Hat zur Utopie v.. Ein Beitrag zur Parteidiskussion
Ueber die Schuld der SPD . am Anwachsen des deutschen Faschismus läßt sich mannigfach streiten. Aber es führt nicht weiter, sich bei Koalitionspolitik. Panzerkreuzer oder Tolerierung aufzuhalten. Man muß dann schon bis zu den „verpaßten Gelegenheiten" von 191S— 19 zurückgehen und die Frage aufwerfen, warum große Gelegenheiten zur sozia listischen Machtsicherung verpaßt wurden. Die einen schieben es auf die Führer, andere auf den sozialistischen Bruderkampf, aber sowohl das„Versagen" von Führern wie der Bruderkrieg sind doch nur Ergebnisse tiefer liegender Ursachen. Man soll vom Gegner lernen, soweit das irgend möglich ist, und wenn wir von den Nazis eins profitieren können, dann etwas von der Art, wie sie sich auf die Uebernahme der Macht vorbereiteten. Sie wollen wirtschaftlich nichts Neues und können nichts wirklich Neues, Besseres schaffen, sie wollten nur die Macht, um Demokratie und Freiheit abzuwürgen. Die Technik jedoch, die sie dabei anwendeten. beweist gut vorbereitete Planmäßigkeit und ist nicht ohne konstruktive Phantasie, wenn auch in reaktionärster, bös- aftigster Richtung. Solche Technik der Machtentfaltung, solche Planmäßigkeit der Machtbefestigung zu revolutionären Zwecken hat dem deutschen Sozialismus 1918 gefehlt Wollte man Führer dafür verantwortlich machen, so wäre vor allem zu fragen, warum der Führung gerade diese Talente abgingen. Mit Vorwürfen, wie„Verbürgerlichung" oder„Mangel an Energie" wird da wenig erklärt. Kein Führertum ist so verbürgerlicht und ver- bonzt wie das nationalsozialistische. Haben sie deshalb Mangel an Energie bewiesen? Wenn heute von Jüngeren aus unseren Reihen so oft der Vorwurf laut wird, die SPD . sei den kämpferischen Traditionen der Partei Bebels untreu geworden, so muß demgegenüber betont werden: gerade die Ideologie der Vorkriegssozialdemokratie und ihre Geschichtsauffassung machen erklärlich, warum nach der Novemberumwälzung Entscheidendes„verpaßt" wurde. Gestatten wir uns einen kleinen Rückblick. Wir wollen nicht die alte Frage aufwärmen, wie weit bei der Einigung der Eisenacher und der Lassalleaner im Jahre 1868 die auf Willenswirkung und Staatsgestaltung ausgehenden Theorien Lassalles zu kurz gekommen sind. Es Ist in diesem Zusammenhang auch überflüssig, zu erörtern, wie weit Mara' Lehren und Erkenntnisse von den Triebkräften der geschichtlichen Entwicklung dazu verleiten konnten, diese Entwicklung zu mechanisch aufzufassen, die Bedeutung des menschlichen Willens und seine Wirkung auf den Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung zu unterschätzen, die klare Vorstellung von der Gestaltung der Welt, die man anstrebt und schaffen will, als müßig und ideologisch abzutun. Es genügt, die Tatsache festzustellen, daß es geschah. Seit dem Fall des Sozialistengesetzes, in Jenen Vorkriegsjahrzehnten. da die Sozialdemokratie des Erfurter Programms wieder Raum für theoretische Diskussionen hatte, galt in unseren Reihen die Frage nach den Möglichkeiten und Einzelheiten der Machtergreifung und nach den Gestaltungsplänen der sozialen Revolution, nach der Wlrtschaftsverfas- sung des sozialistischen Zukunftsstaates als unmarxistisch, als utopisch, als Ideologisch. Wir haben in den neunziger Jahren einen Gegner gehabt, den die Sozialdemokratie mehr hätte schätzen sollen: den Freisinnigen E u g c n R l c h t e r. In die Auseinandersetzungen zwischen