten Zentren der Hirnrinde verbinden und damit die anatomisch-physiologische Unterlage für die Willens« betätigung abgeben, sind nämlich noch gar nicht fertig, reifen erst allmählich aus. Vor allen Dingen fehlen auch noch viele der sogenannten Hemmungseinnchiungen des Zentralnervensystems. Jeder neue Reiz, der die Zentrale des Bewegungsapparates trifft, löst, da er von den höheren Zentren her noch nicht gehemmt werden kann, Bewegungen aus. Das kleine Kind kann deshalb noch gar nicht längere Zeit stillfitzen, es muß sich notgedrungenerweise be- wegen. Es ist deshalb als eine ganz unnatürliche Zumutung zu bezeichnen, wenn man die kleinen Kinder zu stundenlangem Still- sitzen verurteilt. Ja, man kann die Kinder dadurch direkt in ihrer geistigen und körperlichen Entwickelung schwer schädigen; denn wie wir heute wissen, bildet der stark ausgebildete Bewegungs- drang der Kinder die biologisch-physiologische Grundlage für ihr geistiges und körperliches Wachstum. Das gilt natürlich auch noch für die ersten Schuljahre. Die moderne Reformpädagogik fordert ja deshalb auch für den ersten Schulunterricht möglichst Unterricht im Freien verHunden mit reich- lichen Bewegungsspielen, sowie weitestgehende Benutzung deS natürlichen Triebes zu körperlicher Arbeit, bei dem sich der kindliche Bcwegungsdrang auf natürliche Weise entfalten kann. Slut als Nahrungsmittel. Als feit-Anfang des vorigen Jahrhunderts an Stelle der Privat- schlächtereien vielfach kommunale Schlachthäuser errichtet wurden, nahm mit der Zahl der in ihnen vorgenommenen Schlachtungen auch die Menge des dabei abfließenden Schlachtblutes zu. Dieses unnütz abfließende Schlachtblut zog bei der eintretenden allgemeinen Kirappheit und Teuerung der Lebensmittel die Aufmerksamkeit von Staat und Gemeinde auf sich. Freilich befanden sich die Schlacht- betriebe oft in so unsauberem Zustande, daß die Verwendung des Blutes zur Ernährung vielfach bedenklich erschien. Statt zur Her« stellung von Nahrungsmitteln gab man daher das Schlachtblut zum Preise von Vz bis 1 Pfennig den Liter zu technischen Zwecken ab. Als aber infolge des steigenden EinfluffeS der Hygiene auch der Betrieb der Schlachthäuser unter steter Aufsicht von Tierärzten und Medizinalbcamten vielfach hygienisch einwandfrei gestaltet wurde, konnte man auch an die Verwendung des sauber gewonnenen Schlachtblutes zur Herstellung von Nahrungsmitteln für Menschen denken. Denn es darf nicht übersehen werden, daß es. wie durch genaue Versuche festgestellt ist, fast den gleichen Nährwert wie Fleisch hat. Aber ein gewisser Widerwille gegen den Blutgenuß bestand noch lange fort, auch bei den oberen Behörden. So ist z. B. in der Antwort des Staatssekretärs des Innern vom 11. April 1915 an Prof. Kobert, einen eifrigen Vertreter der Verwendung von Blut zur Herstellung von Speisen, noch ein deutlicher Widerwille gegen den Blutgenuß überhaupt zu ersehen. Zum Glück haben sich inzwischen unter dem Druck der heutigen wirtschaftlichen Notlage die Ansichten der Staatsbehörde» über die Blutverwendung zur Ernährung von Menschen gründlich geändert. In einer Mitteilung an die Landesregierungen treten, wie Ober- lierarzt Dr. Junack in Heft 24 der„Zeitschrift für Fleisch- und Milchhygiene" vom 16. 9. 