f Die Verfälschung der Lebensmittel vor dem Reichstage. Von H. Bogel. (Fortsetzung.) Allen ging der Gesetzentwurf zu weit, Alle fürchteten, daß durch denselben für die Industrie unnöthige Beschränkungen ge- schaffen würden. Besonders thaten sich hierbei als eifrige Ber- theidiger der Lebensmittelverfälscher die Orr. Braun und Mendel hervor, deren unglücklichen Witzeleien hier jedoch nicht die Ehre, wiederholt zu werden, angethan«erden soll. Den Sozialdemo- traten, welche sich bei diesem Gegenstand zum Wort gemeldet hatten, wurde dasselbe durch Herrn Valentin abgeschnitten. Schließlich wurde der Entwurf einer Commission von 21 Mit- gliedern zur weiteren Vorberathung überwiesen. Desgleichen 24 Stück gegen den Gesetzentwurf eingelaufene Petitionen von Fabrikanten, Kaufleuten zc. Diese Commission hat nach mehreren Sitzungen ihre Be- rathungen zu Ende geführt und darüber einen gedruckten Bericht erstattet. Sie schlägt darin eine Reihe sehr wesentlicher Ab- änderungen des Gesetzentwurfes vor. Diese Abänderungsvorschläge, welche auch den im Plenum vorgebrachten Bedenken Ausdruck geben, find zu charakteristisch, als daß wir dieselben nicht ein- gehender erörtern sollten. § 2 des ursprünglichen Entwurfes giebt den Beamten der Gesundheitspolizei die Befugniß, außer in die Räumlichkeiten, in welchen Gegenstände der bezeichneten Art feil gehalten werden, auch in die zur Aufbewahrung solcher zum Berkauf bestimmter Gegenstände dienenden Räume während der üblichen Geschäfts- stunden einzutreten und dieselben einer Revision zu unter- werfen. Diese Bestimmungen hat nun die Commission in der Weise beschränkt, daß die Beamten nur bei solchen Personen, welche bereits auf Grund dieses Gesetzes zu einer Frei- heitsstrafe verurtheilt sind, befugt sein sollen, in den Räumlichkeiten, in welchen Gegenstände der genannten Art feik Sehalten werden oder die zur Aufbewahrung solcher zum Verkauf estimmter Gegenstände dienen, während der üblichen Geschäfts- seit Revisionen vorzunehmen; bei anderen Personen sollen ,ie nicht befugt sein, in die Aufbewahrungsräume der Waaren einzutreten und Revisionen vorzunehmen. Man sieht hier gleich, was aus dem Gesetzentwurf gemacht wer- den soll! Was brachte man zur Begründung dieser Aenderung vor? Es gehe weit über das Nothwendize hinaus, wenn den Beamten der Gesundheitspolizei die Befugniß eingeräumt werde, auch in die Räumlichkeiten einzutreten, welche zur Aufbewahrung von zum Verkauf bestimmten Nahrungsmitteln:c. dienen und dieselben einer Revision zu unterwerfen. Man stelle durch diese Bestimmung viele Gewerbe-c. unter eine stete polizeiliche Auf- ficht, und man verursache dem Handel und Verkehr dadurch eine Störung, welche den damit zu erreichenden Erfolg weit über- wiegen.(Daß Handel- und Gewerbetreibende sich solche Revi- fionen wegen wert unwesentlicheren Dingen gefallen lassen müssen, . B. wegen Recherchen nach alten Maßen und Gewichten, und �aß der Handel darunter nicht leidet, daran dachte Niemand.) Ueberhaupt sei zur Ertheilung so weit gehender Befugnisse an die Beamten der Gesundheitspolizei kein dringendes Äedürfniß vorhanden.