sie confirmirt oder, um mit dem Berliner zu sprechen, eingesegnetsind. Sie bekommen dann ihren Hofstaat, eine Apanage; beifestlichen Gelegenheiten werden sie von zwei Leibpagen bedient,sie erscheinen mit dem ihnen zukommenden Rang bei Hofe, dürfensich als selbstständige Wesen fühlen, soweit das die Etikette er-laubt, und allenfalls eine Zeitung lesen; sie sind„unsere Prinzessinnen" geworden. Das ist das Lebensstadium, wo das In-teresse des Publikums für sie erwacht, wenn wir unter diesemnicht allein die Bevölkerung Berlins, sondern des ganzen preußi-schen Landes verstehen wollen, dessen ältere Provinzen von ihrempersönlichen, patriarchalischen Verhältnisse zu dem regierendenKönigshause nichts eingebüßt haben, noch weniger der Berliner.Diese Anhänglichkeit ist eine der gemüthvollen Seiten des Volks-charakters der preußischen Hauptstadt. Der Berliner ist durchalle politischen Wandlungen hindurch loyal geblieben. Er weißsehr wohl, daß nur diejenigen Hofwagen, deren Kutscher undLakaien in der silbernen Borde der Hüte die preußischen Wappen-zeichen, die schwarzen Adler, tragen, Mitglieder des königlichenHauses bergen: er wird solchen Wagen stets seine Reverenzmachen, unv für„unsere Prinzessinnen" legt er eine geradezurührende Anhänglichkeit an den Tag. Wunsch und Gedankeeiner„recht juten Heirath" beschästigen ihn für sie vielleicht mehrund eher, als die Prinzessinnen selbst. Er denkt sich in seinerUnbefangenheit, daß er Aussteuer und Mitgist, als steuerzahlenderStaatsbürger, mittragen muß, obwohl die zweihunderttausendThaler, die jede preußische Prinzessin als Heirathsgut bekommt.seit Friedrich Wilhelm dem Ersten nicht mehr vom Lande, son-dern aus dem Hausvermögen der königlichen Familie bestrittenwerden, aber des Allens schadet nischt, wenn sie man juteMänner kriegen. Er nimmt daran Antheil, als gehörte er zurFamilie."Hier wird in geradezu täppischer Weise der Berliner Hof-lieferant und Weißbierphilister schlechthin mit„dem Berliner"identifizirt, eine Manipulation, gegen die wohl drei Viertel derBerliner energisch Protestiren würden; vor hundert Jahren, lieberHerr Keil, mag es wohl der Fall gewesen sein, daß„der Ber-liner" jedem Prinzeßchen seine„Reverenz" gemacht hat, undwas das patriarchalische Berhältniß des ganzen preußischenLandes zum Hofe betrifft, so hat Ihr Haiduck sehr patriarchalischeAnsichten über dieses Berhältniß; hätte er seine Blicke von deinHofnebel hingewandt auf Feld und Flur und in die Werkstattder Arbeiter, so hätte er sehr wenig von Patriarchalischem gc-spürt, und seine Faselei konnte er sich selbst aä oculos widerlegen. Und gar das„Loyale"! Sind die Tausende BerlinerSozialdemokraten keine Berliner, oder trotz Sozialdemokratie nochloyal? Und dann die naive(fast weibliche) Unterschiebung, daß derBerliner in seiner„Unbefangenheit"(wer lacht da) denkt, ermüsse die Aussteuer und Mitgift mitbezahlen, und doch nochloyal, noch rührende Anhänglichkeit besitzt?