Fortschrittlern und Sozialdemokraten warf er die mehr als komisch anmutende Frage hinein:„Wer putzt Im Zukunftsstaat die Stiefel?" Und dachte damit die Schwierigkeiten zu glossleren, die nach seiner naiven Auffassung im sozialistischen Zukunftsstaat bei Einteilung und Verteilung der Arbeit entstehen müßten. Die Entwicklung hat inzwischen recht gründlich geantwortet: die Stiefelputzmaschine wurde erfunden. Es ist wohl die einzige sachliche Antwort, die Eugen Richter geliefert erhielt, denn die Sozialdemokratie überschüttete den komischen Frager mit eitel Spott und Hohn. Für uns im mittleren Alter, die wir nach 1900 in die Po
litik eintraten, war er lediglich der unmögliche Kerl, der dieses verrückte Argument erfunden hatte. Und doch hätten wir das ernster nehmen sollen, denn wenn man von der komischen Uebertrei- bung der Glosse absieht, so war sie eine Aufforderung an die Sozialdemokratie, Näheres über Gestalt, Wesen und Wirtschaft unseres Zukunftsstaates auszusagen. Der grimmige Spott, den der freisinnige Führer erfuhr, war symptomatisch für die geistige Einstellung unserer Partei zu diesen Dingen: eine Abneigung gegen Diskussionen über das, was nach der sozialen Revolution folgen sollte, über Methode und Technik der Machtergreifung, Machtfestigung und Gestaltung der neuen Gesellschaftsordnung; eine Geringschätzung dessen vor allem, was man seit einem Jahrzehnt konstruktiven Sozialismus nennt. Wer die Neigung dazu zeigte, sich mit solchen Fragen einer um 1900 herum noch recht nebulösen sozialistischen Zukunft zu beschäftigen. galt als Utopist. Die innerhalb der Partei herrschende geistige, theoretische Richtung verschob die Klärung solcher Dinge auf später. Wie man sich Einzelheiten und Technik der Machtergreifung und Machtsicherung zu denken hätte, das würde sich aus den jeweiligen ökonomisch-historischen Tatsachen ergeben, die man nicht voraussehen könne. Der Wille zur bewußten, zielklaren Gestaltung kam bei dieser Richtung marxistischer Geschichtsauffassung erheblich kürzer weg. als richtig und gut war. In der Atmosphäre solcher Ablehnung konstruktiver Planmäßigkeit wuchsen die jungen Generationen in der Partei der Bebel, Liebknecht, Auer heran, so reifte jene Führerschicht in Partei und Gewerkschaft, über die der Weltkrieg mit dem wilhelminischen Zusammenbruch hereinbrach, Wo sollten sie in den November- wirren 1918 plötzlich die große Konstruktion, die Technik für sozialistische Umgestaltung des Staates und der Wirtschaft her haben? Nicht etwa, daß der Zusammenbruch für die SPD. unerwartet gekommen wäre; nein, er war spätestens im Sommer 1918 vorauszusehen. Aber man war in den Spitzen unserer Bewegung auf„so etwas" politisch nicht eingestellt. Bewußt oder unbewußt verließ man sich auf die scheinmarxistische Phrase, daß über Mittel, Wege und Ziele einer etwaigen Umwälzung die jeweilige ökonomisch-historische Situation entscheiden werde. Die entschied auch, und zwar, da sich der Sozialismus auf sie geistig und politisch nicht genügend vorbereitet hatte, gegen sozialistische Gestaltung. Das alles mag heute manchem etwas übertrieben klingen, aber tatsächlich fehlte dem deutschen Sozialismus im Novemberchaos 1918 eine klare, einheitliche Vorstellung von den Schritten und der polltischen Technik, die zur sozialistischen Umgestaltung Deutschlands notwendig waren. Und darum fehlte bei verschie
