Nr. 78 BEILAGE 9. Dezember 1934 Das Dritte Reldi sdiweigt Wer zwingt es zu sprechen? Seit zwanzig Monaten rast durch das Herz Europas der Schrecken. Seit zwanzig Monaten werden in einem europäischen Kulturland alle Juden und Christen verfolgt, deren Gedanken und politische Meinungen vom Programm der Partei Adolf Hitlers abweichen. Als die ersten Berichte über das Dritte Reich die Welt in Erregimg versetzten, sprach der Reichspro- chenschändung, Amtsmißhandlung, Sexualvergehen, schwere Körperverletzung, Mord: das sind die Verbrechen, deren man diese Vertreter der deutschen Reichsgewalt mit allen zur Untersuchung notwendigen Angaben beschuldigt. Kein Verantwortlicher im Dritten Reich kann behaupten, daß er von diesen in dem Buch»Konzentrationslager« erhobenen pagandaminister Göbbels von»Greuel- 1 Beschuldigungen nichts weiß. Die»Ver- nachnchten«. Das Wort hat eine Fach- lagsanstalt Graphia« hat sofort nach Er- bezeichnung für lügenhafte, antideutsche geheinen den VerantwortUchen: Adolf Hit- rn___■*.---— ler, Josef Göbbels , dem Reichsgerichtspräsidenten Dr. Bumke, dem Oberreichsanwalt Dr. Werner, dem Reichsjustizminister Gürtner, dem Reichsbischof Dr. Müller, dem deutschen Gesandten in Prag , Dr. Adolf Koch , und anderen das Buch durch die Post»eingeschrieben gegen Rückschein« übermittelt und die Empfangsbescheinigungen dafür erhalten. Obwohl dadurch alle in die Lage versetzt wurden, alle Angaben nachzuprüfen, hat das Dritte Reich bisher weder Untersuchungsverfahren eröffnet, noch ein Wort verlauten lassen, um die erhobenen Anklagen zu entkräften. Dieses Schweigen ist der letzte Trick des braunen Reichs. Durch ihn hofft es, _____ die Aufmerksamkeit der Kulturwelt von Üerte: wenn das amtliche Deutschland zu den Verbrechen abzulenken. Das Manöver allem, was ihm vorgeworfen wird, darf keinen Erfolg haben, wenn es in die- schweigt, dann wird es eher gelingen, das ser Welt überhaupt noch eine menschliche /"N,._--- Tendenznachrichten geschaffen, und gute Dienste getan. Aber die Welt hat seit dem Frühling 1933 zu Furchtbares erlebt Die blutige Flut, die sich vom Reichstagsbrand bis zum 30. Juni wälzte, hat das listenreiche Göbbels -Wort um seinen Sinn gebracht. Dieses Wort»Greuelnachricht« hat den ironischen Sinn verloren, es bezeichnet beute wirklich eine Nachricht über deutsche Greuel. Mit dem sicheren Tastgefühl des erfolgreichen Reklamefachmanns, hat man üi dem Augenblick die Taktik geändert, als sich der Sinn der Göbbelsbezeichnung änderte. Das Dritte Reich antwortet nicht mehr auf Greuelnachrichten. Das Dritte Reich begann zu schweigen. Es speku- —.------ Gewissen der Welt taub zu machen Den furchtbarsten Nachrichten aus Solidarität und Gemeinschaft gibt Im Fall Dreyfuß schrieb Emile Zola üem Dritten Reich setzt man jetzt also 1899:»Solang e i n Unschuldiger im Ker- Sein Schweigen entgegen. Was immer man ker schmachtet, haben wir kein Anrecht, Deutschland vorwirft, Deutschland unter den Völkern mitzuzählen. Erst wenn schweigt! Diese Methode zeigt sich er- dem Unschuldigen sein Recht geschehen folgreich, man gewöhnt sich an die deut- ist, wird Frankreich wieder das Land der sehen Greuel, an das täglich vergossene Rechtlichkeit und des menschlichen Emp- Dlut, an die deutsche Schande. findens sein.« Man glaube nicht, daß wir übertreiben. 1934: aber sind die Kerker der Kon- Zwei Beispiele von vielen beweisen unsere zentrationslager des Deutschen Reiches Behauptung. Der Spezialkorrespondent des zum Bersten angefüllt mit Unschuldigen �Manchester Guardian«, einer der am— und die Welt hat begonnen, sich an besten über Deutschland unterrichteten diesen Zustand zu gewöhnen. Journalisten, hat in seinem Blatt, das zu Die Welt darf es nicht zulassen, daß den angesehensten der Weltpresse gehört, der Hilfeschrei der gefolterten Menschen ßicht mehr und nicht weniger behauptet, *ls daß Hitler in seiner Reichstagsrede über den 30. Juni die Zahl der Ermordeten Unrichtig angegeben habe. Der Korrespon- dent des»Manchester Guardian« meldet Sanz konkret, daß die höchsten deutschen ■Remter eine Liste der am 30. Juni Hin- Ssrichteten besitzen, die sie geheimhalten bnd die die Zahl der Toten mit 282 an- ®bt,»in dieser Zahl sind die unoffiziel- Hinrichtungen der Politiker und raunhemdführer, gegen die nach Gene- fü? Gürings Worten die ursprüngliche Ah aus dem Dritten Reich im braunen Schwel gen erstickt wird. Das wache Gewissen der Kulturwelt muß diesen Schrei vernehmen und ihn hundertfältig wiedergeben, daß er laut genug werde, um die tauben Ohren der deutschen Verantwortlichen hörend zu machen. Sdilimmer als Aussah Staatenlosigkeit ist tödlich In der vergangenen Woche geschah es Auf dem Turul-Vogel, am höchsten Punkt der Franz-Josef-Brticke zu Budapest tauchte am Abend ein Mann auf, riß sich die Kleider vom Leibe und schickte sich an, von hoch da oben in die Donau zu springen. Menschen sammelten sich auf der Brücke, schrien zu ihm hinauf, beschworen ihn, versprachen ihm— ja, was versprachen sie? Ein Schloß? Goldene Berge? Ein Luxusleben? Nein, sie versprachen ihm Nahrung und Arbeit, denn sie kannten sich aus in dieser Welt des Ueberflusses. Der Mann weinte— weinte und sprang ab. Mit verstümmeltem Kopf wurde er»ge borgen« und ins Spital geschafft. Man hatte ihm Nahrung und Arbelt versprochen— warum wollte er nicht leben bleiben? Er war nicht nur hungrig, nicht mir arbeitslos— das war er auch—, noch Schlimmeres hielt ihn gepackt: er war staatenlos. Mit sechs Wochen wurde Ladislaus Svordak — er ist heute 31 Jahre alt— aus seinem Geburtsort Munkaöevo in Karpathorußland nach Ungarn gebracht. Später optierte er nicht rechtzeitig, well die Papiere fehlten, und wurde von unheilbarer Staatenlosigkeit befallen. Heut liegt er krank, elend, entstellt für den Rest seines Lebens im Spital eines Landes, das er jahrelang um Heimatrecht anflehte. Vor Monaten saß ein andrer Staatenloser 24 Stunden lang bei Teschen auf einer Grenzbrücke zwischen Polen und der Tschechoslo wakei , Mitleidige— aus beiden Ländern— versorgten ihn mit Speise und gutem Rat, nur mit einem konnten sie ihn nicht versorgen: mit einem gültigen Paß. Endlich fand er Unterkunft— im Gefängnis. erweitert wurde, nicht enthalten. Ob- fion •fektive Beobachter, sagt der Korrespondent,»schätzen die Zahl der Getöteten auf �ngefähr 1000«, also genau soviel wie in der großen französischen Revolution un- der GuUlotine ihr Leben ließen. Der Orrespondent fügt seinem Bericht noch e'"schüttemde Einzelheiten über die Er- �üießung von vierzehn Gefangenen im 0nzentrationslager Lichtenburg hinzu. Diesen konkreten Mitteilungen setzt die eichsregierung kein Wort der Berichti- keinen Versuch der Ableugnung ent- �gen. Mag das Ausland glauben, was es �''> das Dritte Reich schweigt! Das ritte Reich denkt, mehr als einmal wird an die Wahrheit nicht mitteilen, nur «ne Polemik, die die Möglichkeit gibt, le Wahrheit zu wiederholen! Ein zweiter Fall, der die geänderte Tak- ük beweist. In Karlsbad ist im September Jahres bei der»Verlagsanstalt dieses raPhia« eine Sammlung von Berich- aus deutschen Konzentra- g 0llslagern erschienen. Was diese _ aunlung mitzuteilen weiß, ist geeignet, r, e bisherigen Berichte aus dem Dritten Keich Buch in den Schatten zu stellen. Das stell 13*■ e"le gewissenhafte Zusammentat UnS konkreter Anklagen. Zu jeder an?SaChe Werden Daten und Einzelheiten Uia efe�®n- Die Namen der Lagerkom- f�danten, alle SA- und SS -Leute, die für autw, die furchtbaren Grausamkeiten ver- al8 850 0rtlich sind und ihrer Opfer— mehr Namen— werden angeführt. Lei- Aufgabe- und Empfangsbestätigungen für das Buch Konzentrationslager! Adolf Hitler , Deine Opfer klagen an!" 1. Rückschein für die Sendung an Dr. Bumke. den Prüsidont�n j„„„,.... 