„Der Berliner" be-sitzt eine rührende Anhänglichkeit an den Hof. Classisch, gottvoll,was werden Ihnen die Berliner für eine Reverenz machen, HerrKeil, wenn sie in Ihrem„Weltblatt" von dieser rührenden An-hänglichkeit lesen. Es ist wirklich rührend! Auch die Familiaritätzwischen dem preußischen Hof und dem Berliner ist wahrhaftentzückend. Kaum find die Prinzeßchen confirmirt, so hat derBürger an nichts zu denken, als an„eine recht jute Heirath"für sie, und im Nantejargon begeht er sein Abendgebet:„Wennsie man einen juten Mann kriegen" denn— er gehört ja zurFamilie. Wenn zwei Wahlkreise mit imposanter Majoritätzwei Sozialisten wählen, so thut dies der Loyalität dieser Leutedurchaus keinen Abbruch, denn— sie gehören ja zur Fa-milie.Wenn das Elend und die Roth manchen Berliner zum Ver-brechen und zum Selb imördcr treibt, so ist er dennoch von einerrührenden Anhänglichkeit beseelt, denn— er gehört ja zurFamilie.0 saneta simplicita»— o Keil— o„Gartenlaube"—o Hans— o Unsinn.O närrische Leute, o komische Welt.— e—Sozialpolitische Uebersicht.— In der vorigen Nummer unseres Blattes haben wir einekurze Notiz gebra ht über die Reichstagssitzung am 24. Fe-Die Folgen der czarischen Reformen.Skizzen über die Ausbeutungsfortschritte in Rußland in denletzten Jahren.(Aus der neulich erschienenen russischen sozialistischen Revue„Vorwärts"(rüpereü) Äd. V. London.)(Fortsetzung.)VI.Mehr als drei Viertel der Bevölkerung Rußlands(76,6 Pro-zent) betreiben de» Ackerbau; wenn wir aber Polen nicht mitzählen, so wird der Prozentsatz der Ackerbauenden noch größer,nämlich 81,2 Prozent. Nur ein Zehntel der Bevölkerung Ruß-lands wohnt in Städten, und unter diesen findet man noch solche,die nach Lebensweise und Gewohnheiten eher der Landbevölkerungzugezählt werden müssen. Die übrige Bevölkerung(neun Zehntel)bewohnt das Land und besteht, mit einer sehr g ringen Aus-nähme, aus Ackerbauern oder aus solchen Leut n, die ans Kostender ackerbauenden Klasse leben. Also der Ackerbau ist sozusageneine Hauptbeschäftigung des russischen Volkes. Diese vm ir rri endeBeschäftigung drückt der ganzen Lebensweise des Bockes einender ländlichen Kultur eigenthümlichen Stempel auf.*)Dies Alles zwingt uns, bei Betrachtung dcr ökonomischenLage des Volkes, unsere ganze Aufmerksamkeit dem Ackerbauerzuzuwenden' wir können dabei auch am besten die Folgen der„großen Reform" vom 19. Februar 1861(die Befreiung derHörigen und Leibeigenen) beurtheilen.Um aber kurz zu sein, werden wir nur die bemerkenswerthe-sten Erscheinung-n aus dem ökonomischen Leben des russischenBauern ausnehmen und daran unsere Betrachtungen knüpfen.Wie steht's also mit dem russischen Bauern? Diese Fragezu beantworten ist nicht schwer. Man durchreise das ganze Landvon einem Ende bis zum anderen, man befrage die ganze Be-völkerung— Alte wie Junge, Reiche wie Arme, Gebildete wieUngebildete— und überall wird dieselbe Antwort gegeben werden:Die ökonomische Lage der russischen Bauern ist mise-rabel schlecht, verzweiflungsvoll, hoffnungslos. Schwer-lich findet man unter den Millionen Unterthanen des„weißenCzaren" einige Dutzend Leute, die das Entgegengesetzte zu be-weisen im Stande wären.*) Der deprimirende Einfluß der Ackerbaukultur in Rußland äußertsich auch bei den Ausbeutern. Wie weiland der Gutsbesitzer-Sklaven-Halter und der Kulak, so sind auch jetzt der Fabrikant, der Bankier,der Börsenjobber nicht im Stande, die Eigenihümlichkeiten ihrer länd-lichen Herkunft, die ihnen anhaften, zu verwisch-n Die modeinenrussischen Ausbeuter, trotz ihres europäischen Aeußern, trotz hrer Uni-versitätszeugnisse, sind dennoch di-se'ben Knlaki geblieben.bruar, und zwar nach einem Telegramme. Dieses TelegrammWar ungenau. In der Sitzung vom 23. Februar hatte Camp-Hausen sich ablehnend gegen das Tabaksmonopol