(Da werden die Herren Fälscher gewiß nicht wider- sprechen!) Man muß zwar zugeben, daß durch die bean- tragte Beschränkung der Befugnisse der Polizeibehörden der Zweck des Gesetzes leicht zu vereiteln sein werde, weil es dann den Gewerbetreibenden rc. möglich sei, einen nach dem Gesetz der Verfolgung ausgesetzten Gegenstand dadurch der Eon- trolle zu entziehen, daß er ihn nicht im Laden, sondern in einer dem Publikum nicht geöffneten Räumlichkeit aufbewahre und da- von nur immer gerade soviel in den Laden herbeiholen könne, als von dem Kauflustigen begehrt werde; aber das rechtfertige die angefochtenen Bestimmungen doch keineswegs. Auch mache eine solche Umgehung des Gesetzes den Gewerbetreibenden zu große Unbequemlichkeiten, und die Polizei sei zu umsichtig, als daß ihr Derartiges entgehen würde. Das Betreten anderer Räume belästige den Berkehr zu sehr und stände den An- schauungen und Gewohnheiten der Bevölkerung ent- gegen; die Entnahmen von Proben im Verkaufslokal seitens der Polizeibehörden sei genügend für den Zweck des Gesetzes. Zwar wurde diesen Ausführungen mit Recht entgegen ge- halten, daß der Zweck des Gesetzes wesentlich der sei, eine vor- beugende Controlle zu üben und daß dieser durch die vorge- schlagenen Aenderungen gefährdet werde, daß die Beaufsichtigung des Verkehrs mit Nahrungs- und Genußmitteln seitens der Ge- sundheitspolizei unerläßlich sei, wenn man dem Unwesen, welches namentlich die Ernährung der ärmeren Klassen beeinträchtige und die Gesundheit Aller andauernd gefährde, mit einiger Aussicht auf Erfolg vorbeugen wolle. Zwar wurde darauf hingewiesen, daß wenn man die Befugniß rung des allgemeinen Wahlrechts, sondern Ausdehnung der Beamten der Gesundheitspolizei auf das Betreten der dem desselben auf die Landtage und Gemeinden; keine Be- Publikum zugänglichen Verkaufsräumlichkeiten beschränke, und schränkung der politischen Freiheiten, sondern Ausbau derselben auf die Entnahme von Proben der dort feil gehaltenen Gegen- nach den Prinzipien der Gerechtigkeit." stände vezichte, man den Fabrikanten und Grossisten geradezu Das sind allerdings einfache Sätze; aber von einem sozial- einen Freibrief zu Ungunsten der Kleinhändler gebe, demokratischen Wahlcomite unterzeichnet zeigen sie jedem Unbe- daß aber die meisten Verfälschungen nicht von den Kleinhändlern, fangenen auch ein völlig sozialdemokratisches Geficht. sondern schon von den Fabrikanten und Grossisten vorgenommen Der„Volkszeitung" hätte es wohl gefallen, wenn das Wahl- würden. Durch die vorgeschlagene Aenderung werde es aber fast flugblatt derart abgefaßt gewesen, daß es von der löblichen unmöglich, die Fabrikanten und Grossisten mit Erfolg vor den Polizei consiszirt worden wäre. Doch den Gefallen thut man Strafrichter zu bringen. Auch würden reelle Gewerbe und der Fortschrittspartei nicht, die, wenn sie uns gegenübersteht, auch reeller Handel durch die Bestimmungen des Entwurfs nicht leiden, zugleich die Partei der Polizeibeamten ist, für welche man hoch- denn dadurch würde den inländischen Erzeugnissen eine größere obrigkeitlichst eintritt. Garantie ihrer Reellität gegeben. Unser hiesiges Parteiorgan, die„Berliner Freie Presse", Endlich gebe die Gesetzgebung von England wie die der empfiehlt und mit vollem Rechte den Berliner Parteigenossen, Tantone Zürich und St. Gallen der Gesundsheitsbehörde bereits daß sie von den Wirthen, wo sie verkehren, sowie von den die Befugniß zu periodischen Untersuchungen der Lebensmittel Krämern, von denen sie kaufen, verlangen sollen, die„Berliner mit Bezug aus Bereitung und