16 wiedergibt, die preußischen Minister für Handel und des Innern zwar gegen die Verwendung der aus Blut hergestellten Fleischersatzpräparate, aber für die Verwendung des Blutes in gewöhnlicher Weife zur Herstellung von Nahrungsmitteln ein. Die Blutverwendung für Nahrungsmittel hat inzwischen in Berlin eine solche Ausdehnung gefunden, daß. wie Dr. Junack mit- teilt, es im großen bald mit 69 Pf. pro Liter bezahlt wurde, auch fast alles Schafblut zu Wurst verarbeitet wurde. Wegen dieser Preistreiberei wurden in Berlin und Brandenburg vom militärischen Oberbefehlshaber Höchstpreise von 15 bis 25 Pf. pro Kilo Blut im Groß- und Kleinhandel festgesetzt. Ausgeschlossen von der Verwendung zu Nahrungsmitteln soll das beim.wilden Schächien" gewonnene Blut sein, weil der Mageninhalt dann meist zum Teil dem Blute beigemischt ist. Das.wilde Schächten", d. h. der über das rituelle Bedürfnis der Juden hinaus ausgeführte Halsschnilt sollte deshalb verboten werden. Saubere Gewinnung und Aufbewahrung schützt daS Blut ebenso wie die Milch in hohem Maße vor Verderben. Der tägliche Transport muß schnell und ähnlich wie bei der Milch organi- siert werden, was bei vielen Schlachthöfen jetzt schon geschieht. Soll Blut längere Zeit aufbewahrt werden, was am besten in Kühlhäusern geschieht, so empfiehlt sich ein Zusatz von 3 bis 5 Proz. Kocvsalz. Ein Zusatz von 6 Proz. Kalisalpeter macht das Blut beim Kochen hellrot, was es zur Herstellung verschiedener Speisen besonders ge« eignet macht. Auch der Verwendung von Blut zur Brot bcreitung stehen backtechnischs Schwierigkeiten nicht entgegen. Es bedarf bei dieser Verwendung auch keines besonderen BackversahrenS. So ist Blut in der vcrschiedensteu Weise ein wertvolles Hilfsmittel für die Massen- ernährung. EL V. Programm. Mit dem Beginne der Bühnenspiele tritt auch das Fremd- wort Programm wieder häufiger als gewöhnlich auf. Das Wort hat an und für sich mit dem Schauspiel nichts zu tun. Es stammt aus dem Griechischen und bedeutet öffentliche Bekanntmachung. Trotzdem beherrscht es die Bühnensprache und findet sich auch auf anderen Gebieten unseres Sprachgebrauchs. Und doch gibt es so viele gute deutsche Ausdrücke für dieses unnötige Fremdwort. Der Deutsche Bühnenverein ersetzt es in seinen kürzlich erschienenen Verdeutschungsvorschlägen durch Spielfolge, Zettel. Treffende Ersatzwörter lassen sich auch sonst für jeden Fall finden. Ein Konzert- Programm ist eine Vortragsfolge, ein Schulprogramm ist ein Jahresbericht, ein Parteiprogramm find die Parteigrundsätze, ein Festprogramm ist ein« Festordnung, das Programm einer Vcr- sammlung ist die Tagesordnung, das Programm einer Wanderung ist der Plan, ein Bauprogramm ist die Bauaufgabe; wer sich nach einem Programm richtet, handelt nach Grundsätzen, Aufgaben, Be- stimmungen, Vorschriften; was auf dem Programm steht, wird an- gekündigt; die Versammlung verlief programmäßig heißt ord- nungsmäßig oder nach dem festgesetzten Plan. Wir sehen, daß wir eine Menge von deutschen Wörtern haben, die jeden einzelnen Fall genau und deutlich bezeichnen, während das Fremdwort Programm ganz verschwommen ist und der Sache gar nicht oder herzlich wenig entspricht. Nottze». — Die Zoo-Theater. Wer das Marionetten-Theater am Zoo besuchen will, zumal Sonntags nachmillags, der sehe sich vor, daß er nicht auS Versehen in das daneben lieuende.Palast-Theater am Zoo" geräl. Einem Freunde unseres Blattes passierte daS Malheur. Die Karlen, die er gelöst hatte, wurden nicht zurück« genommen, obwohl ausdrücklich BilleUs zur Marionetten- Vorstellung und zur Fünfuhr-Vorstellung(eine solche gab eS im Palast-Theater gar nichr I) gefordert waren. Die Angelegenheit wird vor Gericht ausgetragen werden. — Theaterchronik..Die Warschauer Zitadelle", daS Stück der polnischen Schriftstellerin Gabryela Zapolska , das in Warschau verboten war, und in dieser Spielzeir über Ivo Auf« führungen erlebte, ist nun auch für Berlin freigegeben worden. Die Erstaufführung findet im Residenz-Theater am 9. d. M. stall. — Die Zahl der Blinden betrug nach einer Veröffent« lichung in der Zeitschrift des statistischen Landesamls 1919 in P-eußen M 953. Im Jahre 1871 waren es 22 978. Seitdem hat sich die Zahl forlgesetzr