Nr. 93 BEILAGE

Neuer Vorwärts

24. März 1935

Dee Stuer der deutschen Republik

wir

Wie ein englischer Schriftsteller ihn erlebte

Im Verlag von G. Allen and Unwin in nerpult, um seine erste Reichstagsrede zu, Papens unverhohlenem Entsetzen auf, und geschichtliche Tatsache, daß die deutsche London erscheint soeben das Buch» The halten. Entgegen seiner Gewohnheit ver- so blaß wie Wels, aber voll Wut, die Laute Republik , wenn sie auch ohne Kampf unter­fall of the German Republic « von R. T. Clark. Wir entnehmen der wichtigen las er ein sorgfältig vorbereitetes Doku- hervorsprudelnd, verlangte er noch einmal ging, nicht unterging ohne Protest. Nicht Publikation, deren Würdigung uns ment, dem man deutlich anmerkte, daß es das Wort. Jetzt war er ganz war er selbst. ohne Würde die Republik zugrunde vorbehalten, das folgende Schlußkapitel. von der Partei des Reichspräsidenten redi- Während er seinen Haß gegen den Marxis - gegangen, und was sie in ihrem Untergang Die Tragödie der deutschen Republik giert war, eine Rede, die noch im letzten mus ausspie, schrie ihm die Versammlung an Würde behielt, dankt sie den deutschen drängte zur letzten Szene. Scharf sprang Augenblick auf dringende Vorstellungen immer und immer wieder ihren Beifall zu, Arbeitern. Für den deutschen Liberalismus, der Terror auf. Er fand seine kennzeich- des Auswärtigen Amts hin in ihrem Ton und als er sich erschöpft niedersetzte, gab trotz seiner glänzenden Vergangenheit, nendsten Züge in einer brutalen, antisemi- gedämpft worden war, eine Regierungs - es eine Ovation, wie sie das Haus kaum hatte sich keine Stimme erhoben. Unter wüstem Gebrüll und wilden Dro­tischen Bewegung, die mit ihren Konzen- erklärung, farblos, rethorisch effektlos, noch erlebt hatte. Sodann erschien Kaas. trationslagern dem englischen Leser jetzt ausgenommen die Momente, in denen der Glatt, prälatenhaft freundlich. Er erklärte, hungen gegen die einzige Gruppe des ebenso bekannt ist wie die Folterkammern Führer, die ihm gesetzlichen Grenzen strei- daß das Zentrum offenbar befriedigt Reichstags, die ihre Ehre nicht verloren der Inquisition und die Marterpfähle der fend, seine Augen von dem Schreibmaschi- durch den rednerischen Ausbruch von vor- hatte, erklärte der Präsident den Reichstag Rothäute. Weniger bekannt ist die völlige nenbogen abwandte. Ein zweiter Beifalls- hin für das Gesetz stimmen werde, das für vertagt, bis es der Regierung gefallen Kapitulation der Parteien und der Länder ausbruch, dem ein viel gewaltigeres Echo der Kanzler begründet hätte. Das Zentrum, würde, ihn wieder zu berufen. Die Diktatur sowie der Kampf, der sodann innerhalb der hatte sich in Formen der Legalität etabliert. siegreichen Mehrheit begann Die deutsche Republik hatte aufgehört, zu sein.

die von

Hitler beliebte Politik des Kuckucks- aber das gehört nicht mehr zur Geschichte der Republik , sondern zu der des Dritten Reichs , deren Ende noch nicht gekommen ist.