verhalten,Bismarck aber dasselbe empfohlen. Am 24. erlahmte Camp-Hausens Widerstand und er„bewies", daß er eigentlich immerfür das Monovol geschwannt babe. Sonderbarer Schwärmer!Darauf sang Bismarck seinem College» erst das Loblied, welchesvon ewiger Liebe und Treue widerhallte und Herrn von Camp-hausen buchstäblich zu Tbränen rührte. Die liberalen Zeitungenschrerben nämlich, daß Camphausen so erregt gewesen sei, daßihm die hellen Thränen von den Wangen gelaufen seien: nachvollendeter Bismarck'scher Rede reichte» sich die beiden Staats-Männer vor versammeltem Reichstage die Hand und— Bennigsenund Stauffenberg haben das Nachsehen.— Unser ParteigenosseFritzsche erklärte in der Debatte über die Steuern, daß er nurnoch in so später Stunde das Wort ergreife, weil der Reichs-kanzler sich für indirekte Steuern erklärt und dies damit moti-virt habe, daß indirekte Steuern weniger fühlbar wären. Daßeigentlich das Gegmtheil der Fall sei, bewiesen die Aussprüchezahlreicher Nationalökonomen. Die direkt erhobene Steuer bringeaber dem Steuerzahler seine Wichtigkeit im Staatsganzen besserzum Bewußtsein, deshalb sei die sozialdemokratische Partei sürdirekte Steuern. Allerdings gewöhne sich das Volk vielleicht andie Tabaksteuer; aber wie viele Existenzen durch diese Steuererst vernichtet würden, sei gar nicht umfassend genug zu wür-digen. Ebenso würde der Schmuggelhandel furchtbar zunehmenund eine ungeahnte Vermehrung der Mauthbeamten im Gefolgehaben.„Die Pfeife des armen Mannes" leide entschiedendarunter, denn weniger die Cigarre als der Rauchtabak, den derArme rauche, werde schlechter werden. Die Vorlage sei auchunannehmbar, weil sich keineswegs der Tabak am besten zurBesteuerung eigne. Selbst Havanna-Tabake variiren zwischen1.50 Mark und 4—5 Thaler Gold, eine Qualitätssteuer kannalso erst nach Erprobung der Güte erfolgen, d. h. sie ist so gutwie unmöglich. Die heutige Steuer fühle der Arme nicht son-deAich; aber wenn man das Ausland in den Stand setzt, inBezug ans Tabak mit Deutschland zu concurriren, so ruinireman zahlreiche kleinere Existenzen. Das schnne sogar Absichtgewesen zu sein, um später bei Einführung des Monopols nichtso viele Existenzen entschädigen zu müssen. Das Monopol alseine sozialistische Forderung anzusehen, sei Unfinn, die sozialistischePartei wolle neben der Produktion auch die Distribution geregelwissen, indem sie jeden Arbeiter auch zum Unternehmer gemachtsehen wolle. Als einzelner Arbeiter, als Egoist könne mannatürlich für das Monopol sein, denn es würde die gesundheits-gefährliche Tabaks-Hausindustrie vernichten; aber im Interessedes Gesammtwohls habe man das persönliche Interesse unter-zuordnen. Er wünsche, daß die Vorlage so schnell wie möglichbegraben werde.— Nach der Rede unseres Parteigenossen sprachnoch der bekannte Bim-Bam-Bamberger, und die Steuervorlagenwurden in die Budget- Commission verwiesen, aus welcher siehoffentlich das Licht der Welt nicht mehr erblicken werden.— In der Reichstagssitzung vom 25. Februar trat manin die Berathung desjenigen Theils des Etats ein, welcher nichtan die Budgetcommission verwiesen worden ist.— Zu dem Marineetat sprach Temmler den Wunsch aus, die Reichsregr-rungmöge in Erwägung ziehen, ob es nicht möglich sei, eine inter-nationale Vereinigung herbeizuführen, durch welche die Anwen-dung von Torpedos wegen ihrer den civilisirteren Anschauungender modernen Kriegführung widersprechenden Wirkung verbotenwerde.