Abkehr toiii Redit In Deutschland vollzieht sich zur Zeit ein Prozeß, den man als eine völlige Abkehr vom Recht bezeichnen muß. Wir meinen damit nicht die Gewalttaten und Willkürakte, deren Urheber in keiner Beziehung zur Rechtspflege stehen. Nein, die Rechtspflege selber schlägt Wege ein, mit denen sie die Grundlagen jedes Rechtes, das diesen Namen verdient, preisgibt. Eine Berliner Zeitung zeigte jüngst im Bilde, wie auf dem Jüteboger Truppenübungsplatz die zum„Gemeinschaftsleben" konzentrierten Kandidaten der großen juristischen Staatsprüfung sich die Zeit vertreiben. Die immerhin in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre stehenden Referendare haben einen Galgen errichtet und— einen Paragraphen daran gehängt Ein Scherz? Vielleicht. Sicher aber ein Scherz mit tieferer Bedeutung. Der schmählich aufgehängte Paragraph symbolisiert das, was die Wortführer der nationalsozialistischen Justizpolitik, die D r. F r e i s I e r und Dr. Frank landauf, landab in Juristenversammlungen predigen: der Richter des Dritten Reichs solle nicht mehr an das Gesetz gebunden sein. Wir zitieren aus Berichten der gleichgeschalteten deutschen Presse: F r e i s 1 e r(vor der juristischen Fachschaft der Universität Berlin):„Wir wenden uns gegen eine sogenannte objektive Rechtsprechung, well sie sich in der Findung der Urteilssprüche vom Leben des Volkes entfernt und seine Lebensrichtung verkennt." Frank II(vor der juristischen Fachschaft der Universität Köln );„Nicht Kommentare sind entscheidend, sondern das elementare Rechtsgefühl." Frank II(vor dem Bund nationalsozialistischer Juristen):„Das Recht ist nicht mehr Angelegenheit der täglichen Sachlichkeit, sondern eine Sache des G I a u- b e n s und des völkischen Schicksals. Es gibt von jetzt ab eine neue Gerechtigkeit Gerecht ist die Aufrecbterhaltung der deutschen Interessen gegenüber allen Schädlingen des deutschen Volkes." Dr. Frank II ist Reichsjustizkommissar und Staatsminister, Dr. Freisler Staatssekretär im preußischen Justizministerium. Ihre Reden bezeichnen also den offiziellen Kurs der deutschen Rechtspflege. Nun klingt allerdings aus diesen Reden oft der Ton, als richte sich der Kampf in erster Linie gegen das„dem deutschen Volk aufgezwungene römische Recht"(Frank in der Berliner Rede). Aber das ist eine rein agitatorische Finte. Frank wie Freisler beziehen sich in den zitierten Reden fast ausschließlich auf die geplante Reform des Straf - rechts. Das deutsche Strafgesetzbuch aber enthält— im Gegensatz zum Zivilrecht, zum Bürgerlichen Gesetzbuch— überhaupt keine römischen Bestandteile. Es ist bisher von nationalsozialistischer Seite auch keinerlei Versuch gemacht worden, die auf das Corpus juris Justinians zurückzuführenden Vorschriften unseres Schuld- und Sachenrechtes aus dem B. G.-B. auszumerzen. Nein, die Herren reden wohl vom römischen Recht, abeT sie meinen ganz etwas anderes: sie meinen die von den römischen Juristen zuerst mit großem Scharfsinn geübte Auslegung der Gesetze mittels derLogikund des Verstandes. Von Verstand und Logik will der auf unklarem Gefühlsschwulst basierte Nationalsozialismus nichts wissen, daher die Wut über Paragraphen, Kommentare und angebliche„Buchstabenjuristerei." Nun war aber vor der nationalsozialistischen Konterrevolution gerade der beste Teil der deutschen Juristen— und zwar unter dem Einfluß der demokratisch-republikanischen Rechtsauffassung — über die starre Buchstabenauslegung der Gesetze längst hinaus. Für einen Richter def Geistesrichtung, wie sie etwa die„Justiz", das Organ des Republikani schen Richterbundes vertrat, aber auch für viele weiter rechts orientierte Juristen war es eine platte Selbstverständlichkeit, daß Gesetze nach dem Geist und den E r- fordernissen der Gegenwart auszulegen seien. Von einer