verringert. Aus je 16 066 Einwohner entfielen im Jahre 1916 im Durchschnitt 6.2, in Ostpreußen 7,6, in der am günstigsten stehenden Provinz Westfalen nur 3.8 Blinde. Die in den östlichen Landcsteilen häufigere Blindheit wird auf die dortige Aus« breitung des Trachoms(besondere Form der Augenentzündung) zu- rückgesührt. Die Juden haben wie bei den Taubstummen so auch bei den Blinden die größte Verhältniszahl aufzuweisen. Das Durch- fchnittslebensalter der Blinden ist ein iehr hohes. Im Jahre tä16 waren 1756 über 66 bis 65 Jahre, 1818 über 65 bis 76, 3497 über 76 bis 86, 1911 über 86 Jahre alt. 603?ans Heimweh. Eine Geschichte auS dem Wärmland von Selms Lagerlöf. Zurückgehalten. Die Leute fanden es höchst merkwürdig, daß Klara Gulla nun Tag um Tag auf dem Borger Landungssteg stehen mußte, um auf jemand zu warten, der niemals kam. Nicht an schönen Sommertagen stand Klara Gulla wartend auf dem Landungssteg, sondern bei düsterem, stümischem No- vemberwettcr und im dunklen, kalten Dezember. Auch träumte sie da nicht schöne, holde Träume von Reisenden, die aus weiter Ferne kämen und mit Pomp und Staat an Land stiegen. Ihre Augen und Gedanken waren nur immer aus ein Boot gerichtet, das vor der Schiffslände hin und her fuhr und nach einem Ertrunkenen suchte. Im Anfang hatte sie gemeint, der, auf den sie wartete, werde gleich gefunden werden, so- bald man mit dem Dreggen in Gang käme; aber darin hatte sie sich getäuscht. Tag um Tag arbeiteten zwei alte, geduldige Fischer mit der Draggleine, aber sie fanden nichts. Ganz nahe bei dem Borger Landungssteg sollten im Seegrund ein paar tiefe Löcher sein, und mehrere von den Leuten meinten. Jan sei gewiß in einem von diesen der- funken. Andere wieder sagten, hier an der Landzunge sei eine sehr starke Strömung, die nach der großen Kirchenbucht hinführe, und Jan könnte ja möglicheriveise dorthin mitgerissen worden sein. Klara Gulla ließ die Dragglcinen verlängern, so daß sie bis in die tiefste Tiefe des Löven hinabrcichten, auch ließ sie den Dragganker über jeden Zoll breit in der Kirchenbucht hingleiten, aber es glückte trotzdem nicht, ihren Vater ans Tageslicht heraufzubefördern. Gleich am ersten Tag nach dem Unglück hatte Klara Gulla einen Sarg bestellt, und als er fertig war, ließ sie ihn nach dem Landungssteg befördern, damit man den Toten, sobald er gefunden würde, hineinlegen könnte. Von da an stand der Sarg fortwährend auf der Brücke. Klara Gulla ließ ihn nicht einmal bei Nacht in das Warenlager hineinstellen. Das Lager wurde geschlossen, wenn der Aufseher fortging, der Sarg aber sollte immer bereit sein, damit Jan nicht auf ihn zu warten brauchte. Der alte Kaiser hatte auf dem Steg oft gute Freunde um sich her gehabt, die ihm die Wartezeit verkürzten; aber Klara Gulla stand fast immer ganz allein draußen. Sic redete niemand an, und man ließ sie auch sicherlich gern in Ruhe; denn in den Augen der Leute hatte diese Tochter, die die Schuld an ihres Vaters Tod trug, etwas Unheimliches. Im Dezember hörten die Bootfahrten auf, und von da an stand Klara Gulla vollständig allein auf dem Landungs- steg. Niemand störte sie. Die Fischer wollten das Suchen nach dem Leichnam auch einstellen. Aber da gebärdete sich Klara Gulla ganz verzweifelt; der Vater mußte gefunden werden, das war ihre einzige Hoffnung, ihre einzige Rettung. So lange der See nicht zugefroren war, dursten die Männer ihre Versuche nicht einstellen. Sie mußten an der Landzunge bei Nygard und bei Storvik suchen, der ganze Löven sollte abgesucht werden. Je länger die Ungewißheit dauerte, desto ängstlicher und eifriger wurde Klara Gulla, daß der Tote gefunden wurde. Sie hatte sich bei einem Häusler in der Nähe von Borg ein- gemietet und es im Anfang auch über