Wn steht England? Deutschland in der Quarantäne V. Sch., London . Ende Juni. Während des Weltkrieges wurde Deutsch­ land gehaßt jetzt wird es obendrein noch verachte t", sagte mir ein bekannter Eng­länder anfangs April, wenige Tage, nachdem ich eingetroffen war. Ein anderer äußerte:Noch vor wenigen Monaten war die Stimumng hier so, daß im Falle eines Konfliktes zwischen Deutschland und Frankreich 85 Prozent der Bevölkerung, wenn nicht sogar mehr, keinen Finger zugun­sten der Franzosen gerührt hätten. Heute. nach zwei Monaten Hitler-Regime ist das Ver­hältnis umgekehrt." Ein so radikaler und plötzlicher Stimmungs­umschwung, so wurde mir weiter versichert, sei In Großbritannien noch nicht dagewesen. Seitdem haben sich gleichgeschaltete Lon­ doner Korrespondenten wiederholt krampfhaft bemüht, Anzeichen einer gebesserten Stimmung zu entdecken. Wenn irgendwo ein englischer Yergnügungsreisender oder Amateurjournalist nach einem Aufenthalt weniger Tage in Deutschland berichtete, daß da alles in bester Ordnung sei, wurde dies prompt in aller Aus­führlichkeit dem deutschen Zeitungsleser als Beweis" oder zumindest alsSymptom" in aller Breite vorgesetzt In Wirklichkeit hat sich seit der April- Debatte im Unterhaus nicht das Geringste ge­ändert, eher zuunguirsten des Hitler-Re­gimes, nachdem auch jene Optimisten, die zu­nächst an revolutionäre Kinderkrankheiten glaubten und auf eine baldige Rückkehr zu zivilisierten R e g i e r u n g s f o r m e n hoffiten, erkennen mußten, daß Brutalität und Barbarei nicht etwa Begleiterscheinungen die­ses Systems sind, sondern zu seinem eigent­lichen Wesen gehören. Hätte, sich der Hitlerismus, wie Mussolini , auf die Unterdrückung der Arbeiterbewe­gung beschränkt, dann würde sich die Empö­rung in England auf die Labour Party und die Gewerkschaften, vielleicht auch auf einige fort­schrittliche Elemente im bürgerlichen Lager be­schränkt, im übrigen aber nach einigen Mona­ten beruhigt haben. Aber der Antisemi­tismus der Nazi-Bewegung sorgt selber da­für, daß die Gefühle des Hasses und der Ver­achtung fast des gesamten britischen Volkes von Woche zu Woche nicht nachlassen, sondern zunehmen. Daß förmliche Gewalt- und Greuel­taten begangen werden, wurde als schlimm empfunden; daß sie abgeleugnet werden, noch schlimmer, daß sogar die Juden In Deutsch­ land gezwungen werden, sich an dieser Ab- leugnungspropaganda zu beteiligen, empiand man als niederträchtig: aber widerwärtiger als alles andere ist in den Augen der Engländer derstumme Pogrom", die systematische und geradezu sadistische materielle Vernichtung und moralische Aechtung der deutschen Juden. Daraus erklärt sich, daß etwa Mitte Mai einen Augenblick gegeben hat, wo die Stimmung hierzulande bereits derartige Formen annahm, daß man In den verantwortlichen po­litischen und journalistischen Krdsen plötzlich das Gefühl hatte: Wenn es noch zwei Monate so weiter geht, dann sind wir unweigerlich in einen neuen Krieg verwickelt. An dieser stürmischen Entwicklung war übrigens nicht zuletzt der famose Herr Al­ fred Rosenberg schuld, der hier mit der naiven Einstellung gelandet war, er könnte die. Engländer davon überzeugen, daß Hitler fünf Minuten vor zwölf die Welt vor dem Bolsche­wismus gerettet habe, daß die Juden am Bol­schewismus schuld sein usw. Seine Kranznieder­legung am Cenotaph(Kriegsgefallenendenkmal) in Whitehall empfand man hier allgemein als eine Beleidigung der britischen Kriegsopfer, die für Freiheit und Recht gefallen sein; sein Ver­halten bei einem Pressempfang, wo er vor un­bequemen Fragen förmlich davonlief, trug dazu bei, die Stimmung auf den Siedepunkt zu er­hitzen, zumal zur selben Zeit Deutschland in Genf mit Wiederaufrüsten drohte und von Papen in Münster eine wahnwitzige Rede über die Schönheit des Todes autden Schlachtfeldern und über die Mutterpflicht zum Gebären von künftigen Soldaten hielt. In diesem Augenblick nahm man hier die Rcichstagsrede Hitlers mit einem förmlichen Gefühl der Erleichterung