Verkauf,„sowie der hierzu be- Freie Presse" zu halten. Dazu fordert unser Organ mit fol- nutzten Lokale", und es sei nicht bekannt, daß die Behörden von genden bezeichnenden Worten auf:„Wenn die Arbeitgeber jetzt dieser Befugniß einen unangemessenen Gebrauch machen. den Arbeitern vorschreiben, welche Zeitung sie nicht halten sollen, Aber alle diese schwer wiegenden und gerechten Bedenken dann steht auch den Einkäufern das Recht zu, den Verkäufern hinderten nicht, daß die überwiegende Majorität der Commission vorzuschreiben, welche Zeitung sie halten sollen!" die vorgeschlagene Aenderung annahm. Dem Hinweis auf die Der Inhaber des hiesigen Arbeiterbildungsinstituts, englische und schweizerische Gesetzgebung hielt man einfach ent- Genosse W. Körner, der vor mehreren Tagen aus der Unter- gegen, daß dort auch die Qualität und Orgauisation der Gesund- suchungshaft wieder entlassen werden mußte, hat das Lese- heitsbehörden eine bessere sei, als bei uns.(Wie sehr sich kabinet dieses Instituts wieder eröffnet. Derselbe hat den Be- übrigens die preußische Regierung diese Beschämung durch die sitzer des„Tageblattes", Rudolph Mosse, wegen verleumde- kleinen Schweizer Cantone zu Herzen nimmt, zeigt sie dadurch, rischer Beleidigung verklagt, da dieser ausgesprengt hatte, daß daß jetzt wieder in Berlin circa 250 neue Schutzleute für den unser Genosse wegen Meineid und unzüchttger Handlungen an- Criminaldienst, namentlich den geheimen, eingestellt worden find, geklagt sei. Ursache der Untersuchungshaft ist lediglich die An- Von einer Vermehrung und Hebung der Gesundheitspolizei hört klage wegen„geheimer Verbindung" gewesen. Es soll mich man dagegen nichts.) wundern, ob Herr Mosse bei der Schwere der Beleidigung zu So wurde aus einer die Wirksamkeit des Gesetzes wesentlich Gefüngnißstrafe verurtheilt wird, mit der man doch beim hie- bedingenden Bestimmung eine schützende Clausel für die Fälscher sigen Stadtgericht gegenwärtig gegen die Sozialdemokraten so gemacht. (Schluß f.) z sehr freigebig ist. —- Noch will ich Ihnen mittheilen, daß unser Wahlcomite auf Anä SWkftt! das Gesuch, eine Abschrift der Wahllisten zu erhalten, vom «omi». Magistrat abschläglich beschieden worden ist, weil bei der Kürze —-- 7. Zulu der Zeit das Wahlbureau nicht im Stande sei, Abschriften der „Neue Besen kehren gut"— so wird man Hierselbst denken. Wählerlisten zu liefern. Dieselbe Antwort hat schon oder wird Es haben nämlich der stellvertretende Polizeipräsident, Wirklicher das Wahlcomite der Fortschrittspartei erhalten, doch Geheimer Oberregierungsrath v. Hertzberg, und der Gouver- glaube ich, daß es demselben gelingt, trotz der Kürze neur v. Boyen ihren Abschied eingereicht. Von beiden Herren der Zeit die Abschrift der Wahllisten zu erhalten, da sagt man aus, daß sie nicht gern in ihren Amtsfunktionen an der Magistrat das beabsichtigte Gesuch des Wahlcomites, die die Grenze des„Möglichen", sondern nur an die Grenze des Wahllisten durch fortschrittliche Vertrauensmänner selbst ab- „Erlaubten" gingen. Die Nachfolger, deren Namen allerdings schreiben zu lassen*), kaum abschlagen dürste. noch nicht genannt sind, werden sich hier in dem bevorstehenden Herr Stadtrath Zelle, der Gegencandidat des Genossen Wahlkampfe die Worte des Ministers des Innern, Grafen Fritzsche hat eine Wahlrede gehalten, die sich besonders gegen Eulenburg IL, wohl besser zu Herzen nehmen.