Nr. 104 BEILAGE

Neuer Vorwärts

9. Juni 1935

Mach Canossa gehen wie nicht!"

Bismarcks» Kulturkampf«<- Niederlage und ihre Lehre

jagen

könne.

Wir

hätten Unter­drückungsgesetze in Deutschland genug; wir brauchten keine neuen.«( Aug Bebel: >> Aus meinem Leben.« Zweiter Bd. S. 256) Bei einer späteren Jesuitendebatte im sagte Wilhelm Lieb­

Es ist eine Binsenwahrheit, daß die Ge-( einer Erörterung machen« unter schwere| zu weit gingen, aber in Wahrheit war ihm schichte sich niemals wiederholt. Aber Strafen gestellt wurden. In Bayern und sein Werkzeug Falk keineswegs entschie­manchmal gibt es im Verlauf von Jahr- in Hessen kam die Einführung der Simul- den genug. hunderten Kompositionen, deren innere tanschule hinzu. Zur Revanche dafür ver- Unter den Katholiken entwickelte sich Verwandtschaft augenscheinlich ist, auch bot Bischof Ketteler in Mainz unter das Gefühl wirklichen Verfolgt- Reichstage wenn sich die politischen, sozialen und kul- anderem die kirchliche Feier des Sedan - seins und echten Martyriums, knecht: turellen Phänomene grundlegend verän- tages. ein opferbereiter Katakombengeist, dessen dert haben. Dazu gehört das Kapitel: Die erste Verfolgungswelle gegen wider- Tradition unter den älteren Katholiken katholische Kirche und Staat. spenstige Priester setzte ein. Sie wurden noch bis heute bewahrt wird. Gleichzeitig Es hat unzählige Varianten erlebt, mit scharenweise von den Kanzeln herunter, wuchs die politische Widerstandskraft des Siegen und Niederlagen auf beiden Seiten, von denen sie Protestkundgebungen verla- Katholizismus. Die Zahl der Zentrumsmit­aber immer wieder brach der tiefe Gegen- sen, verhaftet, unter Anklage gestellt oder glieder im Reichstag stieg bei jeder Wahl satz aus den beiderseitigen Ansprüchen ausgewiesen. Der Kölner Erzbischof Mel- und war schließlich auf hundert und mehr auf den Menschen hervor. Im Jahre 1077 chers wurde achtundzwanzig Wochen, angewachsen, da selbst Bismarck das pro­beugte, um nur diese Episode aus diesem der Posener Erzbischof Ledochowski bate Mittel der einfachen Auflösung der wechselvollen Kampfe der Vergangenheit zwei Jahre in Haft gehalten. Die Bischöfe Partei und der Kassierung der Mandate, zu nennen, der deutsche Kaiser Heinrich von Münster, Paderborn , Limburg und der heute das» totale Machtrezept<< des Drit­IV. auf der Feste Canossa demütig die Fürstbischof von Breslau verloren ihre ten Reiches, ebenso wenig anzuwenden

Knie vor dem mächtigen Papste Gregor VII. » Nach Canossa gehen wir nicht!<< sagte Bismarck am 14. Mai 1872 im deutschen Reichstage, als der Papst Pius IX. ihm den Kardinal Fürsten Hohenlohe als deutschen Botschafter in Rom abgelehnt hatte. Es war der Auftakt des>> Kulturkampfes« gegen die ka­ tholische Kirche mit ihrer religiösen und organisatorischen Spitze in Rom , der fast fünfzehn Jahre andauerte und das deut­ sche Volk in allen seinen Ländern und Be­kenntnissen aufs tiefste erschütterte, bis er mit der völligen Niederlage der Bis­marckschen Politik besiegelt wurde.

*

Wieder ist ein» Kulturkampf<< losge­brochen. Er ist diesmal viel tiefer gegen die religiös- weltanschaulichen Grund­lagen der Kirche gerichtet als vor fünfzig Jahren, weil heute die Kirche nicht nur vom politischen Machtanspruch, sondern stärker noch vom» Neuheidentum<< des Dritten Reiches bedroht ist. Jüngst hat sich in einer Massenkundgebung in Mün­ chen ein brauner Führer der zweiten Gar­nitur, der Münchener Oberbürgermeister, gegen den Papst und gegen den Kardinal Faulhaber drohend mit jenem Bismarck­zitat gewandt:» Nach Canossa gehen wir nicht!<<, und die vieltausendköpfige Menge spendete ihm tosenden Beifall. Bei der drohenden Zuspitzung des Konflikts zwi­schen dem Vatikan und dem Dritten Reich , der Millionen von Gläubigen in die schwer­sten Gewissenskonflikte bringt, ist ein Ver­gleich mit den Kämpfen der siebziger und achtziger Jahre sehr lohnend. Ihnen hat der große Mediziner und weniger große Politiker Virchow , dessen Schriften übrigens heute auf dem braunen Index stehen, den ominösen Namen» Kultur­kampf gegeben.