auf. Man glaubte ihm zwar kein Wort, aber man tat so, als nähme man seine Friedensbeteuerungen als ein ernsthaftes Versprechen der Besserung auf. Man war in Wirklichkeit froh, der nahenden Kriegsgefahr entgangen zu sein und die Oef- fentlichkeit zunächst etwas beruhigen zu kön­nen. Aber innerlich sind die maßgebenden Kreise alles eher denn beruhigt. Sie haben zwar mit schadenfroher Genugtuung festgestellt, daß Hitler unter dem Druck Mussolinis dem abge­änderten und jetzt nichtssagenden Wortlaut des Viermächte- Abkommens zugestimmt hat; sie erblicken darin den Beweis, daß man gegen- wörtig außenpolitisch mit den Nazis in einer Weise umspringen kann, die sich keine der früheren Reichsregierungen jemals hätte bie­ten lassen. Aber bezüglich der Zukunft ist man hier in London nach wie vor sehr besorgt. Die französische, die englische und die pol­nische Regierung tauschen regelmäßig ihre In­formationen aus Deutschland aus. Alle Politiker, die Verbindungen zum hiesigen Auswärtigen Amt unterhalten, sprechen von enormen Rüstungen, die natürlich dem militärischen Nachrichtendienst nicht unbekannt bleiben. Bestünden noch Zweifel an der tatsächlichen Stimmung Englands und der übrigen Welt gegenüber demDritten Reich ", so müßten sie durch gewisse Vorgänge in der ersten Woche der Weltwirtschaftskonferenz beseitigt worden sein. Die demonstrative Ovation, die dem österreichischen Bundes­kanzler D o 1 1 f u ß bei seinem Erscheinen am Rednerpult gespendet wurde und noch mehr bei seinen Schlußworten: Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, Wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt," war ein Symptom für die moralische und politische Quarantäne, in der sich das Hitler-Reich befindet. Diese Kundge­bung galt ausschließlich dem kleinen Manne, der Hitler in Schach hält und der ihn vor der Welt blamiert und demütigt Als genügte den Vertretern des Dritten Reiches diese Blamage nicht, haben sie sich noch das Hugenberg-Memorandum, dieses Stück aus dem Tollhaus, geleistet, dessen nachträgliche panikartige Zurückziehung die ganze Gesellschaft zum Gespött der Welt ge­macht hat. Nein: die Stimmung, die ich hier In den ersten Apriltagen vorgefunden habe, war kein Strohfeuer. Dafür sorgen die Hitler und Göring , die Hugen-und Rosenberge selber! Aus Genf davongelaufen Ley und Co. mit Sdilmpf und Sdiande hinaus. Das erste Auftreten der unter der Füh­rung eines Ley stehenden neuenVer­treter" der Arbeiter Deutschlands auf der Internationalen Arbeitskonferenz in Genf hat mit Schimpf und Schande ge­endet. Die deutsche Delegation war völ­lig isoliert, sie erhielt nicht einmal die Un­terstützung des faschistischen Italiens . Um die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Ley-Delegation nicht nach außen drin­gen zu lassen, blieb Hitler deshalb gar nichts anderes übrig, als die ganze Dele­gation zum Verlassen der Konferenz auf­zufordern. Das ist nicht nur eine weitere Nieder­lage Deutschlands auf dem internationa­len Gefechtsboden, sondern auch e i n m o- ralischer Erfolg der sozialisti­ schen Arbeiter der Welt, die un­ter der Führung von Mertens und J o u h a u x mit Energie und Geschick den Kampf gegen die nationalsozialistischen Räuber der deutschen Gewerkschaften aufgenommen hatten. Das flegelhafte Be­nehmen des Ley hatte seine Mitdelegier­ten, den Reichstagsabgeordneten S t ö h r und den Berliner Nazikommissar Engel veranlaßt, bei Hitler die sofortige öffent­liche Abberufung des Ley zu verlangen. Hitler aber, feige wie immer, wenn es sich um eine klare Entscheidung handelt, hatte statt dessen vorgezogen, die ganze Delegation zurückzuziehen. Die Isolierung der deutschen Naziver­treter wurde vollständig durch Aeußerun- gen von Ley bei einem Journalistenemp­fang. Sie sind zwar von Ley abgestritten worden. Aber da das Urteil von Dutzen­den verantwortungsbewußten und wahr­heitsliebenden Journalisten außerhalb Deutschlands mehr gilt als der heiligste Eidschwur eines notorischen Lügners, so von Ley nicht