Nr. 47SOmTkG, 6. Mai 1934Verlag: Karlsbad, Haus„Graphia"— Preise und Bezugsbedingungen siehe Beiblatt letzte SeiteAus dem Inhalt:Der stille Kampf zwischen Epau-letten und BraunhemdenBoxkampf Hitler-Göring:1. Runde knapp für HitlerHeinrich Mann über dieEmigrationDie Antwort der ArbeiterDie Stärke der Arbeiteropposition— Außen braun, innen rot!Vom I. Mai 1933 zum 1. Mai 1934!Heute wie damals hat das nationalsozialistische System Massenaufmärsche veranstaltet, hat die Massen der Betriebsarbeiter gezwungen, an den Paraden desSystems teilzunehmen, hat mit Terrorund Propaganda das Bild von Massenkundgebungen des Volkes erzeugt.Ami. Mai 1933 haben wir uns gefragt:�rird die braune Propagandawelle, die wieeine Sturmflut über das deutsche Volkhereinstürzt, das sozialistische Bewußtsein der Arbeitermassen in Deutschlandzerschlagen, wird sie nicht eine grenzenlose Verwirrung in den Köpfen der Arbeiter anrichten?Heute wissen wir: siehabennichtvermocht, das Klassenbewußtbein der MehrheitderArbeiter-schaft zu zerbrechen! Sie habenwieder die Arbeiter aufs Tempelhofer Feldgetrieben— aber dieselben Arbeiter haben ihnen schon vor dem 1. Mai ihre Antwort auf den Terror, den Raub der Freiheit und die Fälschung des Maigedankensgegeben! Etwa zwei Drittel derBetriebsarbeiter» haben bei denWahlen der Vertrauensmänner nach demGesetz zur Versklavung der Arbelt gegendas System gestimmt! Mit allen Mittelnhat das System.versucht, diesen Willensausdruck zu verfälschen und zu unterdrücken. Sie haben die Wahlergebnissetötgeschwiegen. Sie haben in einer Spe-zialverordnung verlangt, daß die ungültigen Stimmen nicht gerechnet und gezähltwerden sollen— aber sie haben nichterreicht, daß die Wahrheit nicht durchgedrungen ist!Diese Wahl in den Betrieben wiegtganz anders als die Wahl vom 12. November 1933! Sie zeigt eine Stärke der A r-bejteropposition, einen Protest gegen das System, der alle Lügen über dievöllige Einmütigkeit und Harmonie desVolkes zerschlägt. Die Mehrheit der Arbeiterklasse ist der militaristischen Volks-femeinschaftsideologie nicht erlegen, siejst sich der Klassengegensätze und desKlassenkampfcharakters der nationalsozialistischen Diktatur bewußt. Sie ist derKern der Kraft, die das braune System«Ines Tages zerschmettern wird! DieIllusion, daß Maulaufreißen und Propagandagetöse die großen, schweigend wir-kenden Kräfte des geschichtlichen Geschehens mattsetzen könnten, zerstiebt imWinde.Die Arberter, die in Massen ihren Protest gegen das System ausgesprochen haben, standen an diesem 1. Mai abermalsauf den Versammlungsplätzen und mußten�'e Reden der„Führer" anhören. Sie standen da, wohin man sie gezwungen hatte.Aber was sie gedacht haben— dasbissen jene nicht, die ihnen die Phrasencler nationalsozialistischen Propagandaand heuchlerischen Versprechungen vorlügen. Sie wissen es nicht, aber sie haben davor gezittert! Nicht umsonstsind vor dem 1. Mai in Berlin Massenver-haftungen und Razzien zur Sicherung des1- Mai vorgenommen worden! Sie werdenLeiter zittern. Sie können Arbeiter—nnßen braun, innen rot— wohl noch zu-�nimentreiben, aber sie können nicht ver-bindem, daß die Arbeiter ihre innereMaifeier in ihrem eigenen Geiste ab-halten!Der 1. Mai 1934 hat nur einen Koloßaui tönernen Füßen gezeigt! In einemgemeinsamen Aufruf zum 1. Mai"aben Hitler und Hindenburg gemeinsam erklärt:..Zum ersten Male in unserer Geschichteist der innere Bruderzwist beseitigt und die Einigkeit aller Deutschen erreicht. Was unsere Väter seitJahrhunderten ersehnt haben, ist damit Wirklichkeit geworden."Die Einigkeit aller Deutschen erreicht,der innere Bruderzwist beseitigt! DieHohlheit der Phrase wird von der Wirklichkeit Lügen gestraft! An allen Eckenund Enden zeigen sich stille und lauteKämpfe, im Gebälk des Systems selbstknistert es nicht nur— es kracht vernehmlich! Der