Eine andere verwandte Frage ist die, ob der allbekannte aristokratische Hang der Frauen einen schädlichen Einfluß auf die Gestaltung der Zukunft üben könne. Wir Alle wissen, und wir könnten es schon aus dem uralten Märchen von der Fischers- frau lernen, welche nach einander Grundeigenthümerin, Baronin, Papst und zuletzt Gott werden wollte, daß die Frauen einen aristokratischen Hang haben, und zwar viel allgemeiner und stärker als die Männer. Es gicbt hunderte von Erfahrungen, welche dies beweisen, so daß an der Thatsache kein Zweifel sein kann. Dieser Hang wurzelt zumeist im weiblichen Schönheits- sinne, welcher sie treibt, bei ihrer Herzenswahl vorzüglich den schönsten Mann zu begünstigen, die schönste oder doch die ge- putzteste Frau am meisten zu beneiden, schöner zu erscheinen, als sie ist, sich mit Glanz und Ansehn zu umgeben und über- Haupt zufällige Vorzüge höher zu schätzen als wahres Verdienst. Allein wurzelt er nicht auch in der vernachlässigten Erziehung, welche von jeher des Weibes Loos war?— Wer das läugnen wollte, hat nie wahrhaft hochgebildete Frauen gekannt, welche fast immer über die Schwächen ihres Geschlechtes erhaben sind. Er müßte auch den aufopfernden Geist schwächen, dessen gerade die Frauen in höherem Grade und allgemeiner als das andere Geschlecht fähig sind. Es sollte anerkannt werden, daß die Frauen empfänglicher sind für alles Große, Gute und Wahre, wenn sie von früh auf dazu vorbereitet werden. Ihr Schön- heitssinn ist ja an sich nur etwas Gutes, wenn er an der Aus- bildung der Erkenntniß eine Ergänzung erhält; nur Einseitig- keit der Erziehung vermag ihn, wie alles natürlich Edle, aus- arten zu lassen. Ohne diesen weiblichen Schönheitssinn hätten sich die edleren Menschenrassen nie herausentwickeln können, und ohne seine Cultur würde die Welt gar wüst und leer aus- sehen. Gerade dieser mächtige Zug der weiblichen Natur muß im Staate der Zukunft große Wirkungen haben. Wenn die Jung- frau nicht länger der Versorgung wegen sich in den Ehestand zu begeben braucht, weil sie ihr reichliches Brot, ihren Schmuck und ihre Lieblingsbeschäftigung auch ohnedies finden kann, so wird sie sich verehelichen nur, wenn sie den Gatten ihrer Wahl finden kann; wenigstens wird dies von Geschlecht zu Geschlecht Häufiger der Fall sein. Die Liebe ist des Weibes mächtigstes Bedürfuiß; freieste Wahl bei dieser ihrer Herzangelegenheit ist ihr höchstes Glück; kann sie darin ganz sich befriedigen, so vcr- mag sie Gatten und Kinder unbeschreiblich zu beglücken, wäh- rend sie fast ihren besten Menschenwerth verliert, wenn sie einem ungeliebten Gatten folgen muß. Und dies ist so wenig eine Erfindung der Romandichter, daß vielmehr umgekehrt die letz- teren gcnöthigt sind, dieses Thema in unendlichen Abwechse- lungen immer neu zu behandeln, weil der Geist der Zeit nach vollster Verwirklichung freier Gattenwahl und unbestochener Liebe strebt— ein den Alten ganz unbekanntes Ideal, ein ganz un- geheurer moderner Fortschritt. Die frivole Bourgeois-Literatur, welchejstueses Ideal lächerlich zu machen und die gschlechtliche Lüsternheit zu beschönigen strebt, beweist eben dadurch die tiefe moralische Verworfenheit der Sache, welcher sie dient. Die Ro- manleserei von beutzutage ist ein gutes Zeichen einer großen Zukunft, sie wiro überwiegend schädlich nur, weil es weit mehr schlechte als gute Romane gibt, und selbst unter den besseren zu viele, welche nicht das Glück der ächten Ehe, die dauernde Selbstbelohnung