sich gebracht, wenigstens einige Stunden am Tag zu Hause zu bleiben. Aber allmäh- lich wurde sie von so großer Angst erfaßt, daß sie sich kaum zum Schlafen und zum Essen Ruhe gönnte. Jetzt hielt sie sich beständig auf dem Landungssteg auf, nicht allein während der kurzen Tage, sondern auch während der langen endlosen Abende, bis es Zeit war, zu Bett zu gehen. Während der beiden ersten Tage nach Jans Tod hatte die alte Katrins neben Klara Gulla auf dem Steg gestanden und auf Jan gewartet. Aber dann ging sie zurück nach Skrolycka. Sie verließ den Steg nicht aus Gleichgültigkeit, sondern weil sie es nicht aushalten konnte, mit der Tochter zusammen zu sein und sie von Jan reden zu hören. Denn Klara Gulla verstellte sich nicht, und Katrine wußte wohl, wie es stand. Klara Gulla war nicht aus zärtlicher Fürsorge oder aus Ge- wissensqual so eifrig für die Bergung des Leichnams und dessen Begräbnis in geweihter Erde bemüht, sondern weil sie sich fürchtete, so lange der Vater, an dessen Tod sie schuld war, unbegrabcn auf dem Grunde des Sees lag. Sie hoffte, wenn der Vater erst gefunden war und sie ihn in der Erde des Kirchhofs begraben lassen konnte, dann würde er ihr nicht mehr so gefährlich erscheinen. Aber so lange er sich da befand, wo er jetzt war, fühlte sie unbeschreibliches Entsetzen vor ihm und vor der Strafe, die seinetwegen über sie kommen würde. Klara Gulla stand auf dem Landungssteg bei Borg und sah in den See hinunter, dessen Wasser immer erregt und grau war. Keiner ihrer Blicke konnte die Oberfläche des Wassers durchdringen, aber ihr war trotzdem, als könne sie den weiten Grund des Sees sehen, der sich unter ihr ausbreitete. Da drunten, da saß er, der Kaiser von Portugallien. Er saß auf einem Stein, hatte die Hände um die Knie ge- schlungen, und seine Augen starrten in das graugrüne Wasser hinein, in der beständigen Erwartung, daß sie zu ihm kommen würde. Den ganzen Kaiserstaat hatte er abgelegt. Der Stock und die Ledermütze waren ja nicht mit in die Tiefe gesunken, und die papierenen goldenen Sterne hatten sich wohl im Wasser aufgelöst. Da saß er in seinem alten fadenscheinigen Rock mit zwei leeren Händen. Aber dafür war jetzt auch nichts Unechtes und Lächerliches mehr an ihm. Jetzt war er nur noch gewaltig und furchtbar. Nicht mit Unrecht hatte er gesagt, er sei Kaiser. Eine so große Macht hatte er im Leben gehabt, daß der Feind, den er gehaßt hatte, gestürzt und daß seinen Freunden geholfen worden war. Diese Macht hatte er auch jetzt noch, und sie verliß ihn nicht, weil er tot war. Nur zwei Menschen hatten ihm in seinem Leben wirklich Böses getan. An dem einen war er schon gerächt worden. Der andere aber war sie, seine eigene Tochter, die ihn zuerst wahnsinnig gemacht und ihn dann in den Tod getrieben hatte. Auf sie harrte er nun da drunten in der Tiefe. Jetzt war seine Liebe zu ihr zu Ende. Jetzt envartete er sie nicht mehr, um sie zu loben und zu preisen. In das düstere Reich der Toten wollte er sie hinunterziehen zur Strafe für alles, was sie an ihm verbrochen hatte. *• Zu einem fühlte sich Kiara Gulla stark versucht. Sie hätte den großen schweren Deckel des Sarges abnehmen und diesen dann über den Landungssteg wie ein Boot aufs Wasser hinauSgleiten lassen mögen. Dann wäre sie selbst hinein- gestiegen, wäre vom Land abgestoßen und hätte sich dann ganz vorsichtig auf dem Lager von Sägespänen ausgestreckt. Sie wußte nicht, ob sie dann gleich untersinken oder vor- her eine Weile auf dem See umhertreibcn würde, bis der Wellenschlag ihr Fahrzeug mit Wasser gefüllt und es in die Tiefe hinabgezogen hätte.(Forts, folgt.)
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33 (4.11.1916) 253
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