— In der vorigen Session des Reichstags wurden demBotschafter zu Petersburg 30,000 Mark Zuschuß bewilligt, demBotschafter in London aber verweigert. Dieser Fehler wurdenun wieder gut gemacht, indem man auch dem Londoner Bot-jchafter eine Zulage von 30,000 Mark zukommen ließ. FürstBismarck begründete diese Erhöhung in höchst eigenthümlicherWeise, indem er auf die großen Ausgaben der Botschafter hin-wies. Er habe gelesen, daß ein englischer Banquier Hape kürzlich eine Soiree gegeben, bei der die Konditorrechnung allein8000 Thlr. betragen habe. Solcher Luxus komme natürlich beiden Botschaftern nicht vor; aber die Vertretung einer so großenMacht, wie die des deutschen Reichs, koste allerdings an einemtheuren Orte viel Geld. Das„deutsche Reich" braucht„vielDie zur Untersuchung der Lage der Landwirthschaft eingesetzteCommission, unter dem Vorsitze des Ministers Walujew, fand,daß die Lage des russischen Bauern schlecht, aber nicht hoffnungs-los sei. Aber wir können getrost sagen, daß diese aus 181 Mannzusammengesetzte Commission bei der Enquete gewissenlos zuWerke gegangen ist. Denn unter den 181 Mitgliedern befandsich nur ein Bauer-Eigenthümer. Die übrigen 180 Mannwaren durchaus Großgrundbesitzer und russische Gouverneurs.Diese„unparteiische" Commission kam zu dem Schlüsse, daß diejammervolle Lage des russischen Bauern nur allein seiner Faulheit und Trunksucht zuzuschreiben sei. Dennoch ergab die Unter-suchung mißliche und trostlose Resultate. Die Commission fandden„Stand" der Bauern in nur sehr wenigen Orten gut. ImGroßen und Ganzen aber sind Hauswesen und Wirthschaft derBauern seit der„berühmten" Emanzipation zurückgegangen undhaben sich verschlechtert, am meisten aber in den centralen undstockrusfischen Gouvernements.So ungefähr war die Lage der ackerbauenden Bevölkerungim Jahre 1872 nach den Untersuchungen der„gewissenhaften"Commission. Aber seitdem hatte das landlose Bauernthum sehrviel zu leiden gehabt. Zunächst kam die sogenannte Samarische Hungersnvth, so genannt, weil das Elend am fürch-tcrlichsten im Samarer Gouvernement aufgetreten war, obwohlauch zu dieser Zeit der ganze Norden, Westen und Süden sichin nicht viel besserer Lage befanden.Es ist nicht zu verwundern, daß die Lauern bei den periodischen Hungersnöthen ganz ruinirt werden, und daß Armuthund Steuerrücknände mit jedem Jahre stark zunehmen. DieKtagen des Volkes werden allgemein und überall werden Auf-rufe zur dringenden Abhilfe gegen Hunger und Krankheiten ver-breitet. Sogar unser Ministerium, bei dem sich„Alles in besterOrdnung" befindet, sah sich veranlaßt, zu erklären, daß die öko-nomische Lage der russischen Bauern hoffnungslos sei. Auch diePresse gab die prekäre Lage der Landwirthschaft zu und fastaus allen Ecken und Enden Rußlands hörte man 1876 die trau-rigsten Nackrichten über den Ruin der Landwirthschaft. Selbst-verständlich handelte es sich bei der Presse, die ja durchweg ka-pitalistisch gesonnen ist. mehr um die unglückliche Lage der großenund kleinen Gutsbesitzer, als um die der Bauern. Ganz konnteman freilich die Bauern nicht ignoriren; so schrieb man z. B. �aus dem Chersoner Gouvernement, daß die dortigen Bauernweder Brennmaterial für ihre Wohnungen, noch Futter für dasausgehungerte und abgemagerte Vieh, noch Brod für ihre Fa-milien hätten und daß sie vier Monate lang nur von einge-säuerten rothen Rüben und Sauerkraut hätten leben müssen.Diese Thatsache mußte sogar offiziell zugestanden werden. Unddoch ist das Chersoner Gouvernement eines der fruchtbarsten inGeld", viel Geld für Militär und Diplomatie, nach außen Flittergold, während im Innern Roth und Elend wüthen; das„deutscheReich" gleicht einem Frauenzimmer, welches in Sammt undSeide geht und ein zerrissenes Hemd auf dem Leibe trägt.