lebenslanger ehrlicher Pflichterfüllung, den ganzen Reichthum einer edlen Häuslichkeit, sondern nur„die zarte Sehnsucht und das süße Hoffen der ersten Liebe gold'ne Zeit" schildern, die bloße Aeußerung eines Naturgesetzes anstatt des Adels edelmenschlicher Selbstgesetzgebung. Somit wird das Weib der Zukunft den Mann nöthigen, sich wahre Frauenlicbe zu verdienen und in der Ehe immer neu zu verdienen. Die Zahl der unglücklichen Ehen und Ehelösungen muß stark ab- nehmen, weil die Wahl weniger leichtsinnig, weniger bestochen war, gewöhnlich nach vorheriger längerer Prüfung beiderseits erfolgte und durch lebhafteres Pflicht- und Treugefühl Halt em- pfängt. Dazu kommt nun, daß die völlige Gleichberechtigung dem Leben des Weibes höhere Pflichten, ihr wachsender Einfluß auf das öffentliche Leben ihm größere Würde, ernsteren Sinn, reinere Beweggründe verschaffen muß. Dieses Alles finden wir schon heutzutage ausnahmsweise bei begünstigten, hochgebildeten Frauen. Die Zeit muß also kommen, da männliche Völlerei, Zoten- reißerei und Roheit aller Art ausstirbt, weil keine Geselligkeit, kein Lebensgenuß mehr möglich ist ohne Theilnahme der Frauen. Wer daran zweifeln wollte, würde sich selbst kein günstiges Zeugniß ausstellen. Sozialpolitische Uebersicht. — Man schreibt uns aus Berlin : Noch immer bilden die Artikel des„Grcnzboten", die in frivoler Weise über die hiesigen Hofkreise sich ausließen, das politische Tagesgespräch. Rede des smolenskischen Bauers Peter Aleksiejew*) gehalten in einer besonderen Sitzung des Straf-Senates am 10. März 1877. Wir, Millionen des arbeitenden Volkes, werden von Mutter und Vater dem Schicksal in die Arme geworfen, sobald wir nur zu gehen im Stande sind. Ohne jegliche Erziehung, ohne die geringste Schulbildung, stumpfen wir vorzeitig ab, in Folge einer langen, übermäßigen Arbeitszeit und unglaublich geringer Be- lohnung für dieselbe. Erst 9 Jahre alt, pflegt man uns von Hause auf den eigenen Verdienst zu schicken. Was erwartet uns da? Selbstverständlich verkaufen wir uns den Kapitalisten für ein Stück schwarzen Brodes zur Lohnarbeit, kommen unter die Aufsicht von Erwachsenen, die uns mittelst Ruthen und Fnß- tritten au die übermäßige Arbeit gewöhnen, essen was vor- kommt, ersticken fast in einer von Staub und Miasmen aller Art geschwängerten, verdorbenen Luft, schlafen auf dem nackten Boden, ohne Bett und ohne Kissen, eingehüllt lediglich in Lumpen und geplagt von einer unzähligen Menge Ungeziefer-- in einem solchen Zustande stumpfen sich bei den Arbeitern alle Gei- stesfähigkeiten ab, und die moralischen, von der Kindheit her- stammenden Begriffe werden in ihrer weiteren Entwickelung ge- hemmt. Uebrig bleibt nur das, was in einer arbeitenden Klaffe entstehen muß, die roh erzogen, von Allen vergessen, verlaffen und isolirt ist von jedem civilisationsfähigen Elemente. Das ist, was ein Arbeiter von Kindheit an unter dem Joche des Kapitalismus erdulden muß. Und was können wir uns nach allem diesem für ein anderes Verhältniß zum Kapitalisten denken als das des Hasses? Unter solchen Lebensverhältnissen entwickelt sich bei uns von Jugend auf der Gedanke, diesen Druck nur bis zu einem gewissen Punkte, mit dem Haffe im Herzen, zu ertragen und ohne Widerrede Beleidigungen zu erdulden. *) Peter Aleksiejew gehörte zu den mit Sophie Larionowna Bardina am 21. Februar VerunheUten. ' Allgemein äußert man sich mit Entrüstung über die dreiste Manier, um jeden Preis den Lorbeerkranz auf der Stirne des Fürsten Bismarck festbannen zu wollen. Am Besten fährt bei diesen Gesprächen die eingegangene„Reichsglocke"(Gehlsen, Loe, R. Meyer), deren Behauptungen in Bezug auf den leitenden Staatsmann vielfach jetzt wieder Glauben geschenkt wird. Die Untersuchung, welche höchst wahrscheinlich gegen den„Grenz- boten" eingeleitet werden wird, mag recht eigenthümliche Er- scheinungen zu Tage bringen.