Verlag; Karlsbad , HausGraphia" Preise und Bezugsbedingungen siebe Beiblatt letzte Seite Wer regiert in Deutschland ? Schwere innere Kämpfe des Systems Nr. US SONNTAG, 23. Augasi 1935 Aus dem Inhalt; Die SAI und Abessinien Kastration als Strafe Die Gewalt in der Politik Sch ipperkrank hei t der nachfolgenden Abrechnung. Schacht hat in Königsberg das Wort geprägt; Wir sitzen alle in einem Boot. Er raeinte es wirtschaftlich aber es gilt noch viel stärker politisch. Dies System ist ein Konglomerat von Kräften und Interessen, in dem nicht nur objektive Tendenzen die Krämpfe der Politik beeinflußen, sondern auch persönliche Kämpfe und Interessen. Es zerfällt wie kein anderes in Gruppen und Cliquen, und bricht ein Stein heraus, so stürzt alles ein. Darauf beruht die Machtstellung der persönlichen Träger des Systems gegeneinander, die Hitlers , Schachts und Blombergs. Hitler kann von den beiden andern nicht los, aber die bei­den andern auch nicht von ihm. Wer den Versuch machen wollte, würde dann irgendwie im luftleeren Raum hängen. Außer dieser gegenseitigen Abhängig­keit treibt sie alle gemeinsam noch eine andere Kraft: Die deutsche Kriegsrüstung. Darauf beruht die politische Ideologie des Systems, wie seine wirtschaftliche Exi­stenz. Die gesamte deutsche Wirtschaft ist zur Kriegswirtschaft gemacht worden. Daran hängen die Reichsfinanzen und die Banken, wie die gesamte Schwerindustrie. Dieser Zusammenhang stellt gegenüber den Krämpfen und Zuckungen des Systems das unerbittlich schreitende Schicksal dar. Allmählich aber sicher zerstört es die deutsche Wirtschaft wie die finanzielle Basis des Systems. Es gibt für alle Be­teiligten kein Zurück weder für Hitler, noch für Blomberg , noch für Schacht. Wollten sie zurück, so würden sie sich zu­nächst auf allen Gebieten den verheeren­den Wirkungen einer echten Demobil- machungskrise gegenübersehen, in deren Wogen die gesamte Herrlichkeit des Sy­stems versinken würde. Der Kitt, der das System zusammenhält, würde noch aus den Fugen herausgeschwemmt wer­den. Deshalb gibt es keinen Endsieg einer Gruppe über die andere im System. Hinter der Erwartung, daß die Reichswehr Schluß machen werde mit den wilden Männern, oder daß Schacht die Streicher­clique auf die Knie zwingen werde, steht immer noch die illusionäre Hoffnung auf eine Normalisierung des Systems, auf eine Humanisierung der Barbarei, ein Ver­schließen der Augen vor der Schrecklichkeit des Weges und seines Endes, auf den Deutschland durch das Hitlersystem ge­stoßen worden ist. Für das System gibt es nur einen Weg, den Weg in die Katastrophe, und nur ein Ende, das katastrophale Ende. Man fühlt in Deutschland wie außerhalb Deutsch­ lands , daß das System mit schick­salhafter Gewalt einer Katastrophe entgegentreibt. Niemand vermag voraus­zusagen, wie sie aussehen, und wann sie eintreten wird, aber ein Schluß drängt sich mit unerbittlicher Logik auf: Wenn das System eine Demobilmachungskrise nicht wagen darf, bleibt ihm nur der Weg in den Krieg, und offen bleibt nur die Frage, ob ein wirtschaft­licher Zusammenbruch noch vor dem Kriegsausbruch das Schlimmste abwendet. Die Einzelereignisse sind Symptome dieser Entwicklung. Weder die Stöße der wil­den Männer, noch die Schachtclique, noch die Generäle können das Gesetz brechen, das das System vorwärts treibt. Während so die Unerbittlichkedt des Weges in die Katastrophe immer sicht­barer wird, organisiert Hitler seinen Nürn­ berger Parteitag und nennt ihn»Partei­tag der Freiheit«. Schacht redet' Streicher handelt Die»Frankfurter Zeitung « berichtet: In allen Vororten Hannovers sind gro­ße Tafeln aufgestellt worden, auf denen zu lesen ist, daß jeder Volksgenoase die Pflicht habe, sich den Juden fernzuhalten und den Umgang mit ihnen zu meiden. In Wismar wurde in Anwesenheit von Parteiformationen die feierliche Einweihung eines Prangerkastena vorgenommen. Nach einer Ansprache des Kreisschulungsleiters S c h ö 1 e r, in der das Treiben der Volks­feinde gekennzeichnet wurde, verlas ein SA- Führer die Namen solcher Personen, die 1 n jüdischen Geschäften gekauft hatten. Die