2. Die Empfangsbestätigung des Oberreichsanwalts Dr Werner ��Auflahl bescheinlgung für die Sendung an Ado.f Hitler . Der Eing�™" BuThesV-�m nach mehrfacher Reklamation— am 18. Oktober hMtKHcrf cnes»si erst für das Reichsjusüzminlsterium und 5. für den Propagandaminister Dr. GöbbeK Die beiden Fälle sind nicht einzig. Aehn- llches ereignet sich auf Erden, kraß oder weniger kraß, allmonatlich, alltäglich, allstünd- llch. Denn mitten unter den aufgeklärten Staatsbürgern des 20. Jahrhunderts wandeln Gespenster umher, die es eigentlich gar nicht geben soUte, schleichen Wesen herum, die nicht registriert und deshalb im juristischen Sinne nicht existent sind: die Staatenlosen. Jeder gut bürgerlich— das heißt als guter Bürger_ Verstorbene ist lebendiger als sie, denn er ist mit all seinen Daten in den Büchern vermerkt, die die Welt bedeuten, und kommt sogar nach seinem Ableben noch in mehreren statistischen Berechnungen zur Geltung. Die Existenz eines Staatenlosen aber wird schlichthin geleugnet. Im Falle des Budapestor Selbstmörders und in vielen tausend ander e Fällen— sah das so aus; er versuchte Arbeit zu finden. Fand sie In Ungarn , wurde entdeckt und über die Grenze abgeschoben. Fand sie in der Tschechoslowakei , wurde entdeckt und über die Grenze abgeschoben. Fand sie in Ungarn ___ und so weiter, drei Jahre lang. Seine Frau verließ ihn. Wer wäre gern mit einem verheiratet, der nicht existiert? Manchmal geschah es, daß er über die Grenze befördert — und im Nachbarstaat»wegen unbefugten Grenzübertritts« sofort ins Gefängnis gesperrt wurde. Er wurde also— von Amts wegen für eine Handlung bestraft, zu der er von Amts wegen— gezwungen worden war. Ein Staat ließ ihn das Unrecht entgelten, das ein andrer Staat an ihm begangen hatte. Denn ein Staatenloser ist kein Mensch, er ist eine Lücke in der Gesetzgebung. »Willem, du rührst an die Weltordnung!« ruft in Zuckmayers»Hauptmann von Köpe nick « der Schwager dem Schuster Voigt zu. Ein Staatenloser rührt schon durch sein bloßes Vorhandensein an die Weltordnung. Wer ein Verbrechen begangen hat, womöglich ein schweres Verbrechen, ist immerhin j eine Kostbarkeit. Als der Eisenbahnatten-- täter Matuschka zur Verhandlung nach Un garn überführt wurde, mußte der ungarische Staat sich verpflichten, ihn nicht hinrichten zu lassen— damit auch in Oesterreich gegen ihn verhandelt werden könne. Welcher Staat sorgt sich darum, ob ein Staatenloser noch dazu einer, der keine Vorstrafen aufzuweisen hat— am Leben bleibt oder nicht? Verbrecher kann— und möchte— nicht jeder werden... Aber jeder kann staatenlos werden. Kriege werdön verloren, Länder wechseln den Besitzer. Verrückte kommen an die Macht, bürgern sich ein und erklären die Gesunden für ausgebürgert. Es stellt sich heraus, daß der Großvater, als er die Großmutter nahm, im urgroßmütterlichen Lande, wohin er übersiedelte, zu optieren vergaß— und das Unglück ist geschehen.( Wehe dem Menschen ohne gültigen Paß! Er stirbt, ehe er sich zu sterben entschließt, ein paarmal, stirbt in jedem Lande, in dem er vorübergehend unterschlüpft. Er braucht eine»Aufenthaltsbewilligung«, eine Bewilligung zum Aufenthalt— wo? Auf der Erde! Denn wo auf der Erde darf er ohne Aufenthaltsbewilligung leben? Die Aufenthaltsbewilligungen aber werden immer spärlicher, von Arbeitsbewilligung gar nicht zu reden. Denn jeder Staat hat mit seinen eignen Angehörigen zu tun(mit ihnen zu tun, weil er nichts für sie zu tun hat). Und so werden die Staatenlosen immer staatenloser. Und es werden ihrer mehr von Jahr zu Jahr. Die Länder, die noch ein wenig Aaylrecht gewähren— ihr Name wird in die Geschichte der Menschlichkeit eingehen werden seltener. Von Jahr zu Jahr. Die Aussätzigen des Altertums bekamen Täler angewiesen, in denen sie hausen durften_ Staatenlosigkeit ist der Aussatz unserer Tage. Wo aber sind die»Täler des Grauens«? Nicht einmal die gibt es mehr. Denn Staatenlosigkeit ist schlimmer als Aussatz und führt— wenn nichts geschieht— unweigerlich zum Tode. Der Staatenlose darf, wo er lebt, nicht arbeiten, wo er arbeiten dürfte, nicht leben. Er darf keine Unterstützung erbitten, sonst wird er ausgewiesen. Er darf sich nicht ausweisen lassen, sonst wird er anderwärts nicht aufgenommen. Er darf nicht leben und er kann nicht sterben, denn er, der Staatenlose, existiert in vielen tausend Exemplaren. Wer hilft? Kara.
Ausgabe
2 (9.12.1934) 78
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