___ unsere Partei wandte. Er sagte, daß dieselbe ebenso wie die der Doktor Schulze-Delitzsch hat sich in einem Schreiben an seine Wähler in Wiesbaden als den von der Sozialdemokratie bestgehaßtesten Mann in Deutschland hingestellt und als echter Fortschrittler erklärt, daß man etwaige Vorlagen der Regie- rung, um das Unzureichende in der Gesetzgebung gegen die„wüste Agitation" der Sozialdemokratie zu ersetzen, einer reiflichen Erwägung unterziehen müsse. Sind dem„demokratischen" Schulze denn die heutigen Polizeimaßregeln, die Vereins- und Ver- sammlungsgesetze, find ihm die Strafgesetze noch nicht strenge genug?— Doch weshalb den alten Mann noch ernst nehmen? Ich theile Ihnen den Schulze'fchen Ausspruch auch nur deshalb mit, um Ihnen zu zeigen, wie sich die projektirten Ausnahme- gesetze in dem Kopfe eines fortschrittlichen Durchschnittsphilisters widerspiegeln. Die hiesige„Bolkszeitung", die in letzter Zeit eine aner- kennenswerthe Haltung angenommen hatte, fällt zuweilen in ihren alten Fehler der Verleumdung und Begeiferung zurück. So denunzirt sie die Sozialdemokratie in Bezug auf das erste von unserer Partei hier herausgegebene Wahlflugblatt, daß dasselbe nur halbe Wahrheit enthalte, daß die Sozialdemokratie noch ganz andere Pläne habe, daß sie die Lüge und Heuchelei predige(in Bezug auf die rohen fortschrittlichen Bedrohungen der Arbeitsentlassung!)— und daraus folgert das weise Blatt, daß man einen Fortschrittler wählen müsse. Ein Fortfchrittler, der sich über Heuchelei und Lüge beschwert— ein komischer Kauz. Uebrigens will ich Ihnen den von der„Volkszeitung" angegeiferten Satz aus dem hiesigen Wahlflugblatt unserer Partei mittheilen, den das fortschrittliche Blatt natürlich nicht ab- druckt. Derselbe lautet: „Keine Ausnahmegesetze; keine Vermehrung der Steuerlasten, sondern Minderung derselben; kein Monopol, wohl aber Hebung und Schutz der Industrie und Verbesserung des Loofes der werkthätigen Klasse; keine Erneuerung des Militär- septennats, sondern Wahrung des Budgetrechtes des Reichstags und Minderung der Militärlasten überhaupt; keine Verkümme- Klerikalen und Agrarier gar keine Partei sei, daß ferner die Sozialdemokraten in drei Abtheilungen zu bringen seien, 1) in Hetzer(„Führer"), 2) in Verführte, 3) in Hödels. Nach dem Berichte der„Volkszeitung" schlägt der geistvolle Redner vor, der ersten Kategorie seine Belehrungen(für die„Hetzer" Belehrungen!) und Strenge der Handhabung der Vereins- und Preßgesetze zu widmen; der zweiten(den„Verführten"!) müsse man mit dem Arbeitshause und den Strafgesetzen zu Leibe gehen, und der dritten Kategorie(den Hödels) müsse man den Haß mit Liebe vergelten und sie in materieller und geistiger Beziehung emporziehen. Wir gratuliren diesem fortschrittlichen Canvidaten zu feiner Hödelliebe.— Daß auch vor dem liberalen Stadtrath die christlich- sozialen„Hetzer" keine Gnade fanden, ist natürlich. Zelle aber wird am 30. Juli keine Gnade finden vor den Augen der Mehrzahl der Wähler im 4. Berliner Wahlkreis. Bis jetzt kann man über den Ausfall der Wahlen nichts sagen. Die Unterdrückung der Arbeiter ist ungemein groß, aber ihre Begeisterung noch größer! Wahrscheinlich fallen die Wahlen ähnlich aus, wie im Januar 1877. Der vierte und sechste Wahl- kreis für uns, der fünfte für die Fortschrittler; im 