Nr. 113 BEILAGE Iktccltaarfe 11. August 1933 Von Treitsdike zu Streidiei* Wandlungen des Berliner Antisemitismus Aber die Bedeutung Stöckers als feuriger antisemitischer Werber versinkt gegenüber derjenigen von Heinrich von Treitschke . Die jüngere Generation macht sich kaum eine Vorstellung von der Stärke seines geistigen und politischen Einflusses, der in Jahrzehnten erhalten büeb. 1834 in Dresden als Sohn eines sächsischen Generalleutnants geboren, eines tschechischen Emigranten, wurde er schon als junger Historiker ein leidenschaftlich-pathetischer Lobredner des Preußen- und Hohenzollerntums. 1874 hatte er nach Rankes Tod dessen Berliner Lehrstuhl erhalten, womit er zugleich Hi- noch heute. Aber nicht nur darin unterscheidet sie sich von den stümpernden antisemitischen Schriftstellern von heute. Zwar berufen sich die Nationalsozialisten immer wieder auf ihn und rufen ihn zum Zeugen auf, in allen entscheidenden Dingen jedoch sehr zu Unrecht Ihm fehlte gänzlich die rassisch-völkische Betonung der Judenfeindschaft, Seine Motivierung des Antisemitismus stützte sich auf die Forderung der Zurückdrängung des jüdischen Einflusses in Deutschland. (In einem Aufsatz»Preußische Jahrbücher «, 1879) beschäftigte er sich mit der Frage, warum man in Frankreich und in England das Das große Vorbild Der mit der Domäne Brüssow beschenkte Mackensen hat seinen Austritt aus dem Stahlhelm erklärt. Die Treue ist das Mark der Ehre! Die»Preußischen Jahrbücher « gehen ein. Sie wurden von 1867 bis 1889 von Heinrich von Treitschke redigiert. Es ist eine von der Geschichte vielfach bestätigte Wahrheit, daß sich die Wandlungen der Zeit viel stärker auf ihren dunklen Blättern verdeutlichen als auf denjenigen, die vom menschlichen und ge- sellschaftüchen Fortschritt zeugen. Für nichts gilt das mehr als vom Antisemitismus. In diesen Tagen, wo Streichers »Stürmer« allwöchentlich in hunderttausend Exemplaren über Berlin flattert und die Niedrigen und die Dummen zu Pogromen aufputscht, wird man an vergangene Jahrzehnte erinnert, wo der Antisemitismus gleichfalls die aktuelle Tagessensation der Reichshauptstadt war. Eis hat ihm im Laufe des 19. Jahrhunderts nicht an feurigen Propagandisten, an Demagogen ohne Scham und Gewissen gefehlt, wenn die politische und wirtschaftliche Lage die Präsentation von»Schuldigen« verlangte, Es gab Jahre, wo der Antisemitismus Bekenntnis mächtig aufwühlender Massenkundgebungen war, damals, als das Wort vom»Sozialismus der dummen Kerle« umging und die politisch und gewerkschaftlich organisierte Arbeiterschaft gegen ihn immun machte. In allen politischen und sozialen Machtkämpfen der Vorkriegszeit kann man bei näherer Prüfung mühelos entdecken, daß offen oder versteckt immer wieder die Judenfrage an den Fronten auftauchte und die Geister schied. » Aber welch ein Unterschied! Der Antisemitismus vergangener Jahrzehnte vollzog sich in den Formen eines zivilisierten Zeitalters, die die von den elementaren Menschenrechten gezogenen Grenzen nicht überschritten. Das religiöse und das wirtschaftliche Motiv des Antisemitismus standen im Vordergrunde. Die völkische oder rassische Begründung blieb lange gänzlich un entdeckt oder völlig belanglos. In den Tagen der Romantik, nachdem die Judenemanzipation die alten Barrieren endlich geöffnet hatte, gehörten die Salons der Elite der jüdischen Bourgeoisie zu den geistigen Mittelpunkten der Reichshaupt- stadt Schleiermachers Beziehungen zu Henriette Hertz und Friedrich Schlegels Freundschaft mit Dorothea Veit