Nr. 120 BEILAGE Ikiüc'tanSrfs 29. September 193� ©as deutsdie Fabeltier Aus Unterhaltungen mit Westeuropäern Es sind zwanzig Jahre her, als die be­gabten Propagandisten der Entente zur Anfeuerung der Kriegsstimmung die These verbreiteten, daß es zweierlei Deutschland gäbe. Das eine sei das Deutschland von »W e i m a r«, von den besten Traditionen klassisch-philosophischen Geistes gesättigt in den Bereichen der europäischen Kultur, mit dem es eine Freude sei, in Eintracht zu leben. Das andere Deutschland aber sei i>P o t s d a m« borussischer Observanz, die soldatische Drillanstalt jenes kriege­rischen Furors, den man gewaltsam und erbarmungslos niederzwingen müsse, wolle man nicht selbst dieses Schicksal erleiden. Diese v Zweigliederung« eines großen Landes und eines großen Volkes war schief und oberflächlich, weil sie Unvergleichba­res auf der gleichen Ebene tendenziös gegenüberstellte, und weil ähnüche Kon­struktionen gegenüber jedem der europä­ ischen Länder mögüch waren. Aber die These Weimar gegen Potsdam hatte eine ungeheure Wirkung. Sie behielt noch wei­ter ihre psychologische Macht, als sich in der politischen Praxis längst erwiesen hatte, daß die siegreiche Entente das Deutschland von«Weimars: für die Taten von«Potsdam « voll verantwortlich machte und ohne al�e Differenzierungen dem ge­samten deutschen Volke die Bürde von Versailles auferlegte. Allmählich erfolgte eine Wandlung. Den republikanischen Regierungen der »Vierzehn Jahre der Schmach« gelang es, den Begriff des deutschen Menschen im durchschnittlichen europäischen Kultur­bewußtsein wieder zu entgiften und nor­malisieren. Als sich die Namen Ebert, Rathenau , Stresemann, Hermann Müller und Brüning mit gewissen Abstufungen als die Repräsentanten des deutschen Verstän- digungswillens durchsetzten, als das deut­ sche Volk dank seiner freiheitlichen Ver­fassung zur Selbstverantwortnng gelangte,1 als man das deutsche Wort und den deut­ schen Geist wieder zu hören sich an­schickte, hatte die deutsche Problematik für die Welt nichts Peinigendes mehr. »Weimar « und»Potsdam « verblaßten. Deutschland war in der europäischen Volksmeinung, so weit es so etwas gab, endlich und vielleicht nun für immer ein­gereiht in die Linie, auf der sich die gleich­berechtigten Träger menschlicher Huma­nität jederzeit zur Aussprache begegnen konnten. * Seit zweieinhalb Jahren vollzieht sich jedoch in immer rascher werdendem Tempo ein psychologischer Entwicklungs­vorgang, der den Begriff des »deutschen Wesens« mehr als je zuvor in Frage stellt. Wer seit Hitlers Machtergreifung als Deutscher in verschiedenen Ländern im Auslande gelebt und nicht aufgehört hat, mit seinem gan­zen Herzen am Schicksal des deutschen Volkes teilzunehmen, erfährt auf Schritt und Tritt quälende Beispiele für diese Wandlung. Er sieht, daß man den Deut­ schen schlechthin für das Dritte Reich mitverantwortlich macht, auch dann, wenn man als Emigrant lebendiger Zeuge für das GegenteU ist Er muß sich gegen vor­wurfsvolle Fragen und Anklagen wehren, wie es möglich sei, daß das deutsche Volk diese Vergewaltigung seiner Freiheit, die brutalen Akte der Gesinnungs- und Glau­bensverfolgung, die Rasse- und Sterlisie- nmgsgesetzgebung ohne Auflehnung gegen seine Unterdrücker»dulden« könne. Was tut man in solch peinigender Lage? Man versucht eine politische, soziale und psychologische Deutung, wie das alles »möglich« geworden sei. Der ausländische Gesprächspartner hört immer willig und aufmerksam zu. Aber zuletzt hat man oft den Eindruck: er hat im Grunde nur we­nig verstanden. Eine