JUGOSLAVIEN

322

GRIECHENLAND

HAUS BALKAN

RUMÄNIEN

BULGARIEN

PETROLEUM

REKHSTA

Brandstiftung gefällig?

» Wir stimmen gegen dieses Jesuiten­gesetz im Namen der Prinzipien unserer Partei. Wir tun es nicht aus Liebe für die der katholische Kirche , obwohl ich auch katholischen Kirche gegenüber durchaus nicht die kleinlichen Antipathien teile, welche man auf sogenannt liberaler Seite legt. Ich habe im Gegenteil großen Re­spekt vor der katholischen Kirche . Sie hat eine ganz gewaltige Lebenskraft. Das hätten die Herren von der Lin­ken, die die katholische Kirche mit ein paar Kulturkampfge­setzen, wie mit Kegelkugeln um­zuwerfen vermeinten, nachge­rade lernen sollen.<

Solche Anrufe verfingen indes bei Bis­ marck und den Liberalen nur wenig. Die Wende kam aus dem Reiche der Politik. Im Jahre 1878 starb Pius IX. , und der mil­dere Leo XIII . trat an seine Stelle. Bis­ marck brauchte jetzt die parlamentarische Hilfe des Zentrums in den Jahren der Kon­fliktszeit mit den Liberalen. Es ging um die Schutzzölle, um das Tabaksmonopol, und er schloß seinen Pakt mit der bisher so verhaẞten Partei. Die Etappen des allmählichen Abbaues aller Kampfgesetze in den Jahren von 1880 bis 1887 interes­sieren heute nicht mehr. Schon im Som­mer 1879 war der Kampfminister Falk ent­lassen und durch Gosler ersetzt worden. Der völlige Friedensschluß mit dem Zen­trum und gleichzeitig mit Rom war nur eine verschämte Verhüllung der völli­gen Niederlage Bismarcks. Sein >> Canossa« drückte er in den» Gedanken und Erinnerungen « sehr zart mit dem Satze aus, daß er sich durch die Praxis überzeugt habe, die juristischen Einzelhei­ten seien» nicht richtig gegriffen<< gewe­sen. Einem französischen Priester erklärte er, daß man nicht gegen das Ge­wissen von zwei Fünfteln der Bevölkerung regieren könne.

Man weiß nichts darüber, wie Bismarck zu dem Gedanken einer Einheits- und Na­tional- Kirche stand, mit dem Ziel eines protestantischen oder evange lischen Kaisertums, das in gewis­sen liberalen und protestantischen Kreisen offen verkündet wurde. Fest steht nur, daß am Ende der Kampfzeit katholisch > Trumpf« in der deutschen Politik wurde, bei gleichzeitiger Stärkung des Einflusses der katholischen Kirche . Aber Bismarck hatte noch einen weit folgen­schwereren Miẞerfolg zu bu­chen: im katholischen Westen dauerte die politische und psychologische Ableh­nung des Preußentums noch lange weiter, im Osten hatte die polnische Werbung un­ter den Katholiken leichteres Spiel als zuvor, und in Elsaß- Lothringen verharrte die katholische Mehrheit in geschlossener Feindseligkeit. 1878 war das längst offen­sichtlich, aber dennoch wagte der Unbe­lehrbare den neuen politischen und welt­anschaulichen Kampf, der für ihn mit einer noch größeren Niederlage enden sollte: das Sozialistengesetz.