denen Führern auch der Wille. Wir waren nicht einmal darauf vorbereitet, unserer Regierungsgewalt eine eigene Exekutivmacht— die Voraussetzung jeder Entfaltung revolutionärer Macht und politischen Willens— rasch an die Seite zu stellen. Es fehlte jede geistige Vorarbeit, jede organisatorische Planung. Die Kriegsmüdigkeit unserer Genossen, Spartakuswirren und Zerspaltung des sozialistischen Lagers durch den Bolschewismus taten ein übriges— und so mißlang es uns, aus den sozialistischen Sicherheitswehren brauchbare, schlagkräftige Formationen zum Schutze der jungen Republik zu bilden. Deshalb kam die reaktionäre Reichswehr , deshalb die unglückliche Aera Noske und damit die unheilvolle Schwächung der Weimarer Demokratie . Und dann? Der Mangel der Sozialdemokratie an konstruktivem Sinn wurde in der Republik leider nicht ausgeglichen. Die Ideologie der Partei Bebels hatte ein Geschlecht großgezogen, das wahrhaftig war, das logisch und solid dachte und sich gern an die erkennbaren Tatsachen hielt, die politische Phantasie jedoch war dabei zu kurz, war dabei sogar in V e r r u f gekommen. Man redete von Sozialisierung und Planwirtschaft, aber irgendwelche Pläne in dieser Richtung begegneten bei den meisten Prominenten ironisch-überlegener Ablehnung. „Utopisten!" Ich entsinne mich noch, mit welchem Spott und Hohn führende Genossen den Sozialisierungsplan des Genossen Dr. Otto Neurath abtaten. Naiv war der Versuch einiger Genossen, diesen Plan in deutschen Einzelländern zu praktizieren: er bedurfte wahrlich eines größeren Rahmens. Doch es blieb leider der einzige Versuch, die Sozialisierung mit allen Nebenfragen in ihren Einzelheiten zu durchdenken und zu regeln, und dieser großzügige Versuch hätte darum mehr Beachtung und sachlichere Würdigung verdient, als ihm widerfuhr.„Phantasterei" wurden solche Versuche von Führenden gern genannt, in Wirklichkeit war es viel unpolitischer und viel phantastischer, die Sozialisierung zu fordern, ohne sie in allen Zügen zu durchdenken und die Durchführbarkeit in klaren Plänen niederzulegen. Dieser vom Vorkriegssozialismus ererbte Mangel an konstruktivem Planen und Wollen machte die Hauptschwäche der SPD. aus und trug mit Schuld daran, daß wir über Gegenwartssorgen und soziale Reformpolitik nicht hinauskamen. Das Manko wird dadurch nicht tröstlicher, daß der Sozia- lismus in allen Ländern, daß die gesamte II. Internationale diesen selben Mangel aufwies. Die sozialistischen Parteien aller Länder fordern europäische Wirtschaftseinheit, europäische Planwirtschaft, Internationale Wirtschaftsplanung. Aber hat man sich auch schon genügend klare Vorstellungen davon gemacht, wie das
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alles in Wirklichkeit aussehen und wie es funktionieren soll? Dabei sind wir alle die Kinder des Zeitalters der Technik, der Epoche großer technischer Konstruktionen und Konstrukteure. Auf politisch-sozialem Gebiete aber — welch ein gänzlich unmarxistischer Widerspruch— fehlen diese Konstrukteure nahezu völlig. Mag sich das bürgerliche Lager damit beruhigen, daß es bei ihm nicht mehr viel zu planen gibt, der Sozialismus jedoch, der eine alte Welt neu formen will, kommt ohne die Fähigkeiten und Methoden des Ingenieurs und Baumeisters nicht aus! Ohne Mut und Willen zur Utopie gibt es kein klares Bild unseres Zukunftszie- los und seiner politisch-technischen Voraussetzungen, und ohne dieses Bild gibt es keine Zielklarheit und keinen wirklichen Willen zur Macht. ER