3. engere Wahl zwischen Sozialdemokratie und Fortschritt, im 1. und 2. engere Wahlen zwischen Fortschritt und Conservativ-„Liberalen ". Dabei kann der 1. Wahlkreis sehr leicht den Fortschrittlern ver- loren gehen. Sozialpolitische Ueberficht. — Eine sehr wichtige Entscheidung für die Arbeiter. Wir haben die Arbeiter schon im„Vorwärts" aufgefordert, sich nicht ohne Kündigung auf die Straße werfen zu lassen von *) In Nürnberg (Siehe Correspondenz) hat der Magistrat den Sozialdemokraten die Listen gleichfalls nicht zugestellt die Fort- schrittler aber haben dieselbe durch ihre Commis abschreiben lassen. D. R. d. B. Aus Heuchelland. Stille Beobachtungen eines Berliners in London . (Schluß.) Das Bild, das sich da allnächtlich darbietet, gehört entschieden mit zum Tollsten, was mir, so mancherlei ich in dieser Art auch schon aesehen, bisher vorgekommen. Nackt für Nacht finden sich hier, im Centrum und einem der vornehmsten Theile der Metropole des frommen Heuchellands, aus offener Straße, unter freiem Himmel und unter Beisein und Assistenz der wohllöblichen Polizei. Schaaren von cea dames" und jungen und- alten Mannern der guten Gesellschaft zu- lammen, um— Liebesbörse zu halten.....�„ fi Liebesbörse?— Nun 1°, was ist groß dabei? LllLll— die große Welthandelsstadt hat ihre Effektenbörse ihre Getteide- dörse ibre Fischbörse, warum soll sie nicht auch ihre Liebesborse haben? Wie man dort egyptische Anleihe russischen Weizen, holländische Heringe kauft, so kauft wan hier eben �,e�- Nichts einfacher wie das. Mr Geld ist ia einmal Alles zu haben auf dieser großen Handelsbörse, die man moderne Gefell � Nur weil man ja bekanntlich eine äußerst sittliche und fromme Gesellschaft ist, so hält man diese Börse, entgegen den anderen, bei Nacht ab. Da zählt's nicht und der liebe Gott merkt es auch nicht � im Dunkeln.,.. Was wohl unsere keuschen Josephe, die Unruh, Dunaer, k_ je. sagen würden, wenn sie ihre respektiven Tugendengel auf ihren Fittigen Plötzlich hieher brächten? Sie würden ihr keusches Antlitz rasch in ihren keuschen Mantel hüllen, sich entsetzt mr Flucht wenden und schaudernd ausrufen:„So ist denn in diesem Lande— o Graus!— bereits der sittenlose ,Commu- nistenstaat errichtet?". Ich kann aber auf's Bestimmteste versichern, daß in der großen Themsestadt die Commune bis dato noch nicht proklamirt ist sondern daselbst die bürgerliche Gesellschaft im vollsten Glänze ihrer Sittlichkeit noch fortbesteht. Freie Liebe! So nennen sie eS ia wohl, was sie uns wilden z Umstürzlern vorwerfen. Und das hier? Wäre es„freie Liebe "- Es ist aber zehntausendmal Schlimmeres: Gezwungene Liebe. Heute war der Markt gerade recht stark besucht. Schon von weitem hörte und sah man die rohen Späße und Zoten der jungen und alten„canaille dorde- und das Lachen der Mädchen, jenes hölzerne, gezwungene Lachen, zu dem sich das ftöhliche Lachen der Mädchenunschuld verhält, wie eine sonnige, heitere Landschaft zu der gemalten Landschaft eines Wirthshaus- schildes. Ich blieb mitten in dem Gewühle stehen. Nicht als ob ich etwa— oh nein! So was müssen Sie von mir nicht glauben, geehrter Herr Redatteur! Es war rein nur vom sozial-politisch- ökonomisch-ethisch-moralisch- praktisch-philosophisch-psychologischen Standpunkt aus, daß ich tugendstrenger Republikaner an dieser Stätte des üppigsten Lasters und