Pius IX. , der damalige, sehr streit­bare Papst, hatte den schmerzlichen Ver­lust des selbständigen Kirchenstaates mit­telbar den deutschen Heeren zu verdanken. Bei Ausbruch des Krieges von 1870 mußte Napoleon III. die französischen Truppen, die das kleine päpstliche Land beschütz­ten, zurückziehen, worauf die Italiener Rom besetzten. Bis dahin hatte Bismarck mit der Kirche, selbst mit den Jesuiten , im besten Einvernehmen gestanden. Aber nun erschien im jungen Reichstag auf einmal eine katholische Fraktion mit 57 Mitglie­Aemter. Diese Maßregeln standen im wagte, wie gegen die Sozialdemokratie zur dern, ein wenig farblos» Zentrum< ge­nannt, die, von den katholischen Interes- engsten Zusammenhang mit dem Kirchen-| Zeit des Sozialistengesetzes, obwohl bei ihm Eine brutale Despotie führt heute den befehl Pius IX. vom 5. Februar 1875, wo- die Scheu vor gelegentlichen Verfassungs- Kampf gegen die Kirche mit viel gewalt­sen abgesehen, das Sammelbecken der par­rin alle deutschen Kirchenge- brüchen nicht stark entwickelt war. sameren und ganz anderen propagandisti­tikularistischen Opposition aller Grade ge­schen Mitteln, als sie Bismarck zur Ver­gen den neuen Reichszentralismus wurde: setze für ungültig erklärt und Bayern , katholische Polen , katholische den Geistlichen verboten wurde, ihnen zu In den parlamentarischen Stürmen um fügung standen, der, verglichen mit Hit­protestantische Welfen. gehorchen. Als Antwort darauf stellte der die Kulturkampfgesetze zeichnete sich die ler und den Seinen, fast noch ein Reprä­Windthorst übernahm die Führung, preußische Staat alle finanziellen Leistun- Haltung der Sozialdemokratie sentant freiheitlicher Gesinnung und Ach­Sie tung der Volksrechte gewesen ist. Gewiß und es begann der große politische Zwei- gen an die Kirche ein und hob gleichzeitig durch Sicherheit und Klarheit aus. kampf zwischen Bismarck und ihm, des- alle Orden und Kongregationen auf, mit beruhte auf der Grundlage der Gleichbe- war damals die Zahl der gefangenen und der Gewissensfreiheit in vertriebenen Oberhirten und Priester grö­sen Details sich im Gegensatz zu heute Ausnahme derjenigen, die sich mit Kran- rechtigung und offen auf der parlamentarischen Tribüne kenpflege befaßten. 1877 waren in Preu- religiösen Fragen und gegenüber der Ber als bisher im Dritten Reiche, wobei Kirche. In der Reichstagssitzung vom 19. man bedenken muß, daß die heftige Aera und in der Presse abspielen konnten. Bis- Ben vierzehnhundert Pfarreien verwaist. Die Kulthandlungen wurden vielfach Juni 1872 führte August Bebel in des Kulturkampfes fast sechs Jahre marck machte sofort einen scharfen Mann< zum preußischen Kultusminister, bei Nacht und Nebel verrichtet. Gefähr- einer scharfen Polemik gegen Bismarck währte. Im Kampf gegen Bismarck aber Adalbert Falk , den Verantwortlichen dete Priester wurden von ihren Getreuen und die Liberalen, die den Gewissenszwang führten die politischen und priesterlichen die Grenze ge- in Glaubensfragen vertraten und den Kanz- Vorkämpfer in der Presse, in den Parla­der> Maigesetzes von 1873, durch auf Schleichwegen über menten und von der Kanzel herab eine die die staatliche Schulaufsicht und die bracht. In seinen» Gedanken und Einne- ler unterstützten, unter anderem aus: >> Man bekämpfe den Jesuitismus mit einem sehr offene Sprache. Wagte heute ein Vertreibung der Jesuiten durchgeführt rungen« spricht Bismarck von den> ehr­Ausnahmegesetz, und die Folge werde sein, Geistlicher oder ein katholischer Politiker wurden. Besonders erbitternd wirkte der lichen, aber ungeschickten preußischen daß sein Anhang größer werde, als er je gewesen. Die Masse der Menschen ein Zehntel von dem, was damals im­Kanzelparagraph, wonach Geist- Gendarmen, die mit Sporen und Schlepp­sympathisiere mit den Verfolg- merhin noch passieren ungehindert liche, die bei Ausübung ihres Berufes säbel gewandten und leichtfüßigen Prie­ten. Es gehe nicht an, ein Gesetz zu konnte: viele Jahre Zuchthaus oder Kon­> Angelegenheiten des Staates in einer den stern durch Hintertüren und Schlafzimmer öffentlichen Frieden gefährdenden Weise nachsetzten.<< Bismarck tat so, als ob ihm zum Gegenstand einer Verteidigung oder manche» kleinliche Kreisrichterschikanen<<

Elsässer

und

erlassen, wonach man einen Menschen

heimatlos machen und wie ein wildes zentrationslager wäre ihnen sicher, wenn Tier von einem Orte zum andern sie dahin überhaupt noch gesunden Leibes