Nr. 123 BEILAGE

Neuer Vorwärts

20. Oktober 1935

Das Ende der Judenemanzipation

Von der Humanität zur Sexualpathologie des Dritten Reichs

Im Geburtsjahre Goethes 1749- Napoléons  , die ihnen unter Druck gestellt folgerichtiger Auslegung der humanitär- Heimat; wir sind entweder Deut­schrieb Lessing sein einaktiges Lust- wurden, zur Erringung ihrer Bürgerrechte kulturellen Assimilationsideen in hellen sche, oder wir sind Heimat­spiel>> Die Juden.<< Ein reisender Jude ret- erklären, daß sie die Franzosen als ihre Scharen zum Christentum über, um sich lose.<<

tet einem Baron zweimal das Leben und» Brüder« betrachten. Jetzt erst seien sie, endgültig die gesellschaftliche Gleich- Deutsche, im politischen Sinne, wurden soll mit der Hand der Tochter und einem so heißt es in ihrer Deklaration,» erlöst« berechtigung zu sichern. Selbst die ur- die Juden erst nach 1848 im Verlauf von entsprechenden Vermögen belohnt werden durch ihre Eingliederung ins Gefüge der reaktionäre feudale Schicht der preußi- Jahrzehnten. Nach der Gründung des so lange man nicht weiß, daß er Jude großen Nation. Den europäischen   Juden schen Beamten- und Militärhierarchie, die Norddeutschen Bundes wurde für Preußen ist. Da enthüllt sich der edelmütige junge geht es, wie Kastein in seiner» Geschichte sich privat den Juden vom Leibe hielt, er- das entscheidende Gesetz vom 3. Juli 1869 Mann. Allgemeiner großer Schrecken. Mit der Juden« darlegt, von jetzt an nicht mehr blickte in der Taufe den passabelsten Weg erlassen, wonach» alle noch bestehenden, der Hand der Tochter ist es nichts mehr, um die primitive Existenzmöglichkeit. Zum zur Lösung des Problems. Die Erlesenheit aus der Verschiedenheit der religiösen Be­wogegen sich selbst Lessing   nicht auf- ersten Male seit Jahrhunderten, seit ihrer der eigenen Rasse, die man durch Vermi- kenntnisse hergeleiteten Beschränkungen lehnt. Aber man versichert sich zum gu- großen spanischen   Zeit, standen die Juden schung nicht schädigen dürfe, war noch bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rech­ten Ende gegenseitige tiefgefühlte Wert- wieder vor der Möglichkeit einer nicht entdeckt worden oder spukte nur in te hierdurch aufgehoben werden. Insbe­schätzung: Entfaltung ihrer Kräfte. Die den Hirnen einiger subtiler Geister. Der Baron:> Alles, was ich von Ihnen Veränderung der Wirtschaftsstruktur im sehe, entzückt mich... O, wie achtungs­würdig wären die Juden, wenn sie alle Ihnen glichen.<<

Der Reisende:» Und wie

liebens­

würdig die Christen, wenn sie alle Thre Eigenschaften besäßen.<<

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dieses » Entzückt« von einem Juden Bekenntnis war die Revolution. Im Süden Europas   traten um diese Zeit noch In­quisitionsgerichte gegen Juden zusammen. In Böhmen   irrten, vertrieben von Maria Theresia  , viele Tausende von Juden ob­dachlos im Lande umher und überfluteten die Grenzen. Im Preußen Friedrichs II. mußte jeder Jude beim Eingehen einer Ehe, beim Kauf eines Hauses oder einem größeren zivilrechtlichen Geschäft bei der königlichen Porzellanmanufaktur» Juden­Porzellan<< bis zu dreihundert Talern im Werte kaufen. In Frankfurt   und anderswo war den Juden das Betreten des Bürger­steigs verboten. Jeder Landstreicher konnte, wie noch Börne aus seiner Jugend­unter zeit bitter berichtet, dem Ruf: >> Mach Mores, Jud'« den Juden zum Hut­abnehmen zwingen. In den Ghettos der großen Städte drängte sich, rechtlos, ge­knechtet und verfemt, das arme deutsche Judenvolk zusammen, während ein paar reiche Juden im Besitz besonderer Privi­legien den Kreditbedürfnissen der Fürsten  dienen durften.

Immer wieder kopierten die Jahrhun­den derte einander in ihrer Haltung zu Juden. Nach Siegen, nach Niederlagen, in Epochen der Hochblüte und des Nieder­gangs; mit religiöser, nationaler, staat­licher, rassenmäßiger Begründung. Das Jahrhundert Lessings, das der Juden­emanzipation vorausging, hat sie alle ge­kannt. Der Dichter im Geiste der Auf­klärung des Humanismus unternahm das Wagnis, den Juden als Menschen zu entdecken, seine Andersartigkeit, aber nicht mehr seine Minderwertigkeit, wie Lessing   im» Nathan<< nicht Toleranz predigt, sondern von den Christen Verzicht auf das Prestige verlangt.