liest keine Biidier „Führertum hat mit Wissen nichts zu tun!" (Nazi-Reichslandbundpräsident Meinberg auf einer Bauerntagung.) In einem Prager Blatt wird wiedergegeben, was eine Frau Lily Doblhoff von Naziführern und ihren Lebensgepflogenheiten erfuhr. Gö- ring liebe den Luxus, Hitler dagegen lebe einfacher. Und nun kommt eine herrliche Offenbarung: Bücher liest Hitler nicht. Ihn interessieren nur die tatsächlichen Probleme des Lebens, mit den in tote Buchstaben gebannten, nur vorgestellten oder erfundenen Geschehnissen wolle er sich nicht befassen. Seine Lektllrc bosteht aus illustrierten Zeitungen. Eins hat Frau Doblhoff vergessen: in Hitlers Villa stehen sämtliche Bände Karl Mays, dessen glühender Verehrer er ist. Er liest zwar keine Bücher, aber dafür verschlingt er Schundliteratur. Die Großen im Reiche des Geistes haben für ihn umsonst gelebt. Er läßt sie verbrennen. Jetzt weiß man auch, warum er Karl Marx beschimpft: seine Werke sind nicht illustriert, ins Feuer damit. Ewig bleibt für ihn Scherls Woche. Aber das schlimmste für das Volk der Dichter und Denker ist Ja nicht, daß sein gegenwärtiger Kanzler keine Bücher liest, sondern daß er welche schreibt— und zwar in anerkannt miserablem Deutsch — und daß er andere zwingen läßt, diesen'Mist zu kaufen. Von der gleichen Gewährsfrau erfährt man, wie vernichtend der gleichgeschaltete Hanns Heinz Ewers über die Dichtung im Dritten Reiche denkt. Er plaudert gutgelaunt; „Reinhardt hatte nicht weg müssen. Er könnte Regie führen, so viel er will. Ob ei große Freude an den schlechten Stük- k e n gehabt hätte, das ist eine andere Frage. Haben Sie den„S c h t a g e t e r" gesehen? Ein schlechtes Stück, ein sehr schlechtes Stück. Ueber sein eigenes letztes Werk „Horst Wessel " äußerte sich Ewers : „Ich empfinde dieses Buch als Wendepunkt meines Lebens. Mit diesem Werke habe ich mich zum Heroismus in der Literatur bekannt, in schroffem Gegensatz zu den Auswüchsen der Phantasie, die uns alle beherrscht haben." Uns alle? Wir wissen nur, daß die schwüle, schlüpfrige, zotige Literatur wn einigen wenigen gepflegt und gemolken wurde, zu ihnen gehört Hanns Heinz Ewers . Jetzt ist er zahnlos geworden, Jetzt ist er Hitlerbardeji letzt kann er nicht und darf er nicht mehr, jetzt macht er aus der Not eine Tugend und wird „heroisch". Junge Huren, alte Betschwestern. Aber ganz kommt er von ehedem nicht los, er suchte sich einen Stoff aus dem Zuhälter- und Dirnenmilieu, in dem sich Horst Wessel bewegte. Das wird Hitler lesen! Interessantes Preisausschreiben Die einzige sozialdemokratische Tageszeitung Deutschlands , die im Saargebiet erscheinende„Deutsche Freiheit", hat einen Preis von 100.000 französischen Franken für denjenigen ausgesetzt, der die geheimnisvollen Flieger, die am 22. Juni Berlin überflogen haben sollen, so namhaft macht, daß sie zur Verantwortung gezogen werden können. Die „Deutsche Freiheit" wird ganz bestimmt nicht In die Lage kommen, den ausgelobten Preis zahlen zu müssen. Die geheimnisvollen Flieger haben genau so wie die sozialdemokratisch- kommunistische Einheitsfront zwecks Inbrandsetzung des deutschen Reichstagsgebäudes nur Im Morphiumrausch Hermann Görlngs existiert. Warum hat denn nicht die deutsche Regierung, wie es jetzt die„Deutsche Freiheit" tut, einen Preis zur Aufklärung des Fliegergeheimnisses atisgeschrieben?(ben, weil sie weiß, daß das Ganze nur ein von ihr selber Inszenierter Schwindel ist!