beweisen, daß bei diesen hervorragenden Deutschen das Rassenbewußtsein nur' schwach entwickelt war, und ohne arische Proteste konnte Varnhagen v. Ense seine geliebte Rahel Lewin heiraten. Von Antisemitismus als einer Bewegung kann erst seit den siebziger Jahren gesprochen werden, als die giftige Saat des französischen Milliardenunsegens mit dem Spekulationsfieber der Grün- derperiode aufgegangen war. Sie betraf vor allem Berlin , das Zentrum der Börse, obwohl jüdische wie christliche Bankhäuser an den Tänzen um das goldene Kalb in gleicher Weise beteiligt waren. Als erster Trommler trat der Hof- prediger Stöcker 1878 auf den Pinn, mit der Gründung einer christlichsozialen Arbeiterpartei. Er wollte zu Beginn des Sozialistengesetzes den Arbeitern soziale Reformen bieten, und das Bindeglied zu den Konservativen sollte ein populärer Antisemitismus sein. Stöcker, von seinen Freunden»zweiter Luther« genannt, besaß eine mächtige Beredtsamkeit, Mutterwitz und demagogische Lügenkunst. Er gewann Massenversammlungen, aber dennoch keine Massen, denn sehr schnell Wurde seine kirchlich-orthodoxe Hintertreppenabsicht zum Zweck der Verherrlichung des absoluten König- und Junkertums offenbar. Bismarck ließ ihn gewähren. Aber als Stöcker Bismarcks Leibbankier Bleichröder anzugreifen begann, wollte ihn der Kanzler aus Berlin ausweisen lassen,— eine Maßregel, die der alte Kaiser Wilhelm im letzten Augenblick verhinderte. Stöcker bUeb noch eine Weile der Magnet radaulustiger Studenten und einer Schicht Unpolitischer aus allen Kreisen, bis es mit seinem Einfluß gänzlich zu Ende war. * storiograph des preußischen Staates wurde. Seit früher Jugend schwerhörig, bis zur völligen Taubheit im Alter, erhitzte er mit seiner dröhnenden Stimme die nationalistische akademische Jugend. Die Objekte seiner kämpf- und schimpffreudigen Angriffe waren Kosmopolitismus, Internationalismus und Sozialismus. Ihn vor allem haßte er, weü er in der Sozialdemokratie den Hauptwidersacher seiner Blut- und Eisenideale erblickte. Der nächste Schritt ging zu Stöcker. 1880 erschien seine Schrift:»Ein Wort über das Judentum«, und ihr folgten viele Aufsätze mit ähnlicher Tendenz. Er wurde der Repräsentant der»geistigen J u d e n f e i n d s c h a f t konservativer Prägung, kennzeichnend für die Ideen seiner Epoche. Die Lektüre Heinrich von Treitschkes fesselt wegen der souveränen Beherrschung des historischen Apparats und ihres stilistischen Schliffs Judenproblem anders sähe als in Deutsch land . Seine Antwort lautete: »Die Israeliten des Westens und des Südens gehören zumeist dem spanischen Judenstamme an, der auf eine vergleichsweise stolze Geschichte zurückblickt. Sie sind in ihrer großen Mehrzahl gute Franzosen, Engländer, Itali ener geworden... Wir Deutschen aber haben mit jenem polnischen Judenstamme zu tun, dem die Narben vielhundertjähriger christlicher Tyrannei sehr tief eingeprägt sind.« Welche Schlußfolgerung zieht er aus dieser Erkenntnis? Sie ist noch überraschender: »Was wir von unseren israelitischen Mitbürgern zu fordern haben, ist einfach: s 1 e sollen Deutsche werden, sich schlicht und recht als Deutsche fühlen— unbeschadet ihres Glaubens und ihrer alten heiligen Erinnerungen, die uns allen ehrwürdig sind... Es wäre sündlich zu vergessen, daß sehr viele Juden, getaufte und unge- taufte, Felix Mendelssohn , Veit, Rießer u. a. — um der Lebenden zu geschweigen— deutsche Männer waren im besten Sinne, Männer, in denen wir die edlen und guten Züge deutschen Geistes verehren. Bs bleibt aber ebenso unleugbar, daß zahlreiche und mächtige Kreise unseres Judentums den guten Willen, schlechtweg Deutsche zu werden, durchaus nicht hegen.