gegeben. Leys Aeußerun- gen lauten: Wir haben denen ein Mal einen Parla­mentarismus vorgegeigt, wie sie noch keinen erlebt hatten. Bei jeder neuen Abstimmung schlugen wir, der Faschist und ich, abwech­selnd einander vor. Das machte die Kerls ganz nervös. Wir haben uns köstlich amüsiert. Un­sere Uebcrlegenheit zu Zweien gegen diese stupide Majorität von 28 Ländervertre­tern war einfach ungeheuer. Das muß ener­gisch gebrandmarkt werden: Daß solche Idio­tenstaaten hier dieselben Rechte mit der gleichen Stimme haben sollen wie Deutschland und Italien . Stellen Sie sich vor: Kuba ! Uruguay ! Bolivien ! Was weiß ich, wie sie alle heißen, die Idioten von Südamerikanern! Ich glaube, der Fa­schist und ich, wir hatten mehr Millionen Be­völkerung hinter uns, als die ganze übrige Blase zusammen. Und was für eine Sorte von Menschen haben die! Gegenüber uns Kultur­völkern, Deutschen und Italienern! Und sowas soll die gleichen Rechte haben wie wir! Das ist doch Marxismus in Reinkultur, diese ver­rückte Phrase, daß alles, was Men­schenantlitz trägt, gleich sei! Das muß immer wieder gebrandmarkt werden in der Presse! Wissen Sie, wenn wir früher die kommunistische Reichstagsfraktion betrachte­ten, dann hatten wir das Gefühl, daß sie aus lauter ausgesuchten Exemplaren von Zucht­häuslern bestand. Genau so war das heute in der Arbeitergruppe. Diese Typen! Diese Ty­pen! Wenn ich nicht meine handfeste Gruppe hinter mir gehabt hätte, dann hätte mir Angst und bange werden können." Die Reichsregierung: hat zwar amtlich erklärt, sie mißbillige jede Beleidigung der Arbeitnehmer irgend eines Landes. Ley aber verlegte sich aufs Lügen. Und Hitler? Er kapitulierte vor ihm. Das Ende ist ein blamables Davonlau- war eine Möglichkeit für das Verbleiben fen unter dem Gelächter der ganzen Welt Beplin- Präger Zeitungskrieg Die Prager Regierung hat 98 reichsdeutsche Zeitungen, darunter allen im Ausland bekannten und gelesenen, die Grenze gesperrt Diese Maßnahme wird mit der Tatsache begründet, daß in Deutschland zahlreiche in der Tschecho­ slowakei erscheinende Blätter verboten sind. Nach den letzten Berliner amtlichen Berichten waren in Deutschland 254 ausländische Zei­tungen verboten. Auf der Verbotsliste sind ver­treten: Amerika mit 9, Argentinien 2, Belgien 7, Kanada 2, Dänemark 4, Danzig 3, England 5, Frankreich 31, Holland 9, Lettland 2, Litauen 1, Luxemburg 5, Oesterreich 37, Polen 24, Ru­mänien 1, Saargebiet 4, Schweden 1, die Schweiz 26, Sowjetrußland 9, Spanien 2 und die Tschechoslowakei mit 66 Zeit­schrift t e n. Gleichschaltung aller J ugend verbände Der Reichskanzler Adolf Hitler hat eine neue Dienststelle des Reiches geschaffen, die die amtliche Bezeichnung:Jugendführer des Deutschen Reiches" trägt. Zum Jugendführer des Deutschen Reiches wurde der Riechsjugend- führer der Nazis, der 26jährige Reichstagsabge­ordneter Baidur von S c h i r a c h, ernannt. Der Rcichsjugendführer steht an der Spitze aller Verbände der männlichen und weiblichen Jugend, übernimmt außerdem alle Funktionen der staatlichen und kommunalen Ausschüsse der Jugendpflege. Da- mit ist die organisatorische Selbständigkeit aller deutschen Jugendverbände mit einem Schlag beseitigt, sie haben alle einenFührer", der die pädagogische und kulturelle Arbeit der großen deutschen Jugendverbände niemals aus eigener Auffassung oder Erfahrung kennen ge­lernt hat. Die erste Tat desJugendführers des Deut­schen Reiches" bestand übrigens darin, die Geschäftsstelle des deutschnationalen, von Admiral von Trotha geführtenGroß­deutschen Bundes" zu besetzen und zu schließen, weil der Bund angeblich eine un­mittelbar gegen die Hitlerjugend gerichtete feindeselige Haltung eingenommen hat. Was kann Hitler? Dieser Tage konnte man in Chemnitz an vielen Häuserwänden folgende Aufschritt lesen: Was kann Hitler? Feste feiern, die Fahnen hochleiern und die Waren verteuern. Sofort wurde die SA. alarmiert, die die Wahr­heit unter dem Gelächter der Straßenpassanten von den Häusern wieder