—Wir haben es herrlich weit gebracht!— Dem Reichstage liegt gegenwärtig eine Uebersicht derErgebnisse des Heeresersatzgeschäfts vom Jahre 1876 vor. Eswaren darnach in dem genannten Jahre gestellungspflichtig1,055,088 Mann. Von dieser Gesammtiumme wurden als uner-mittelt in den Restantenlisten geführt 34,192 Mann, und ohneEntschuldigung waren ausgeblieben 106,105 Mann. Weitereswollen wir aus den Ergebnissen nicht herausgreifen, uns interes-sirt nur die eine Thatsache, daß fast der siebente Theil der Ge-stellungspflichtigen es vorgezogen hatte, nicht zu erscheinen, wasdie weitere Thatsache aufdeckt, daß im deutschen Volke eine be-sondere Freudigkeit zur Erlernung des Kriegshandwerks nichtvorhanden ist.— Zur Neutralität des deutschen Reichs. AusPlochingen in Württemberg wird mitgetheilt, daß am 20. Fe-bruar die dortige Bahnstreck: ein Zug von 28 Wagen mitPulv er beladen passirt sei. Dasselbe war in Rottweil aufgeladenund für Rußland bestimmt. Preußische Artilleristen begleitetenden Zug.— Die Post- und Telegraphenunterbeamten habenjährlich eine Petition an den deutschen Reichstag gesandt. Auchdieses Jahr liegt demselben eine Massenpetition vor, welcheelf Forderungen aufstellt. Gewährung eines auskömmlichen Ge-Haltes; Verbesserung der Pensionsverhältnisse; schnelleres Ein-rücken in die höheren Gehaltsstufen und gesetzliche Regelungdesselben; gesetzlich geregeltes Verfahren bei Bestimmung desDienstalters; etatsmäßige Besetzung aller im Etat ausgeworfenenStellen; Veröffentlichung einer Rangliste; gesetzliche Festsetzungder Arbeitszeit auf täglich acht Stunden; Gewährung des ver-heißenen alljährlichen Erholungsurlaubes; Wegfall der Weih-nachtsgratifikationen; Aufhebung des Brauches, daß die Beamtensich bei Streitigkeiten über ihre Rechte bei der Entscheidung desGeneralpostmeisters begnügen müssen; Erlaß eines Reichsgesetzesüber die Unterstützung der Hinterbliebenen von Post- und Tele-graphenbeamten.— Diese Forderungen find, wie man auf denersten Blick sieht, sämmtlich vollständig gerechtfertigt. Für dasherrliche deutsche Reich aber ist es eine Schande, daß derlei Pe-titionen eingereicht werden müssen.— Woher die Verrohung kommt. Wer erinnert sichnicht jenes Raubmörders, der vor einiger Zeit in Gießen zumTode verurtheilt wurde, und gar nicht begreisen konnte, daß eretwas Strafbares begangen, denn im heiligen Krieg von 1870. 71habe er ja das eiserne Kreuz dafür erhalten, daß er viele Men-schen um's Leben gebracht— und jetzt wolle man ihm den Kopfabschlagen, weil er blos einen Menschen getödtet— das versteheer nicht. Und es ist auch bekannt, daß der Staatsanwaltvcn Lyck die Verrohung des Volks in Folge der Kriege direktals Ursache der Zunahme der Verbrechen bezeichnet hat.Aehnlich wie dieser Staatsanwalt argumentirte am 19. d. vordem Schwurgericht zu Kiel der Vertheidiger eines Ange-klagten, Rechtsanwalt Rendtorf. Derselbe