scholastischen Paragraphenakrobatie früherer Zeiten war man längst zu einer soziologischen Von Justlnian. Gesetzesauslegung gelangt. Freilich, diese Gesetzesauslegung kannte eine Schranke: den eindeutigen Sinn eines Gesetzes. Der Richter war frei innerhalb des Gesetzes, auch neben dem Gesetz, wo dieses Lücken ließ,— aber gegen das Gesetz durfte er nicht entscheiden. Das aber wollen die Freisler und Frank. Sie wollen die Willkür des Richters gegenüber dem Gesetz stabilisieren. Nicht objektiv, nicht sachlich, nicht mit dem Verstände soll der Richter urteilen, sondern er soll„als Interpret des V o 1 k s w i 1 1 e n s"(Frank II) das Urteilen als eine„Sache des Glaubens", also des Sentiments betrachten. Jede Rechtswissenschaft ist ja alsdann überflüssig, weswegen Dr. Freisler auch lebhaft gegen allzu große Kenntnisse der Referendare wettert: „Es ist nicht erforderlich, eine Summe Einzel wissen anzuhäufen... In der Prüfung soll man vom Studenten nicht E i n- z e 1 w i s s e n verlangen, sondern Verständnis für das Schicksal des Volkes." Zu deutsch : stramme nationalsozialistische Gesinnung ersetzt positive Kenntnisse. Weshalb ja auch jetzt die Referendare die Vorarbeit zur großen Staatsprüfung auf dem Truppenübungsplatz zu leisten haben. Als Richter werden sie ja nicht nach den Gesetzen entscheiden, sondern— nach Frank II— aus dem„elementaren Rechtsgefühl", wozu man allerdings keinerlei Rechtsstudium braucht Welches Gesetz soll aber der Richter erfüllen? Man antwortet ihm„Das Lebensgesetz des deutschen Volkes". Wieder ein Schwulst, unter dem sich theoretisch jeder etwas anderes vorstellen könnte. Praktisch ist aber nichts anderes gemeint als das, was die Politik der herrschenden nationalsozialistischen Partei als angebliche Lebensnotwendigkeit für Deutsch land vorschreibt. Bezeichnet es die Leitung der NSDAP , z. B. als Lebensnotwendigkeit für Deutschland , Marxisten und Juden kurzerhand totzuschlagen, so hat der Richter, auch wenn es einen Mordparagraphen im Strafgesetzbuch gibt, die Mörder freizusprechen. 0 bitte, das ist keine von uns ersonnene Ueber- treibung, um einen gegnerischen Gedanken ad absurdum zu führen. Nein, dieser Gedanke ist von dem Landgerichtspräsidenten D i e t r i c h-Hechingen in der „Deutschen Juristenzeitung" gegenüber den„ängstlichen Gemütern" unter seinen Kollegen, die in solchem Falle das Gesetz anwenden wollen, in allen Oeffent- lichkeit verfochten worden. Mit diesem„Lebensrecht" des deutschen Volkes verbindet sich dann auch ein entsprechendes„staatliches Notwehrrecht", das— siehe die Fälle Scheidemann, Worch usw.— die Blutrache an den Verwandten eines wirklichen oder angeblichen Täters zuläßt. Mit dem„staatlichen Notwehrrecht" will man es begründen, daß man politische Gegner ohne Urteil in Haft nimmt, und wenn sie ins Ausland entkommen, ihnen ihr Hab und Gut raubt. Das gleiche„Notwehrrecht" läßt es angeblich zu, auf die Verbreitung von Flugblättern die— Todesstrafe zu setzen. Hier ist das wirkliche Ziel, das die Freisler und Frank anstreben; los von den Grundlagen aller zivilisierten Gesetzgebung. Zu diesem Zweck dem Richter vollendete Freiheit— zur Grausamkeit und Willkür. Frank II spricht von künftigen„Richterkönigen", die das Dritte Reich schaffen wolle, ein Wort, das er nach echter Nazi-Manier aus dem Vokabularium edler und idealistischer Rechtsreformer gestohlen hat. Die Freirechtsschule. an ihrer Spitze die jüdischen Rechtsgelehrten Fuchs und K a n t o r o w i c z, sie erstrebte einst unabhängige Richterkönige, die in Weisheit, Milde und Gerechtigkeit ihres hohen Amtes walten sollten! Was aber die Freisler und Frank II aus den Richtern machen wollen, sind Raubtierkönige, oder, genauer gesagt, die Profose einer glatten Partei- und Willkürjustiz, die ohne gesetzliche Hemmungen, jede