Fremdheit blieb zurück, die sich nicht deuten läßt, weil sie aus den tiefsten menschlich- seelischen Gefühlsentschei­dungen kommt, wo mit Debatten nicht viel getan ist. Wieder ist der Deutsche in der Position eines Fabeltiers, un­durchschaubar, verschlossen und gefähr­lich, Träger von Gedanken, denen man mißtraut und die man fürchtet, auch wenn ihre Verkünder die Normal Worte Durchschnittseuropäers gewandt zu hand­haben wissen. Jeder Deutsche im Auslande weiß um diese Dinge und fühlt sich von ihnen be­drückt, bei aller privater Liebenswürdig­keit, die ihm teilnehmend begegnet. Bei der Neigung, komplizierte Tatsachen der Politik und der Völkerkunde zu verein­fachen und zu verallgemeinern, ist das Sinnbild des deutschen Menschen im Aus­lande wieder sehr stereotyp geworden. Gab es vor zwanzig Jahren noch die Kontra­stierung Weimar und Potsdam , so ist heute bei allen, die nicht tiefer zu blicken vermögen, die Anschauung existent, daß die Masse des deutschen Volkes nur zu williger Insasse einer einzigen großen Skla­venkaserne sei. Für die andern aber bleibt das Sinnbild des Deutschen rätselhaft kens. Glauben Sie mir: ich lese über diese täglichen Nachrichten aus Deutsch­ land seit langem einfach hinweg. Nicht etwa, weil ich ihre Glaubwürdigkeit an­zweifle. Nein, einfach deshalb, weil es mir allmählich aus dem Bewußtsein schwindet, daß es sich bei allen diesen Dingen um Deutschland handelt, das große, uns benach­barte Land. Ich nehme diese Meldun­gen an wie Berichte von wüden Völkern oder aus Urzeiten der menschlichen Ge­schichte. Es ist mir alles zu unbegreif­lich, weil es dem Inhalt, den ich mir vom menschlichen Abbilde erarbeitet habe, wi­derspricht, in der Aera der Humanität und des Glaubens an den Fortschritt.« Ich entgegnete ihm, daß er sich ein falsches Bild vom deutschen Volke mache, Der deutsche Olympier Hitlerdeul»diland rüstet zur Olympiade 1936 zweideutig, unglaubwürdig im kritischen Abstände zwischen Inhalt und Form. Jeder hat ein Bündel solcher Erlebnisse vorzuweisen; fast alle sind typisch. Ein sehr gebildeter Franzose sagte in einem Gespräche mit uns über die deutschen Dinge folgendes:»Ich begreife, daß man in der höchsten politischen Leidenschaft Hab und Gut des' Gegners vernichtet, daß man ihn vertreibt, daß man ihn tötet. Aber ich begreife nie, daß man nach einem lange vorher durch­dachten und organisierten Plan quält und martert in un­serem Jahrhundert, nicht auf Grund eines harten Dogmas wie in den Zeiten der In­ quisition , sondern einfach aus Haß und aus Wollust; nicht wegen einer anderen Lehre, die den Bestand der eigenen be­droht, sondern nur wegen einer anderen des, Gesinnung, im privaten Bezirk des Den- wenn er glaube, es sei in seinem Kerne vom Geiste seiner Bedrücker angesteckt worden und sich in seiner großen Mehr­heit von den Ideen der menschlichen Ge­sinnung und Gesittung abgewandt habe. Mein französischer Freund gab mir die Antwort:»Gut. Aber Sie müssen mir zugestehen, daß es nirgendwo anders mög­lich wäre, große Massen durch gewalt­tätige Machthaber so zu erniedrigen und mißbrauchen wie in Deutschland .« Er fügte hinzu:»Als der Krieg ausbrach, und die deutschen Heere in Belgien einmar­schierten, sagte Bethmann-Hollweg :»Not kennt kein Gebot.« Dann passierten die ent­setzlichen Dinge. in Belgien . Bethmann- Hollweg war ein anständiger Mann, aber hat Hitler im Grunde nicht seine Parole aufgenommen und in ein System gebracht? Sehen Sie: das ist Deutschland , und darum kommen wir immer wieder dazu, ihm zu mißtrauen. Das ist der tiefstej Grund dafür, daß wir uns nicht viel darum kümmern, was Deut­sche gegen Deutsche unterneh­men. Wir halten uns nur an das, was uns bedroht.