— Wenn verschiedene liberale Elemente, denen die constitutionelle Staatsform als die vollendetste und beste erscheint, sich darüber erboßen, daß der Lenker des „constitutioncllen" Systems in Deutschland , Herr von Bismarck , in seinen Anschauungen und Plänen, die ja bekanntlich manchmal durchaus nicht mit denen der liberalen Majorität in den Volks- Vertretungen übereinstimmen, durch Strömungen in den Hof- kreisen beeinträchtigt und gehemmt wird, so mögen sich diese Elemente doch Eins sagen, daß ein solches Hemmniß deshalb natürlich und auch leicht in Scene zu setzen ist, weil der Eon- stitutionalismus in Deutschland ein Scheinconstttutioualismus ist, weil weder im Reich noch in Preußen der Wille der Majorität der Volksvertretungen zur Geltung gelangt. Genau so wie die Volksvertretungen von den Ministerien im Zaume gehalten werden, ergehts letzteren durch die Hofkreise— und das nennt man in Deutschland Constitutionalismus. Ein Auswuchs desselben sind nun auch die Grenzboten-Artikel mit ihrem höchst interessanten Nachspiel. — Eine erfreuliche Thatsache. In ihrer letzten Viertel- jahresrundschau jammert die„Kreuzzeitung " darüber, daß„der kirchliche Nothstand Berlins und die daraus erwachsende kirch- liche Verwahrlosung zum Himmel schreie." Als Beleg hierfür führt�das chrenwerthc Blatt folgende Thatsache an:„Die Zions-, Elisabeth-, Jnvalidenhaus-, Nazareth- und St. Paulsgemeinden haben 160,090 Seelen mit nur 8 Geistlichen. In ihnen wird nur ein Drittel der neugebornen Kinder getauft und elf Prozent der Ehen kirchlich eingesegnet. Dafür aber haben diese Gemeinden auch zwei Sozialdemokraten in den Reichstag gewählt, die erstgenannten mit 9469 Stimmen, die letzteren mit 10,769 Stimmen. So sind die kirchlichen Zustände in den Gemeinden, welche berufen sind, das„intelligente Drittel bei den Synodalwahlen zu stellen."— Wir brauchten zu dem kläglichen Gewinsel der„Kreuzzeitung " eigentlich Nichts hinzu- zufügen, wollen jedoch bemerken, daß dieses Geständniß ganz anders lautet, als das Geschreibsel vieler gesinnungstüchtiger Blätter, die anläßlich des Ergebnisses der letzten Reichstags- wählen in Berlin behaupteten, die Wähler der betreffenden Wahl- bezirke seien überrumpelt worden, oder seien Leute ohne feste politische Gesinnung gewesen, die, nachdem sie es schon mit allen andern Parteien probirt, auch einmal versuchshalber sozialistisch j gewühlt hätten. Nach Keuntnißnahme obiger kläglicher Lamentation scheint doch die Sache anders zu stehen, und die Berliner Wähler scheinen tüchtigere Sozialisten zu sein, als die Herren Liberalen glauben wollen. Im Uebrigen werden ja die in Berlin in zwei Bezirken vor der Thür stehenden Neuwahlen beweisen, wie es mit dem Sozialismus in Berlin bestellt ist. — Das preußische Handelsministerium soll nach Mit- theilungen, die der„Schlesischen Zeitung" aus Berlin zugegangen sind, nicht abgeneigt sein, im Sinne des von den sozialistischen Abgeordneten im Reichstage eingebrachten Arbeiterschutzgesetzes ein Verbot der Frauenarbeit in industriellen Etablissements zu erlaffen, d. h. mit Genehmigung