Die letzte Einzelheit, die zu ordnen war, war die konstitutionelle Erledigung des Reichstags, der zum 16. März einberufen war, um die absolute Gewalt an die Regie­rung zu übertragen. Das erste war, daß man die Kommunistische Partei für illegal erklärte und den legalen Terror gegen sie losließ. Die zweite Aufgabe war, die bei­den anderen Parteien, die vielleicht stand­halten konnten, zu bezwingen, denn in ihrem naiven Vertrauen auf die Leichtgläu­bigkeit des Auslands wünschte die Regie­rung nicht nur die verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit, sondern ein einstim­miges Votum. Mit dem Zentrum wurde nach langem Handeln eine Vereinbarung zustande gebracht. Entsprechend seinem Prinzip, sich niemals auf eine. oppositionelle Haltung festzulegen, erklärte das Zentrum sich bereit, für das Ermächtigungsgesetz zu stimmen. Das war ein schändlicher Akt der Unterwerfung, für den es seinen Lohn erhielt, wenn auch nicht gerade denjeni­gen, den es mit Papen ausgehandelt hatte. Aber auch nach der Ausschließung Kommunisten und dem Kompromiß mit dem Zentrum blieben noch die vereinsamten Gestalten der Sozialdemokratie. Sie waren manchmal zurückgeschreckt, wo geringe­rer Anlaß dazu war. Sie hatten sich schwächeren Stürmen gebeugt. Aber jetzt, wie sie es auch 1918 getan hatten, dach­ten sie nur daran, daß sie Deutsche wa­ren. Alles war verloren. Ihre Welt in Trüm­mern, die Genossen im Gefängnis oder im Exil, die Anhänger eingeschüchtert und geschlagen. Und doch gab es noch etwas wie eine deutsche Ehre, und sie, die deut­ schen Sozialdemokraten, waren jetzt ihre letzten Verteidiger. Jede nur denkbare physische und moralische Pression wurde ausgeübt bis zum letzten Augenblick der Abstimmung, damit sie für die Regierung stimmen oder sich wenigstens der Stimme enthalten sollten.

der

Die letzte Parlamentssitzung, die man mit einem gewissen Schein von Recht noch als frei bezeichnen kann, fand in der Kroll­

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Sie John Simon inmitten Nazi- Militärs

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erlaubt haben, zu kommen! Was?«

Oper statt. Es war ein seltsames und lehr-» Tag, Herr Simon! Nett von uns, daß wir Ihnen doch reiches Schauspiel. Auf der einen Seite die gedrängt vollen Bänke der Nationalsozia­listen, bunt von Uniformen, staatlichen Uniformen, Uniformen eigener Erfindung

und frisch gewaschenen Braunhemden. von draußen antwortete, dann ging er zu-| das einem Bismarck getrotzt und ihn ge­Dann die Deutschnationalen in Gehrock rück zu seinem Sitz.

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oder Uniform, etwas verängstigt und er- Ein Augenblick Pause und dann rief regt. Die Zentrumsleute unsicher aber doch der Präsident plötzlich den sozialdemokra­nach abgeschlossenem Handel vergnügt. In tischen Redner auf. Für eine Sekunde ver­ihren dunklen Reihen bleiben die Demokra- breitete sich Todesschweigen im Hause, ten unbemerkt. Dann die Sozialdemokra- während

schlagen hatte, kroch nun vor einem Hit­ler. Ein seltsames Schauspiel für den nach­denklichen Betrachter der Menschheitsge­schichte!

An ihre Stelle trat der Terror, der Deutschland in die Wildheit zurückschleu­derte, der legale Terror, der kulturelle Terror, der künstlerische Terror, der mo­ralische und der physische Terror. Man kann leicht angesichts all dieser Schrecken das seelische Gleichgewicht verlieren und mit ihm die Fähigkeit, zu unterscheiden, was nur augenfällig und was wirklich wichtig ist. Die Exzesse einer halberzoge­nen, neurasthenischen, phrasentrunkenen, und über alle Grenzen des Bewußtseins und der Scham hinaus fanatisierten Jugend sind wahrhaft grauenhaft. Aber sie sind unver­meidlich, sie sind einfach der Sieg des Untermenschlichen, und ein solcher Sieg wird immer solche Erscheinungen zeitigen. Viel grauenhafter noch ist die Tatsache, daß Deutschland , das zivilisierte Deutsch­ land , das die volle sittliche und gesetzliche Verantwortung für das alles trägt, diese Exhibitionisten der Untermenschlichkeit als Nationalhelden behandelte Schändung einer ruhmreichen Geschichte! Viel grauenhafter ist es, daß die Edelsten Deutschlands , der Reichspräsident, der alte Adel, das Richtertum Beistand leisteten, während die Kanaille raste, daß sie den Taten bestialischer Grausamkeiten zu­stimmten, daß das Offizierskorps daneben stand mit einer zynischen Gleichgültigkeit, die nicht nur allen für unwahrscheinlich gehaltenen Gerüchten Wahrscheinlichkeit verleiht, sondern auch jedem Ehrenmann Recht gibt, der sich in Zukunft weigert, dem Träger einer deutschen Uniform die Hand zu reichen. Und das grauenvollste von allem: während die Freiheit in blutige Nacht versank, nahm kein Deutscher, kein Nachkomme des Arminius die Waffen zur Hand und kämpfte. Das tat nur ein armer Judenjunge, der wahnsinnig geworden war, als er gesehen hatte, wie seine Mutter ge­schlagen wurde, bis sie das Bewußtsein verlor.