Kampf der Richtungen inder Führung des Systems, der Streit unddie Rivalität der Führer untereinander hateinen sichtbaren Ausdruck gefunden in derTatsache, daß Hitler dem nächstmächtigennach ihm, Göring, die preußischePolizei aus der Hand genommen und sie Frick übergebenhat! Der Polizeigeneral D a 1 u e g e mußöffentlich versuchen, die Reibungenund Rivalitäten in der preußischen Polizei zwischen den altenBeamten und den neueingestellten SA-und SS-Leuten zu besänftigen. Der stilleKampf zwischen den.großenAusbeutergruppen geht ununterbrochen weiter und zersetzt die führendeSchicht des Systems selbst.Die Magie des„Aufbruchs der Nation"ist verflogen. Im Bürgertum tobt derideologische Kampf und die ideologische Verwirrung in den verschiedensten Ausdrucksformen— von einer Einheitlichkeit nationalsozialistischer Weltanschauung ist keine Rede mehr— sie lebtin der Hauptsache nur noch in der erzwungenen Literatur und Presse. Das istdie„Einigkeit aller Deutschen", das ist die„Beseitigung des inneren Bruderzwists"!In einem Jahre hat das System selbstein beträchtliches Maß von Aufklärungüber sein Wesen und seine Wirkung geschaffen. Es hat gezeigt, daß die Gewaltdie Formen des Klassenkampfes zwarändern, aber daß sie ihn nicht aus derWelt schaffen kann. Das System ist heuteschwächer als vor einem Jahre. Wohl istsein Herrschaftsapparat dichter und zahlenmäßig stärker geworden. Wohl hat esseinen organisatorischen Körper ausgebaut— aber seine Macht über die Köpfe istnicht gewachsen. Es altert mit größer Geschwindigkeit. Der Scheinder Jugend und des Neuen vergeht— dieZüge der alten Reaktion, der alten Bedrückungsmethoden, der alten Unfreiheittreten immer deutlicher hervor.Das System hat den 1. Mai 1933 wiederholt— aber über seine Schwächungtäuschen die Gesten der Kraft nicht hinweg. Je schwächer aber das Systemwird, um so stärker wird die Opposition!Frick statt GöringUnd noch mehr TodesstrafeDer innere Cliquenkampf in der führenden Gruppe der NSDAP hat zu einerMachtverschiebung geführt. DerKreis um Frick hat den zwischen denGruppen hin- und herschwankenden H i t-1 e r vermocht, dem„eisernen Hermann",dem preußischen Ministerpräsidenten Göring eine wesentliche Machtgrundlage zuentziehen. Das preußische Ministerium desInnern und die preußische Polizei werdenkünftig vom Reichsinnenminister Frickmit verwaltet werden.Dies Ergebnis des inneren Kampfes inder NSDAP-Spitze wird nach außen hin ineinem Briefwechsel zwischen Göring undHitler als ein weiterer Schritt zum Einheitsstaat hin dargestellt. In Wirklichkeithandelt es sich nicht um den planmäßigenVollzug konstruktiver Ideen, sondern umeine neue Phase des stillen Kampfes derbraunen Führer untereinander.Frick wird im Besitze dieser Machtposition vorsichtiger vorgehen als Göring. Der Zusammenhang zwischen Göring und der führenden Gruppe derschwerindustriellen und finanzkapitalistischen Ausbeuter war zu offen zutage getreten, so daß er in den Reihen der SAOpposition hervorgerufen hatte. Seit längerer Zeit hat Göring seine Hauptstützenicht in der SA, sondern in der Polizeiund Verwaltung gesehen. Wenn jetztFrick an seine Stelle tritt, so wird damitkeineswegs der Kurs aufgegeben werden,der im sogenannten„Gesetz zur Ordnungder nationalen Arbeit" zum Ausdruck gekommen ist. Es wird lediglich dafür Sorgegetragen, daß die Verhüllungs- und Verwirrungspropaganda, die den Lohnraubumgeben soll, nicht durch die Person unddas Wirken von Göring gestört wird. Essoll mehr in Volksgemeinschaftsideologieund weniger in kapitalistischer Normalisierung gemacht werden— nach außenhin!Dieser Wechsel ist ein Zeichen dafür,daß das System seine Lage in der nächsten Zeit als ernst ansieht, und daßes sich deshalb auf einen vorsichtigeren Kurs einrichten möchte. Aberdieser Wechseln verschärft zugleich dieFührerkämpfe, er berührt mehrere