des Reichstags. Andererseits sollen aber auch die thatsächlichen Schwierigkeiten, welche sich einem derartigen gesetzlichen Verbot entgegenstellen, in Berück- sichtigung gezogen worden sein. Nach den amtlicherseits ange- stellten Erhebungen stände es nämlich zu befürchten, daß ein großer Theil der gewerbetreibenden Frauen und Mädchen, welche jetzt in Fabriken beschäftigt sind, durch ein generelles Verbot für einige Zeit völlig erwerbslos gemacht und der Gefahr, der Corruption zu verfallen, ausgesetzt werden würde. Es soll des- halb an eine gesetzliche Scheidung zwischen Fabriken, deren Be- trieb seiner Beschaffenheit nach vorwiegend auf Frauenarbeit angewiesen ist(wie z. B. Blumeufabrikation) und Fabriken anderer Art gedacht werden. Ob obige Mittheilungen auf Wahrheit beruhen oder nicht— jedenfalls werden Regierung und Reichstag zu dem Arbeiter- schutzgesetz Stellung nehmen müssen. — Daß Preußen ein Staat ist, in welchem die Polizei sich ungestraft fast alles erlauben darf, das ist geradezu welt- bekannt, und nur, um diese alte Wahrheit zu bekräftigen, führen wir einen neuen eklatanten Fall von Polizeiwillkür an, wie er jüngst in Köln vorgekommen ist. So hatte sich im Februar d. I. ein Kölner Bürger bei der Regierung darüber beschwert, daß die Polizei die Anwesenheit von Frauen in öffentlichen Volks- Dem erwachsenen Arbeiter ist der Lohn bis zum Minimum herabgesetzt, und aus diesem Lohne pressen die Kapitalisten ohne Gewissensbisse mit allen erdenklichen Mitteln den letzten Kopeken heraus, diesen Diebstahl für ein ehrliches Einkommen ausgebend. Selbst die sich noch für am„anständigsten" haltenden Moskauer Fabrikanten beuten die Arbeiter auf die raffinirteste Weise aus. Der Arbeiter giebt sich für einen ohnehin geringen Arbeitslohn dem Kapitalisten hin. Und wenn ihm dann noch mit oder ohne Recht Strafgelder abgezogen werden, so muß er sich ebenfalls fügen, um nicht des Stück Brodes verlustig zu gehen, das er sich durch eine siebzehnstündige Arbeit verdient. Uebrigcns will ich mich nicht in eine eingehendere Beschrei- bung aller sogar widergesetzlichen Ausbeutungen der Fabrikherren einlassen, weil meine Worte denjenigen unwahr erscheinen könnten, die vom Leben des Arbeiters nichts wissen und keine Moskauer Arbeiter aus den berühmten Fabriken von Babkin, Gutznow, Rosoff, Morosoff u. A. gesehen haben.... (Präsident: Das ist gleich; es steht Ihnen frei, darüber! auch nicht zu sprechen!) Peter Aleksiejew: Ja wahrhaftig, das ist ganz gleich, da überall die Arbeiter sich in dem allergrößten Elend befinden. Ein siebzehnstündiger Arbeitstag— und ein Verdienst von kauni 40 Kopeken! Schrecklich! Bei einer so kolossalen Theuerung der Lebensmittel muß ein Theil des Arbeitslohnes auf den Unter- halt der Familie, ein anderer zur Bezahlung von Kronstcueru verwendet werden, und es ist bei den gegenwärtigen Verhält- � nissen unmöglich, den unumgänglichsten Bedürfnissen des Körpers Genüge zu leisten. Wenn wir nun unsere Hand dem Joche zu entziehen suchen j und sie den Anderen hilfreich entgegenstrecken, dann antwortet man uns mit der Anklagebank! Ja, traurig ist es, einen Men- scheu auf die Anklagebank zu setzen, der fast von der Wiege auf sich sein ganzes Leben hindurch durch eine siebzehnstündige Tages- arbeit sein Stück Schwarzbrod verdiente. Ich bin einigermaßen mit der Arbeiterfrage im Westen von Europa vertraut. In Vielem gleichen uns unsere Brüder nicht: Versammlungen, die kein Gesetz verbiete, nicht gestatten