der bourgeo-aafigen Sitten- fäulniß verweilte. Em tolles Treiben! Die Mädchen in ihren eleganten Toi- letten mit dem stereotypen, eingefrorenen Lächeln auf den Lippen, das sich immer wie ein mühsam unterdrücktes Weinen ausnimmt und uns Alle anzuklagen scheint. Und wahrhaftig— sie haben zu weinen, sie haben zu klagen. Wer— und sei es auch der ärmste Proletarier— kann sagen, er habe schwerere, wuchtigere Anklagen gegen die bestehende Gesellschaft vorzubringen, als diese armen„Verlorenen"? Jener verkauft doch immer nur die Kraft seiner Arme, sie aber müssen— täglich, stundlich von Neuem— sich selbst, ihr eigenstes Ich, ihren Leib, ihre Menschen- würde, das Beste, was das Weib hat, die Frauenehre verkaufen — das ist schrecklich. O gewiß— ihnen gebührt die Palme im Wettbewerb des Elends. Das Philisterthum erzählt sich mit sittlichem Gruseln von den„Petroleusen", die in jenem weltgeschichtlichen Frühling, als drüben im schönen Paris die junge Gesellschaft einen heroischen, aber hoffnungslosen und deshalb wohl besser unterbliebenen Kampf gegen die übermächtige alte aufnahm— so wild und todestrotzig in den Reihen der„Mordbrenner" mitfochten. Junge Mädchen sah man, so wird berichtet,„Dirnen" in Männertracht, die Büchse in den pulvergeschwärzten kleinen Händen, in den vordersten Reihen stehend, im heißesten Schlacht- gewühl, in der größten Gefahr, die Streiter zum Kampfe an- feuernd, die unerschrockensten Männer an Heldenmuth und Todes- Verachtung beschämend. Und doch nichts begreiflicher als das. Wer hatte so Vieles so unaussprechlich Vieles zu vertheidigen, als diese Armen? Die Commune hatte ihnen ihre entsetzlichen Kerker geöffnet—„Die Prostitution ist abgeschafft." Sie wußten, die Rückkehr der „moralischen Ordnung" bedeutete für sie die Rückkehr in die alte entsetzliche Sklaverei. Wer konnte sie auch besser kennen, die Moral dieser„moralischen Ordnung", wer mußte diese tiefer, tödtlicher hassen? Und als der schöne Traum von Freiheit und wiedererstritte- ner Frauenwürde zusammenbrach und die„moralische Ordnung" — trotz alledem— zähnefletschend triumphirte,— da fand man auf den Barrikaden, m den Straßen gar manche schöne Mädchen- leiche, die klaffende Todeswunde auf der entblößten Brust. Bor sich die feindlichen Geschosse, hinter sich die alten, martervollen Kerker, hatten sie jene gewählt. Wie ich nun so auf meinem sozial-politisch-ökonomisch- u. s. w. u. s. w. Standpunkt dastehe, fällt mir in dem Gewühle, nicht weit von mir, ein sehr, sehr hübsches junges Mädchen auf, von jener sanften, rührenden Anmuth, wie man sie in dieser Art eben nur bei Albions goldhaarigen Töchtern findet. Sießkonnte noch nicht lange beim„Handwerk" sein, denn sie war jung, furchtbar zung, und ihr Gesicht, ihr ganzes Wesen zeigte noch nicht jenes gewisse Etwas, jenen Stempel der Ent- Würdigung, den das Gewerbe all diesen Mädchen aufdrückt und sie dem Kenner unschwer verräth. Vor ihr stand ein alter abgelebter Kerl in noblem Futteral und sprach eindringlich in sie hinein. „Komm, komm, ich habe meinen Wagen hier", höre ich ihn sagen. Sie bleibt zaudernd, stumm stehen. Er flüstert ihr mit faunischer Grimasse etwas m's Ohr. Sie fährt zusammen und blickt scheu, ängstlich um sich, wie fragend. ob denn Niemand zu ihrer Hilfe da sei.
Ausgabe
3 (10.7.1878) 80
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