Grausamkeit mit dem angeblichen Lebensrecht des deutschen Volkes entschuldigend, unablässig das Schwert auf die Köpfe der Opposition niedersausen lassen. Der Sadismus einiger psychopathischer Intellektueller soll auf die gesamte Justiz über- tiagen und von jeder eindämmenden Schranke befreit werden. Mit der Bindung des Richters an das Recht sollen die letzten Garantien der Rechtssicherheit, die letzten Reste eines Rechtsstaates beseitigt werden. Das ist der gegenwärtige Kurs der Rechtspolitik in Deutschland — und die deutschen Richter schweigen und kuschen, wofern sie nicht begeistert zustimmen. Wir erinnern einst daran! Die Pleite kommt näher Dauernder Rüdkgang der Steuern Nach den offiziellen Roden der neuen Machthaber geht es in Deutschland von Tag zu Tag besser. Die bisher noch nicht gefälschten amtlichen Statistiken aber zeigen das Gegenteil. Die Einnahmen des Reiches im ersten Vierteljahr des Rechnungsjahres 1933 sind mit 1617.8 Millionen Reichsmark um 7 1.2 Millionen Reichsmark niedriger als in der gleichen Zeit des Vorjahres. Von dieser Mindereinnahme entfallen 58.4 Millionen auf die Besitz- und Verkehrssteuern und nur 12.8 Millionen auf die Zölle und Verbrauchssteuern. Die Kapitalisten setzen also Ihre Steuersabotage in erhöhtem Umfang fort Da der Voranschlag für 1933 mit Mehreinnahmen von vierteljährlich 50 Millionen Mark rechnet so Ist der Fehlbetrag in Wirklichkeit mehr als 120 Millionen Reichsmark. Geringere Einnahmen— höhere Ausgaben: der Weg zur Bankrottwirtschaft ist offen. Sterbende Zeitungen Das im Ullstein-Verlag erscheinende„Tempo" hat sein Erscheinen eingestellt Auch das „Acht-Uhr-Abendblatt" Mosscs liegt im Sterben. Nach uns gewordenen zuverlässigen Informationen beträgt seine Auflage kaum noch 6000. Das„Berliner Tageblatt" ist auf eine Auflage von 28.000 herabgeglitten. Dank vom Hause Hitler ! Die deutschen Zeltungen melden kurz und schlicht: „Tarlfkflndlgungen In Obcr- Schlesien. Der Arbeltgeberverband der oberschleslschen Schwerindustrie hat das Gehaltstarifabkommen für die in der oberschleslschen Industrie beschäftigten Beamten und Angestellten gekündigt. Ab 1. Oktober dieses Jahres soll ein neuer Gehaltstarif verpflichtet werden. Durch diesen wird ein Gehaltsabbau durchgeführt" „Wird durchgeführt".— Von Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern kann natürlich keine Rede sein, denn der Klassenkampf ist ja im dritten Reich bekanntlich beendet die Unternehmer haben gesiegt. Gerade die Angestellten und Beamten der Privatindustrie zählten in der Mehrzahl seit Jahren zu Hitlers getreuesten Paladinen. Jetzt empfangen sie den Lohn: Gehaltsabbau, brutale Unterdrückung. Die Versprechungen vor dem 5. März klangen ganz anders, aber die Enttäuschten mögen sich trösten— sie sind nicht die Eirfzigen, die Hitler , dieses Mustei deutscher Aufrichtigkeit und Treue, genasführt hat. Nur die Herren vom„raffenden Kapital" sind mit ihm zufrieden. Tagt es? Heinz Riecke, Schulungsleiter im nationalsozialistischen deutschen Studentenbund, Ham burg , schreibt In einem Aufsatz über„Rasse und Kunst", der die Stimmung eines Arbeitskreises Hamburger Studenten wiedergeben will, folgendes: „Wenn wir in das Leben der Kunst den Begriff der Rasse einschalten, hemmen wir mehr als wir fördern. So große Bedeutung die Rasse in der Welt der Begriffe, der Philosophie, hat, so sollen wir uns der Grenze in der Kunst bewußt sein. Er ist in einer Zelt der schärfsten Kritik entstanden: er hat Bedeutung für die Kritik, aber nicht iür die schaffende Kunst" So zu lesen In einer gieicngescuaucicn LiteraturzeitschrifL Wenn solche Stimmen im Lager der Jugend sich mehren, werden verschiedene Rasseprofessoren— und hoffentlich noch einige andere Leute ihren Laden sehr bald schließen müssen. Monardienbilder her! Durch einen Erlaß hat der preußische Innenminister die aus den Jahren 1919 und 1920 stammenden Beschlüsse und Erlässe über die Entfernung der Kaiserbilder und monarchistischen Hoheitsabzeichen aus den staatlichen Gebäuden aulgehoben.