abkratzte. Volks verireier im Kerker Von derFreiheit" der sozialdemokra­tischen Reichstagsfraktion. Die Reichsverfassung sieht vor, daß die Mitglieder der Volksvertretungen im­mun sind. Als im Februar 1931 der Reichs­ tag die Immunität derjenigen Naziabge­ordneten aufhob, gegen die aus zwingen­den Gründen des Strafgesetzes Dutzende von Verfahren eingeleitet waren, da tob­ten die Nazis und boykottierten den Reichstag . Seit dem 5. März 1933 sind ohne Beschluß des Reichstages von der Verfolgung der kommunistischen Abge­ordneten ganz zu schweigen Dutzende sozialdemokratische Abgeordnete verhaf­tet Gegenwärtig sind folgende sozial­demokratische Abgeordnete in Haft: Dahrendorf - Hamburg , verhaftet am 16 Juni wegen Teilnahme an einer behördlich icht angemeldeten Sitzung der Hamburger Sozialdemokratie. Eggerstedt-Kiel, verhaftet seit Mitte Mai, angeblich wegen seiner Tätigkeit als Polizeipräsident in Altona , F a u s t-Bremen, verhaftet seit Anfang Mai, angeblich zu seinem eigenen Schutz in Haft genommen, Fink e-Herford, verhaftet seit März, we­gen Verbreitung von harralosen Mitteilungen an Mitglieder der sozialdemokratischen Partei, F I e i ß n e r-Dresden, verhaftet seit Anfang März, lediglich, weil er sich einen Tag jen­seits der deutschen Grenze aufgehalten hat, H a r t z s c h-Chemnitz, verhaftet Mitte Mai, Begründung unbekannt, K u h n t-Chemnitz, verhaftet Anfang März wegen seiner Tätigkeit im November 191« als Präsident der Republik Oldenburg, jedoch ist bisher kein Verfahren eingeleitet worden, Dr. Lebe r-Lübeck, verhaftet am 23. März. L. ist inzwischen zu anderthalb Jahren Gefängnis verurteilt worden, weil er sich bei einem Ueberfall von Nazis auf ihn und seinen Begleiter zur Wehr gesetzt hat, Dr. M a r u m-Karlsruhe, verhaftet seit An­fang März, ursprünglich in Schutzhaft, ist Mitte Mai mit anderen politischen Gefangenen unter den schmählichsten Umständen auf einem Karren ins Konzentrationslager geschleppt worden. M., einem der angesehensten Rechts­anwälte Badens, kann nichts anderes, als seine sachliche politische Tätigketi zur Last gelegt werden, Meie r-Baden, seit Anfang März in Schutz­haft, wird ebenfalls nur wegen seiner politi­schen Gesinnung festgehalten, Dr. Mierendorff- Darmstadt verhaftet am 13. Juni. M. wurde vor der Einlieferung in das Untersuchungsgefängnis in Darmstadt durch die Straßen der Stadt geführt P o h 1 e-Striegau, verhaftet seit Ende April, Grund unbekannt P u c h t a-Bayreuth, verhaftet seit Anfang März; hier liegt ein persönlicher Racheakt des jetzigen bayrischen Kultusministers Schemm vor, der bisher Naziführer in Bayreuth war, Reute r-Magdeburg, verhaftet seit An­fang Juni: angeblicher Grund; seine Tätigkeit als deutscher Kriegsgefangener in Rußland im Jahre 1918, Roßmann-Stuttgart am 10. Juni zu­gleich mit dem württembergischen Landtagsab. Pflüger verhaftet angeblich weil die Inhaf­tierten im Konzentrationslager Neuberg ver­langt haben, daß nicht nur die Verführten, son­dern auch die Führer inhaftiert werden. S a u p e- Leipzig, Anfang Juni verhaftet. Begründung unbekannt S c h i r m e r-Dresden, verhaftet seit An­fang Mai, Begründung unbekannt, S e g e r-Dessau, verhaftet seit Anfang März, nachdem ein Attentat der Nazis auf ihn und seine Frau mißglückt war; S. war bei den Nazis wegen seines Kampfes gegen den Mili­tarismus besonders verhaßt. Dr. Staudinger- Hamburg, verhaftet am 16. Juni. Grund wie bei Daerendorf. Lcipart, Graßmann und Oswald Schuhmann sind am 10. Juni aus der Haft entlassen worden. Aber auch Dutzende von Abgeordne­ten der Länderparlamente sind ebenso grundlos inhaftiert. Deutsches Recht l In Perleberg wurde der 8 1 i ä h r i g e Tischler Richard E h 1 e r t, der behauptet hatte, führende Deutschnationale hätten ihm gesagt, es bestünde im Auslande aus Anlaß der Juden­frage keine Hetze gegen Deutschlad, alle Be­hauptungen über die ausländische Hetze, habe sich der Reichsminister Göring aus den Fingern gesogen, zu 2 Monaten Gefängnis ver­urteilt