erste Liste dieser Personen wurde im Prangerkasten aufgehängt. In Stralsund hat sich den Gastwirten, die sich durch Plakataushang den Besuch von Juden verbeten haben, auch eine Reihe von Friseuren angeschlossen. In Weimar hat der Betriebsführer eines Lichtspieltheaters den Juden den Zutritt zu den Vorführungen verboten. Die Wirtschaftsgruppe des Gaststätten- und Beherbergungsgewerbeverein in P u t b u s hat beschlossen, in Zukunft keine Juden mehr zu bewirten und zu beherbergen. In der Stadt Schlüchtern (Hessen- Nassau ) sind an den arischen Geschäften Plakate angebracht worden, die Juden den Zutritt verbieten. Jüdische Geschäfte und Privathäuser sind durch gelbe Zettel mit der Aufschrift»Jude« kenntlich gemacht. Bisher konnten nichtarische Fir­me n in den Kölner Verkehrsverein aufgenommen werden. Man ging dabei von dem Gesichtspunkt aus, daß die Nutznießer der Werbetätigkeit der Stadt und des Ver­kehravereins auch die jüdischen Geschäfte seien, und daß sie sich deshalb an der Auf­bringung der Werbemittel grundsätzlich zu beteiligen hätten. In der Vorstandssitzung des Kölner Verkehrsvereins wurde darauf hingewiesen, daß die Plakette des Vereins, die man allen Mitgliedern und somit auch den nichtarischen Firmen zugestanden habe, von diesen zur Tarnung für ihre Geschäfte be­nutzt worden sei. Der Verkehrsverein beschloß deshalb, die jüdischen Mitglieder es han­delt sich um 102 Firmen aus der Organi­sation auszuschließen. Unmensdhlidier als der Mob! Die Führer Deutschlands im Lichte des Auslands. Stredohers Auftreten in Berlin veranlaßt den»Manchester Guardian« zu folgenden Be­trachtungen: »Es ist offensichtlich, daß der Antisemi­tismus in Deutschland nicht volkstümlich ist. Er ist kein Produkt der Gesinnung der Maasen, nicht einmal des Mob; der Mob Deutschlands ist menschlicher, als es seine gegenwärtigen Führer sind. Die Judenhetze ist»von oben« organisiert und die höchsten Staatsautoritäten sind für sie verantwortlich...« Wenn die offizielle Aufreizung weiter gehe, so schließt das große liberale Blatt Englands, seine Betrachtungen, so seien neue Pogrome gewiß. Gegen die Hitlerbarberel Es herrscht Katastrophenstimmung in Deutschland . Man spricht von einem un­mittelbar bevorstehenden 30. Juni, von ernsten Sprengungstendenzen im System, von einem neuen, auf Leben und Tod ge­führten geheimen Kampf um die Vorherr­schaft unter den das System tragenden Kräften. Die Ereignisse der letzten Tage geben dieser Stimmung neue Nahrung. Aufs neue erhebt sich die Frage: Wer regiert, wer wird morgen regieren? Zunächst die Ereignisse. Eine neue wilde Terrorwelle geht durch Deutschland , eine Generalverfolgung ge­gen alle wirklichen Feinde des Systems von heute und gegen alle möglichen Fein­de von morgen. Angesichts dieses neuen Tobsuchtsanfalls ist die Frage aufgewor­fen worden: Was sagt die Reichswehr dazu? Die Antwort auf diese Frage war vorauszusehen; Nichts! Eine Rede H i t- I e r s in Rosenheim , die eine Fanfare für die neue Terrorwelle darstellte, und der bekannte Grußerlaß Blombergs für die Offiziere der Reichswehr unterstrich viel­mehr das Bündnis zwischen der Reichs­ wehr und Hitler . Darüber hinaus ging noch ein Aufsatz des Chefs des Wehr- machtsamts im Reichskriegsministerium, des Generalmajors von Reiche­nau über den nationalsozialistisciien Charakter der Reichswehr . Er enthielt in schärfster Form die Anschauung der ser­vilen Hitlerclique in der Reichswehr , wie sie der Propagandamajor Foertsch schon öfter dargestellt hat; Die Wehrmacht ist ein nationalsozialistisches Heer. Aber schon tags darauf erfolgte wieder ein an­derer Ruck: Der Oberbefehlshaber des Heeres, General von Fritsch, schickte Reichenau und Foertsch aus dem Kriegsministerium zur Truppe und erließ dazu mit deutlicher Spitze gegen Reichenaus Publikation eine Be­gründung, in der es heißt, daß Offiziere keiner politischen Partei angehören dür­fen. Der berüchtigte Streicher hat eine neue Progromwelle gegen die Juden organisiert, bei der man über dem Zweck der Ablenkung von der Krise im System nicht den ausgesprochen korruptiven Raubcharakter übersehen