Gruppen zugleich, er ruft den Eindruck der|Unsicherheit hervor.Wer jedoch glaubt, daß dieser Wechsel einen Abbau der Verfolgung und derBrutalität bedeuten werdender ist sehr imIrrtum. Schon das neue Gesetz überHoch- und Landesverrat, das dieHitlerregierung dem deutschen Volk zum1. Mai beschert hat, muß ihn eines besseren belehren. Nach diesem Gesetz wirdu. a. wegen Landesverrat mit dem Todebestraft, wer es unternimmt, ein S t a a t s-geheimnis zu verraten. Als Staatsgeheimnis gelten Schriften, Zeitungen, Tatsachen oder Nachrichten, deren Geheimhaltung für das Wohl des Reiches erforderlich ist. Schon in der Republik hattedas reaktionär gesinnte Reichsgericht denBegriff des Staatsgeheimnisses außerordentlich weit gezogen. Jetzt besteht dieMöglichkeit, daß das neu zu ernennendeSondergericht noch viel weiter gehen wird als das seiner früheren Kompetenz enthobene Reichsgericht. Groteskmutet es an, daß dasselbe Gesetz auchdenjenigen mit der Todesstrafe bedroht,der es unternimmt, den Reichspräsidentenoder den Reichskanzler seiner verfassungsmäßigen Gewalt zu berauben. Da esim Dritten Reich eine Verfassung überhaupt nicht gibt, gibt es auch keine verfassungsmäßige Gewalt. Aber als derReichspräsident noch eine verfassungsmäßige Gewalt besaß, wurde er durch dennationalsozialistischen Staatsstreich ihrerberaubt. Das neue Gesetz, mit rückwirkender Kraft angewendet, ist ein Gesetzgegen Hitler und seine Spießgesellen.Zeit, um dann kurz und kalt mit einem verächtlichen Seitenblick auf G5bbels„Ja" zusagen.Göbbels-GöringrAuf einer der letzten Berliner Presse-Konferenzen hatte einer der ausländischen Journalisten die Kühnheit, auf die im Ausland bekanntgewordenen Gegensätze zwischen denbeiden zufällig anwesenden ReichsministerGöbbels und Göring hinzuweisen. Göbbelserhob sich zur Antwort, bestritt die Differenzen und wandte sich dann mit den Worten:„Nicht wahr,.Herr Reichsminister, zwischenuns besteht doch volles Einvernehmen" anGöring. Dieser ließ sich mit der Antwort langeMörder! Mörder!Die Schuld des Statthalters Wagner vonBaden.Wir haben bereits berichtet, daß bei derBeisetzung von Ludwig Marum im Krematorium in Karlsruhe eine überraschendstarke Beteiligung von TrauergSsten festzustellen war. Nachträglich erfahren wir voneinem Teilnehmer, daß die Demonstration fürden in den Tod getriebenen Marum sich nichtnur in der starken Beteiligung ausdrückte,sondern, daß sich auch in der Kapelle ein Vorfall abspielte, der in seiner Stärke geradezuerschütternd wirkte und für die Verantwortlichen am Tode Marums ein deutliches Zeichenwaren, daß die Abrechnung für ihre Tatennicht auf sich warten lassen wird!Als die sterblichen Ueberreste von Marumin die Tiefe sanken, brach die Frau von Marum in lautem Aufschreien zusammen, ausdenen immer wieder der Ruf zu hören war?„Mörder! Mörder, Mörder!" Und ineinem letzten Aufschrei die Frage an dieFreunde:„Werdet Ihr ihn auch nievergesse n?" Mit einer Spontanität, diedie tiefe Ergriffenheit und Verbundenheit mitdem Toten und seinen unglücklichen Hinterbliebenen bezeugte, antwortete trotz Polizei,Photographen und Spitzel die Trauerversamm-lung im kleinen Kapelienraum laut mit demRuf:„Niemals!"Das Wort Mörder wird dem Reichsstatthalter W a g n e r-Backflschdauernd in den Ohren klingen. War es auchkein offensichtlicher Mord, so wurde doch gemordet durch die Brutalität, mit der man denschwer herzkranken Ludwig Marum in dauernder Zwangsarbeit mit all den Brutalitätendes Konzentrationslagers in Kißlau hielt. Wagner-Backfisch, Abkömmling eines Kosaken, zeitseines Lebens noch nie an eine geordnete Arbeit gewöhnt, als junges Bürschchcn Kriegsteilnehmer im letzten Jahre des Krieges, Herumtreiber auf dem Baltikumkriegsschauplatz,immer dabei, wo es galt, Werte zu zerstören,wird eines Tages den Mord an Marum bezahlen müssen.'