„Solche etwa noch vorhandenen Bilder usw."— heißt es in dem Erlaß—.Jiönnen wieder angebracht werden, soweit Kosten dadurch nicht entstehen." Ularxistenbilder fort! Der Polizeipräsident von Essen weist in einer Anordnung darauf hin, daß man noch immer in den Wohnungen ehemaliger Mitglieder der kommunistischen und der sozialdemokratischen Partei marxistische Bilder finde. Es könne nicht geduldet werden, daß der Geist der Jugend durch den dauernden Anblick solcher Andenken aus der Zeit des Systems vergiftet werde. Die zwangsläufige Folge eines derartigen Verhaltens könne unter Umständen die Verhängung von Schutzhalt sein. Brutanstalt für Idioten Bleib sitzen, aber in Uniform. Im Dresdner Naziblatt berichtet der nationalsozialistische Lehrer Arthur Löffler über den erzieherischen Wert der Hitler-Uniform:■ „Alle meine Neunjährigen beneiden den Heinz und den Hans, weil diese, bereits zehnjährig. Jugenduniform tragen dürfen, Heinz die des Hitlerjungvolkes, Hans die des Scharnhorstbunds. Beide sind Sitzenbleiber, demnach ein Jahr älter als die anderen. Das gilt sonst wohl als ein Fleckchen an der Schülerehre, doch die Uniform gleicht das aus, sie verschafft sogar höhere Geltung unter den Klassengenossen." Im wilhelminischen Deutschland hob die Uniform erst im späteren Leben über mancherlei Intelligenzunterschiede hinweg— im III. Reich siegt die Hitlerkluft schon in der Schule über den Geist Wer im zehnten Jahre sitzen bleibt, hat sogar den Vorzug, in seiner Klasse allein Uniform tragen zu dürfen, zu der die Gescheitem emporgucken müssen. Und haken- kreuzierische Jugenderzieher lehren:„Dumm und faul darfst du bleiben, mein Knabe, wenn du nur ein Braunhemd trägst." Welches Land macht dem Dritten Reich solche Lehrer, solche Schüler nach? Diktatur der Fleisdiermeister. Was muß das wohl für ein wunderlicher „Sozialismus" sein, für den sich auch die konservativen Mitte iständler mit so viel kleinbürgerlichem Temperament begeistern?! In Breslau hat die sogenannte„Deutsche Arbeltstron t", eine Zwangsinnung geschundener Sklaven— auf Nichtbeitritt steht braune „Konzentration"— ein theatralisches Meeting abgehalten, auf dem der allgemein unbeliebte| Trunkenbold Ley eine seiner unfreiwillig hu- � moristischcn Ansprachen hielt. Die Fleisch- und Wurstmacher- � Innung hielt sich, volksgemeinschaftlich er- � griffen, für verpflichtet, die Arbeitsfrontler stürmisch zu ehren und ordnete die Schließung der Wurst- und Fleischerläden ab 2 Uhr nachmittags an. Wenn die finstersten und engherzigsten wirtschaftlichen Reaktionäre so munter„V i- vat" brüllen, werden sich die schmählich zum„Arbeitsfront"-Z wangsdienst gepreßten Arbeiter über den sozialen„Gehalt" des Barbarenregimes sehr bald im klaren sein! Die Straße zum Abgrund. 6 Festansprachen und 50 Ehrenjungfrauen. Wo keine Erfolge zu verzeichnen sind, ist man gezwungen, ä ia Potemkin zu arbeiten und zu erfinden. So raachen es die Nazis, aber sie machen es mit wenig Geschick. Dieser Tage haben sie in einer schlesischcn Kleinstadt eine neuerbaute Straße als „erste Straße des neuen Reiches" eingeweiht Dieser zufällige Neubau einer Straße hatte 6 Festansprachen, eine S t a d 1 1 1 1 u m i* nation, die obligate Parade, 50 Ehrenjungfrauen und einen Massenaufmarsch hoher und höchster Nazlboo- z e n zur Folge. Man bewarf sich gegenseitig mit Kompü' menten und nahm die kümmerliche Straße zun» Anlaß, um vor sich selber in Ehrfurcht strantf» zu stehen. Zeitungstarif bew. m. P. D. ZL 159.334/VII-1933.
Ausgabe
1 (6.8.1933) 8
Einzelbild herunterladen
verfügbare Breiten