erklärte, sein Client,der wegen Raubs vor Gericht stand,„sei als Soldat, der denKrieg von 1870/71 mitgemacht, zur Rohheit geneigt. Es sei jaeine feststehende Thatsache, daß nach jedem Krieg die Roh-heit zunehme und die Verbrechen sich mehrten. Mankönne aber den Einzelnen nicht für Verbrechen ver-antwortlich machen, an denen die Gesammtheit schuldsei; er bitte also, bei Beurtheilung derJEHat seines Clientendies in die Wagschale zu legen." Der Staatsanwalt tratdieser Argumentation bei. Ob auch die Geschwornen—das wird uns nicht gesagt. Jedenfalls nehmen wir Akt vondiesen Eingeständnissen. Die Wahrheit bohrt sich eben doch all-mählig durch.— Die„moderne Völkerwanderung der Arbeits-losen" hat die württembergische Regierung nach einer Mitthei-Südrußland, wo auf einen jeden Einwohner 5 Dessjatinen(mehrals 21 Morgen sehr guten Landes kommen,— und doch hungerndie Bauern!Im angrenzenden Gouvernement Ekaterinoslaw sieht es nichtbesser aus. Die Bauern waren gezwungen, Stroh und Heu zustehlen, denn, sagten sie, in der Roth„muß man theilen". Daswar am Anfang des Jahres 1876. Ende desselben schrieb eindortiger Correspondent:„Die Lage ist verzweifelt; in den mei-sten Bezirken unseres Gouvernements steht beinahe eine Hungers-noth bevor."— Aus Kertsch wurde berichtet, daß eine solchschlechte C: te, wie die von 1876, seit 1836 nicht vorgekom-men sei.Sehr viele Correspondenzen über die schlechte Lage der Bauernliefen aus dem Gouvernement Tambow ein. Erst schrieb man,die Bauern seien gezwungen, zu zwei bis drei Familien in einerBauernhütte zu wohnen, und daß die verlassenen Häuschen vonihren Eigenthümern zerstört würden, um das Holz als Brenn-Material benützen zu können; das Stroh von den Dächern dienteals Futter für das Bich. Und so war es das ganze Jahr hin-durch. Als der Frühling kam, war kein Samen für die Aussaatvorhanden, denn Dank der fürsorglichen Landesverwaltung ver-faulten in den Gemeinde- Borrathslazern mehr als 100,000Tschetwert(fast 4 Millionen schefffl) Korn. Im Sommer von1876 veröffentlichte ein Regierungsblatt, daß„die Aussaaten inden meisten Theilen des Tambower Gouvernements verfaultwären". Und das mußte man hören aus einem Gouvernement,welches der„Kornspeicher Rußlands" genannt wird.Ja derselben verzweiflungsvollen Lage befindet sich der andere„Kornspeicher Rußlands", das Gouvernement Podolien, daSehemals Frankreich mit Korn und Weizen versorgte. Zu An-fang des Jahres 1876 wurde aus diesem Gouvernement be-richtet:„Der Landbevölkerung steht ein schweres ökonomischesJahr bevor und es sst kaum zu hoffen, daß sie ihre äußerstruinirte Wirthschaft herzustellen vermöge." Ein anderer Cor-respondent schrieb:„Die Bauern hungern, das Brod reicht nurbis Weihnachten; die reichen Bauern(Kulaki) handeln mit denhungernden kleinen Bauern, wie mit Sklaven."Man kann sich leicht vorstellen, wie es in den anderen Gou-vernements, die von Natur aus nicht so reich wie Podolien,Tambow, Cherson sind, aussieht. So wurde aus einem Bezirkdes Gouvernements Orlow berichtet:„Die Bauern verlassen denBezirk haufenwsise und gehen nach den Städten, um Holz zuspalten oder die Gassen zu reinigen u. f. w., welche Arbeitmit nur 6— 10 Kopeken(18-30 Pf.) per Tag undohne Kost bezahlt wird.(!!)„Die Wolyner Bauern sindmehr Bettlern denn Landeigenthümern ähnlich." Die„wohl-habenden" Kiewer Bauern sind nicht im Stande, bei einer