wolle. Es war darauf folgender Bescheid erfolgt: „Köln , den 24. Februar 1877. Auf die Beschwerde vom 3, d. M. erwidern wir Ihnen, daß zu der von ihnen an- gemeldeten allgemeinen Volksversammlung am 2. d. M. auch Frauen der Zutritt zu gestatten war, weil diese Versammlung als die Versammlung eines politischen Vereins im Sinne des Z 8 des Vercinsgesetzes vom 11. März 1850 nicht angesehen werden konnte. An die königl. Polizeidirektion ist demgemäß das Erforderliche verfügt worden. Königliche Regierung, Ab- theilung des Innern, v. Guionneau." Gestützt auf diesen Erlaß beriefen eine Anzahl Kölner Ge- sinnungsgenoffen vor einigen Tagen abermals eine Volksver- sammlung ein. zu welcher selbstverständlich den Frauen der Zu- tritt freigestellt worden war. In dieser Versammlung nun geschah das Unerhörte, daß der überwachende Polizeibeamte trotz des an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassenden Erlasses die Ent- fernung der anwesenden Frauen verlangte. Der Einberufer machte den Polizeibeamten auf den Erlaß aufmerksam; umsonst, der letztere wiederholte seine Aufforderung und löste, als man derselben auf das von der Regierung anerkannte Recht hin nicht Folge leistete, die Versammlung auf. Und wenn man uns fragt, was wird diesem Beamten, der es wagte, ein gesetzlich garantirtes Volksrecht aufzuheben, geschehen?— so haben wir nur die eine Antwort: Preußen ist ein Polizeistaat! — Auch ein Nutzen der Volksbanken. Ein Darmstädter Blatt macht auf einen sehr beachtenswerthen Mißstand auf- merksam. Mehrfach schon haben sich notorische Wucherer als Mitglieder von Volksbanken und Kreditvereinen aufnehmen lassen und dann sehr bedeutende Summen daraus entnommen, um ihrem Wuchergeschäfte eine größere Ausdehnung zu geben. Dergleichen Vereine verfolgen nun zwar gerade die Absicht, den Mittelstand aus den Händen der Wucherer zu befreien; sie können jedoch, wie man aus dieser Mittheilung ersteht, dem schnurstracks entgegengesetzten Zwecke dienstbar gemacht werden. Vorsichts- maßregeln, wie sie der Darmstädter Correspondent der„Frank- furter Zeitung" empfiehlt, notorischen Wucherern sollten Dar- lehne verweigert werden, führen natürlich zu keinem Resultate, da der„notorische Wucherer" alsdann Leute suchen und finden wird, welche nicht notorisch wuchern und darum an der Ent- nähme von Darlehen aus den Volksbanken für ihn— den Notorischen— nicht gehindert werden können. Bei den heutigen Wirthschaftsvcrhältnissen schöpft der rücksichts- und schamlose Ausbeuter seinen Nebenmenschen eben immer das Fett ab und der ehrliche arbeitsame Mensch hat das Nachsehen. — Vom Kreisgerichte zu Waldshut in Baden wurde vor Kurzem der des einfachen Bankerotts und der nicht rechtzeitig angemeldeten Zahlungseinstellung augeklagte Fabrikant und Ex- Rittmeister Malzacher von Säckingcn zu einer Gefängnißstrafe von 3 Monaten verurtheilt. Herr Malzacher war Führer der Säckinger Altkatholiken und demnach natürlich äußerst„rcichs- treu und liberal". — Auf die von Unverschämtheit und Verlogenheit strotzende russische Note ist nunmehr die Antwort Englands gefolgt. Lord Derby weist darin in sehr energischer Sprache die russische Anmaßung in ihre Schranken zurück und erklärt mit einer Deutlichkeit, die nichts zu wünschen übrig läßt, die Be- hauptungen Gortschakoff's, wonach Rußland zum Kriege ge- zwungen und der Vertreter Europas und der Humanität sein will, wäre eitel Lüge. Natürlich müsse diese entschiedene Stellungnahme der britischen