darf. Man Wollte von vergeblichen Protesten Schachts wissen, bis plötzlich Schacht in Kö­ nigsberg eine außerordentlich scharfe Rede gegen diesen wilden Progromfeldzug hielt, in der er zugleich gegen' den»Völ­kischen Beobachter« und die offenen In- flationisten zu Felde zog. Zur gleichen Zeit hielt Rosenberg in Heiligenstadt eine Rede andersherum, und die Göbbels - sche Pressezensur erlaubte nur den Abdruck eines zensurierten Auszugs der Schachtrede. Es heißt, daß Schacht eine große Zwangsanleihe vorberedte aber der»Völkische Beobachter« vertritt dem­gegenüber die Theorie, daß Geld Dreck sei und daß die Politik Geld machen könne, während die»Frankfurter Zeitung « wieder 18 bis 19 Milliar­den Mark neue Reichsschulden Und davon rund 9 Milliarden kurzfristige Schulden seit Hitlers Machtergreifung ein­gesteht und vor der Höhe der kurzfristigen Verschuldung Sorge bekundet. Wer regiert? Wer bestimmt den Kurs, und wenn es eine sichtbare Kraft gibt, die den Kurs bestimmt, wie sieht er aus? Die Antwort darauf lautet: Es gibt keinen einheitlichen Kurs, es geht alles drunter und drüber! Es gibt nur eins, was das System zusammenhält: Die Furcht aller Beteiligten vor der Katastrophe und Die Exekutive der Sozialistischen Arbei­ter-Internationale hat zu der neuen Terror­welle im Dritten Reich einstimmig folgende Protestresolution beschlossen: »Die Sozialistische Arbeiter-Internationale brandmarkt aufs neue das barbarische Un­terdrückungssystem, das Im Dritten Reich Millionen Menschen Verfolgungen aussetzt, deren Grausamkeit an die finstersten Perlo­den des Mittelalters erinnert. Sozialisten, Kommunisten, Pazifisten, De­mokraten, Republikaner, werden nach wie vor in den Konzentrationslagern mißhandelt oder sogar menchlings ermordet, wie der sozial­demokratische Gewerkschaftsführer H u s e- mann oder ohne jeden regulären Prozeß ohne Verteidigung zum Tod verurteilt wie der Kommunist K a y s e r. Unter Berufung auf eine Rassenlehre, welche die gesamte Menschheit, wenn sie sich vor ihr beugte, zum ewigen Krieg verdammte, sehen sich über eine Million von Männern, Frauen, Greisen und Jugendlichen, nur well sie jüdischer Herkunft sind, aus der natio­nalen Gemeinschaft ausgestoßen, der Grund­rechte auf Arbeit und Gleichheit beraubt, die jedem menschlichen Wesen unverbrüchlich zustehen. Katholik«! und Protestanten werden um ihres Glauben willen ins Gefängnis geworfen. Gegen diesen Sturz in die Barbarei dür­fen die Völker nie aufhören, ihren leiden­schaftlichsten Protest zu erhöhen. Die Sozialistische Arbeiter-Internationale wendet sich an alle, die nicht durch ihr Still­schweigen mitschuldig werden wollen an den Verbrechen, die das Hitlerregime tagtäglich an Tausenden seiner eigenen Landsleute ver­übt. Die Diktatoren in Berlin müssen wissen, daß das menschliche Gewissen ihnen nicht verzeiht.« Es brennt In Berlin Ein erheblicher Teil der Fünkauastellung in Berlin , die nichts anderes als eine Veran­staltung' der Göbbels -Propaganda darstellt, ist abgebrannt. Der Brand hat seine Merk­würdigkeiten: wie kam es, daß zugleich mit dem Brandausbruch in einer Halle der Boden des mindestens 50 m höher liegenden Funk- t u rm reatau rants in Brand geriet? Man untersucht jetzt, ob Brandstiftung vorgelegen hat. Wird man uns morgen er­zählen, daß der Brand von Juden, Mandaten oder Katholiken gelegt worden sei, oder wird man uns einen neuen van der Lübbe vor­führen. Braucht Göbbels einen Funk türm- brand, so wie Göring seinen Reichstagsbrand brauchte 7 Neue Opfer des Justizterrors Neues Urteil gegen Hamburger Sozial­demokraten. In dem Riesenprozeß gegen Ham­burger Sozialdemokraten wurde gegen eine weitere Gruppe verhandelt. Auch diesen Angeklagten wurden dieselben Delikte zum Vorwurf gemacht, wie in den früheren Prozessen. Die Angeklagten wurden zu folgen­den Strafen verurteilt: Franz Wendt, 2 Jahre Gefängnis; V. Hacht, I14 Jahre Gefängnis; Bar­tels, 1 Jahr 4 Monate Gefängnis; Bendt und Mürs je 1 Jahr Gefängnis; Schmidt, Rosengart, Beckler, Behrens, Kelle, Weidendorff, Dan und Hildebrand, je 6 Monate Gefängnis; Wendt, 4 Monate Gefängnis.