« » Die Unterhaltung ging noch lange wei­ter. Sie ist symptomatisch für die Hal­tung des Westeuropäers in allen sozialen Schichten symptomatisch auch für die Haltung eines großen Teiles der Presse. Nachrichten aus Deutsch­ land , die den Deutschen im Auslande auf­wühlen, werden von den Blättern nur im kleinen Druck und an nicht sehr einpräg­samer Stelle wiedergegeben. Das geschieht nicht nur unter dem Zwange des Gesetzes der publizistischen Gewöhnung, sondern einfach danun, weil das. was den Deut­ schen im tiefsten bewegt, den ausländi­schen Zeitungsleser gar nicht mehr er­schüttert. Er hat Deutschland einfach »abgeschrieben«. Er flüchtet vor der beunruhigenden Sphinx, indem er sie in seinem Bewußt­sein zu ignorieren versucht. Er richtet seine eigenen geistig­kulturellen Maßstäbe aus und entdeckt für sich, daß Deutsch­ land heute außerhalb dieser Grenzen steht. Der feinfühlige aus­ländische Journalismus kennt diese innere Haltung eines großen Teiles seiner Leser­schaft genau und paßt sich ihr an. Es genügt bereits, die offiziellen Nachrichten des Deutschen Nachrichtenbüros kommen­tarlos wiederzugeben. Ergänzungen oder Erläuterungen sind gar nicht mehr notwendig. Die ausländischen Leser haben längst gelernt, die zensierten Sätze des Propagandaministeriums ins Euro­päische zu übersetzen und fin­den, was sie zur Kennzeichnung des Drit­ ten Reiches wissen wollen, bereits im Text oder zwischen den Zeilen,, » Unvorstellbar. breit und tief ist der Grenzgraben zwischen Deutschland und den andern geworden, seitdem das Dritte Reich regiert. Die Differenzierungen in der europäischen Völkerfamilie, die zur Völkerpsychologie gehören, haben die Ebene verlassen, auf der Gleiche mit Glei­chen konfrontiert werden konnten. Nicht einmal, daß sich»Weltanschauungen« in unerbittlichem Widerspruch gegenüber ständen! Nein, es geht gar nicht um gei­stige Dinge, sondern um das A 1 1 e r p r i- mitivste und Leichtverständ­lichste: um die Haltung zum Menschen, um die Wertung seines Lebens, um den Re­spekt vor der mit ihm geborenen Würde zum Rechte am Dasein. Das deutsche Fa­beltier des Dritten Reiches hat seine Hör­ner zerstörerisch in den heüigen Humus der Existenz der Menschheit gebohrt. Es heißt, es nicht zu ignorieren, sondern es zu bekämpfen, um jenen Millionen von Deut­ schen zu Hilfe zu eilen, denen es Freiheit und Atem genommen hat! Andreas Howald. Der Geist wird abgebaut Fünftagewoche in der Schule Der Unterricht wird bekanntlich seit 1933 in den deutschen Schulen als lästig empfun­den. Man kürzt ihn, wo immer es geht, ersetzt wissenschaftliche Fächer durch Turnstunden, zeigt während der Schulzeit braune Reklame­filme, liest zur rassischen Ertüchtigung der Kinder aus dem»Stürmer« vor, bespricht im Unterricht die neuesten Pührerreden, die für Analphabeten bestimmt sind, und»erobert« sich im übrigen durch Gepäckmärsche die Heimat. Aber dem Reichsminister Rust fällt selbst jenes Mindestmaß von geistiger Schu­lung, das heute noch gestattet ist, auf die Nerven. Er hat deshalb angeordnet, daß am »Staatsjugendtag « von nun an überhaupt kein lehrplanmäßiger Unterricht mehr erteilt werden darf. Da jeder Sonnabend ein Staats­jugendtag ist, bedeutet das die Einführung der Fünftagewoche in der Schule. Man sollte meinen, diese Bestimmung sei überflüssig gewesen. Seit langer Zeit wird ja an den Samstagen in der Schule nicht ge­arbeitet. Seit langer Zeit müssen die Hitler- jungen an ihesen Tagen marschieren, wäh-