Regierung Rußland gegenüber allerorten auf sehr gemischte Empfindungen stoßen. Rußland selbst steckt sich vorläufig wahrscheinlich die englische Note stumm in die Tasche, weil es gar keine Ursache hat, England allzufrüh zur aktiven Theilnahme am 5kriege zu zwingen. In London ist die Mehrzahl der tonangebenden Preßorgane auf Earl Derby's Seite. Der„Standard", die„Morning-Post" und die„Times" sind vollkommen mit der Note zufrieden; den„Daily Telegraph " treibt sie schier in die kühnste Kriegsbegeisterung hinein. Nur „Daily News" ist unzufrieden, weil es eine Steigerung der Kriegsleidenschaften fürchtet und verdammt. Im Unterhaus veranlaßte am 7. Mai der Sxpremier Gladstone, als erbitterter Feind der Politik, welche seine Nachfolger innehalten, eine der heftigsten Debatten, die das englische Parlament bewegt haben. Gladstone hatte eine Anzahl Resolutionen gestellt, wodurch die Politik der Pforte entschieden verurtheilt und die Regierung zu Zwangsmaßregcln gegen die Türkei , d. h. also im Nothfalle zu gemeinsamem Kriege mit Rußland genöthigt werden sollte. Das überfüllte Haus harrte auf die Vertheidigung dieser auf den Umsturz der ganzen englischen Regierungspolitik berechneten Re- solutionen. Aber es harrte vergebens, denn Gladstone hatte, um nicht ein allzu blamables Fiasko zu erleben, noch im letzten dort werden nicht, wie bei uns, die Arbeiter verfolgt, welche all' ihre freie Zeit und viele schlaflose Nächte dem Lesen von Büchern widmen; im Gegenthcil, dort ist man darauf stolz, wir werden aber ein halbwildes und Sklavenvolk genannt. Wie sollte man aber auch anders von uns denken? Besitzen wir denn freie Zeit für irgendwelche Beschäftigungen? Haben wir gute und dem Arbeiter zugängliche Bücher? Wo und was kön- neu wir lernen? Werfet einen Blick in die russische Volkslite- ratur. Da sehen wir, herausgegeben für das Volk, Bücher wie „Bowa Korolewitsch",„Eruslan Lazarewitsch",„Wanjka Kam" u. A. Daher stammt nun auch bei unserem Volke der Glaube, daß die Bücher entweder etwas„Göttliches" oder etwas„zum Lachen" enthalten müssen. Ich meine, daß es Jedem bekannt ist, daß bei uns in Rußland die Arbeiter wegen Bücherlesens von Verfolgungen immer noch nicht befreit sind, und besonders, wenn bei ihnen Bücher angetroffen werden, die über ihre Lage handeln. Da muß er sich vorsehen! Man sagt ihm dann gerade aus: Du siehst keinem Arbeiter ähnlich, denn Du liesest Bücher. Und das Sonderbarste an diesem ist das, das in diesen Worten auch nicht die geringste Ironie zu bemerken ist, daß in Rußland einem Arbeiter ähnlich sein gleichbedeutend ist dem Aehnlichsein einem Thiere. Meine Herren, glaubt man denn wirklich, daß wir Arbeiter zu Allem so taub, blind, dumm und stumm sind, daß wir nicht hören, wie man uns Trunkenbolde, Dummköpfe und Faullenzer schimpft, als ob auch in der That die Arbeiter alle jenen Namen verdienen? Sehen wir denn nicht, wie um uns herum Alle reicher werden und hinter unserm Rücken sich belustigen? Glaubt man denn wirklich, daß wir nicht überlegen und verstehen kön- neu, weshalb man uns für so billig hält und wohin der Ertrag unserer unerträglichen Arbeit wandert? warum die Anderen, die nicht arbeiten, im Reichthum schwelgen und wo ihr Reichthum herstammt? Fühlen wir denn wirklich nicht, wie schwer die sogenannte allgemeine Wehrpflicht auf uns lastet? Wissen wir denn nicht, wie langsam und widerwillig die Frage von der Einführung der
Ausgabe
2 (16.5.1877) 57
Einzelbild herunterladen
verfügbare Breiten