« Die Juden sollen sich als Deutsche fühlen — dieser Satz von Treitschke bitterlich ernst gemeint, würde ihm heute auf dem Lehrstuhl einer deutschen Universität wegen groben Verstoßes gegen die nationalsozialistische»Weltanschauung« ganz unmöglich machen. Sein Antisemitismus war noch humanitär, er differenzierte unter den Juden, er spielte die»Guten« gegen die»Schlechten« aus, nicht ahnend, daß eine solche Anschauung die rassische Unterwertigkeit des gesamten Judentums außer Acht ließ, die heute zur Programmatik der wahren deutschen Volksgemeinschaft gehört. So nimmt es nicht wunder, daß sein ganzes antisemitisches Schrifttum von solchen Verstößen gegen die Wotanslehre wimmelt. Folgendes Bekenntnis, das Heinrich Heine gegenüber Ludwig Börne in die Reihe der wahrhaft deutschen Dichter erhebt, dürfte ihm vor keinem Richterstuhl in Walhall jemals verziehen werden: »Heines unsterbliche Werke sind die schlechtweg deutsch - empfundenen Gedichte: so die»Lore- ley«, dies eohte Kind deutscher Romantik, so jene herrlichen Verse:»Schon tausend Jahr aus Gräcia «, die noch einmal alles zusammenfaßten, was die Deutschen seit Winckelmanns Tagen über die Schönheit der hellenischen Welt gesungen und gesagt hatten. Heine ist sogar In seiner Sprache, wie alle unsere großen Schriftsteller, nicht ohne einen leisen landschaftlichen Anklang, als der Sohn des Rheinlandes... Heute haben die wirklich bedeutenden und gesunden Talente unter unsern jüdischen Künstlern und Gelehrten längst eingesehen, daß sie nur auf den Bahnen des deutschen Geistes Großes erreichen können, und sie handeln danach.«(Preußische Jahrbücher, 1880) Leider wirkt die Wiedergabe dieser Sätze, wir sind uns dessen bewußt, wie eine nachträgliche Denunziation. Sie dürften dazu führen, daß die Schriften des großen nationalistischen Pathetikers und Antisemiten vierzig Jahre nach seinem Tode auf den Index des»totalen« Staates kommen. Treitschke hatte noch keine Ahnimg von Blut und Boden, von Rassenehre und Rassenschande und von der angeborenen Unfähigkeit des Juden, die deutsche Seele zu begreifen. Man wundert sich daher nicht, wenn er 1879 in den »Preußischen Jahrbüchern « ausruft, daß er in Deutschland keinen verständigen Politiker kenne, der die vollzogene Tatsache der bürgerlichen Gleichberechtigung der Juden umstoßen möchte. Eine solche Tat wäre ein offenbares Unrecht, ein Abfall von den guten Traditionen unseres Staates und würde den nationalen Gegensatz, der uns peinigt, eher verschärfen als mildem. Aber, so fährt er fort,»unsere jüdischen Mitbürger müssen sich rückhaltlos entschließen, Deutsche zu sein, wie es ihrer Viele zu ihrem und unserm Glück schon längst geworden sind.« Das ist bereits ein stark antiquierter Antisemitismus. Glücklicherweise glich Treitschke seine Unfähigkeit, die nationalsozialistische»Weltanschauung« vorauszuahnen, dadurch aus, daß er gelegentlich zum Jubel seines studentischen Auditoriums über die»krummen Nasen« der Juden höhnen konnte. Aber was hilfts? In allem Grundsätzlichen haperte es bei ihm. Er ging sogar so weit, den Juden die christliche Taufe anzuraten, damit ihnen die Eingliederung und Einfühlung in deutsches und christliches Wesen leichter falle. » Sechzig Jahre später: Wie mächtig ist der große Judenfeind Treitschke übergip-
Ausgabe
3 (11.8.1935) 113
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