ewige

Das Herrenvolk

Offiziere wünschen mehr Zivilcourage! In der Zeitschrift des Reichsverban­des Deutscher Offiziere veröffent­licht Johann von Leers einen Artikel, in dem er allerhand braune Uebel anschneidet. Der Kritiker gesteht dabei mehr, als er wohl gestehen will. Das Führerprinzip, klagte er, werde mißbraucht, wenn jeder Stamm­tisch seinen Führer wähle. Ebenso lächerlich sei das Spiel mit der Parteizuge­hörigkeit:

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» Der Mieter hat Streit mit dem Haus­wirt schon wirft er sich in die Brust: >> Als ich schon Nationalsozialist war, da wa­ren Sie noch eine schäbige Demokröte!< Das hat mit der Frage der Treppenreini­gung nichts zu tun, und doch kann man diese Beweisführung immer wieder hören. Zwei Menschen streiten sich über eine Frage aus der deutschen Geschichte

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schon wirft sich einer in die Brust:» Ich bin doch Parteinummer soundso viel meine Auffassung ist die allein nationalsozialistische!<< Dabei kann zuge­standen werden, daß es große Teile Geschichtswissenschaft, der Kriegsgeschich­

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der

Die Abstimmung erfolgte inmitten eines von draußen die drohenden aufgeregten Getümmels, das einer Toten­ten. Einige vom Typ der Gewerkschafts- Sprechchöre der SA hereindrangen. Weiß stille wich, als der Präsident die Zahlen funktionäre, andere vom Typ der Intellek- bis in die Lippen, den Mund zusammenge- verlas. Für die Regierung 441, gegen sie tuellen, blaß und schweigend. Und schließ- preßt, mit harten Zügen, in sichtbarem 91. Bis auf den letzten Mann hatten die lich der leere Raum, in den die Kommu- Bewußtsein der Schwere, des Ernstes und anwesenden Sozialdemokraten gegen das nisten gehörten. Gegenüber, auf den Bän- der Gefahr des Augenblicks, bestieg Otto Gesetz gestimmt. Eine glänzende Geste, ken der Regierung, erschien als erster Dr. Wels laßt uns trotz aller begangenen würdig einer langen Ueberlieferung. Man Josef Göbbels , der im letzten Augenblick Fehler dieses Namens gedenken langsam mag sich daran erinnern, daß die Sozial­aus Gründen, die er selber am besten kennt, die Rednertribüne. Den Kopf leicht ge- demokratische Partei mit einer ähnlichen, in die Regierung als Propagandaminister senkt, aber die stämmige Gestalt gestrafft, zwar vergeblichen, aber ausgezeichneten sozusagen hineingeworfen worden war. die Schultern hochgezogen, als ob er in ein Geste in die Geschichte eingetreten war Ueber allen das breitlächelnde Gesicht des Gewehrfeuer hineinschritte. In etwas mono-( dem Protest gegen die Annexion von Präsidenten Hermann Göring . Darüber und toner Weise gab er die Erklärung seiner Elsaß- Lothringen . Red. N. V."). Diese Ja, wenn das so einfach wäre! Auf die rund herum, Kopf an Kopf, die Masse der Partei ab. Sie könne für dieses Gesetz nicht letzte Geste war von derselben Art, und Zuhörer, vom Prinzen bis Bauern. stimmen, damit würde sie ihre Vergangen- sie war nicht weniger glänzend, weil die Wahrheit steht in Hitlerdeutschland entweder Und draußen die ungeheure Masse der SA- heit verleugnen. Die Regierung könne ihr Zeit für Gesten jeder Art vorüber war und Maßregelung oder KZ. Der totale Staat ver­Truppen, hier, dort, überall! Eigentum und Leben nehmen, die Ehre nichts anderes die Folge sein konnte als langt ganz offen, die Wissenschaft habe ledig­eines Höllenge- Kerker oder Exil. Es war eine nutzlose lich ihm zu dienen. Der braune Herr Leers Die Sitzung war kurz. Inmitten eines nicht. Als Wels inmitten Beifallssturms ging der Kanzler zum Red- brülls die Tribüne verließ, sprang Hitler zu Geste und doch eine notwendige. Es wurde wagt sich damit nicht auseinander zu setzen,

zum

te wie der politischen Geschichte gibt, über die überhaupt keine nationalsozialistische Auffassung existiert. Im übrigen: die beste nationalsozialistische Auffassung einer wis­die senschaftlichen Streitfrage ist immer: Wahrheit. <<