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Das neueste Verbrechen

Jahrzehnte später wurde die Emanzi­pation des Judentums in den allgemei­nen politischen Befreiungs­kampf mit einbezogen. Der entscheiden­de Anstoß kam aus Amerika   mit der ersten Verkündung der Menschenrechte. Die Rechtsgleichheit der Juden in einem Lande ohne kirchliche Tradition war ein Bestandteil der Unabhängigkeits- kapitalistischen Geiste

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die Sau hat Vyf. Butter gehamstert

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sondere soll die Befähigung zur Teilnah­me an der Gemeinde- und Landesver­tretung und zur Bekleidung öffentlicher Aemter vom religiösen Bekenntnis unab­hängig sein.<< Aber diese gesetzliche Be­stimmung, die der deutsche   Reichstag   in die Reichsverfassung übernahm, gab nur die äußerlichen und formalen Garantien. Das Judenproblem behielt seine gesellschaftlichen psychologischen Fragestellungen weiter. Pseudochristliche, sozialreaktionäre, feudalistische Tendenzen bedienten sich des immer leicht zu ent­flammenden Antisemitismus und ver­mischten sich mit demagogischer Massen­aufpeitschung in der Stöcker- und Ahl­ wardt  - Zeit.

Die anwachsende sozialistische Arbei­terbewegung warf den Damm gegen die konfessionelle und immer stärker auch rassenmäßig motivierte Hetze auf. Sie be­Iwahrte das humanitäre Erbe der klassi­schen deutschen Philosophie und sah die wirtschaftliche Seite des Judentums in der gerechten Abwägung zwischen Ursache und Wirkung. In ihr wurde die Ju­denemanzipation praktisch und beispielhaft ohne Hinter­halte verwirklicht. Wenn eine Ver­fassung überhaupt imstande ist, eine von jahrtausendalten Traditionen und Vor­urteilen gebildete psychologische Situation, worin religiöse Begründungen, soziale. Abwälzungsversuche und Fluchtwege, Neidgefühle und Minderwertigkeits­komplexe vielseitige Verbindungen mit. einander eingegangen waren, durch feste Rechtsordnungen zu binden, dann hat es die Verfassung von Weimar getan.

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mehr

Wieder ist ein tiefer geschichtlicher Ein­bruch da, von dem die Juden im tiefsten ge­troffen wurden. Das Dritte Reich hat die Optimisten unter den Juden wie unter den Christen widerlegt, die an den Ablauf der wachsenden Vernunft im Bunde mit der fortschreitenden Humanität glaubten. Seit der Verkündung der neuen Judengesetze gibt es im Grunde im Grunde kein Judenproblem mehr in Deutschland  , außerhalb der Juden selber. Sie sind Objekt des absoluten Staa­tes ohne Recht auf Abwehr und Einspruch. Die Brücken, an der Generationen gebaut haben, sind zerstört. Es gibt auf Grund von Dekreten zwischen Juden und Chri­sten wieder nur ein Hüben und Drüben. Sieht man von einem kleinen Kreise ab, die der Nützlichkeitsstandpunkt des Drit­gewissen Der Rückschlag kam mit der» Heiligen ten Reichs vorläufig noch in der Wirt­erklärung von 1776, wonach» allen Utilitaritätsprinzipien auf beiden Seiten Allianz,<« mit den Ideen des> christlichen schaft beläßt, so ist für die deutschen Ju­Menschen, gleich erschaffen, vom Schöpfer entgegen. Der größte Teil der Juden Euro- Staates<, mit dem Gottesgnadentum mit den die Existenzgrundlage nicht bestimmte unveräußerliche Rechte auf Le- pas entschied sich für die Angleichung an der dem Mittelalter zugewandten Roman  - vorhanden. Sie sind eingekesselt ben, Freiheit, Glück verliehen wurden. In den neuen Lebensraum, unter problemati- tik. Man hob die Gesetze über die Gleich- durch die nationale Ueberkom­der ersten amerikanischen   Bundesverfas- schen Verzichten, niemals ungefährdet in berechtigung der Juden wieder auf oder pensierung im Haß seiner Be­sung heißt es, daß keinem Menschen, der den Wandlungen der geistigen Strömungen sabotierte sie- genau so, wie man die drücker, die mit der Juden­die Existenz Gottes anerkennt, durch Ge- und der politischen Auseinandersetzungen allgemeinen Versprechungen über die po- hetze zugleich die bequemste litische Gleichberechtigung nicht einlöste. Rückzugslinie auf der Flucht setz der bürgerlichen Rechte Die Geschichte der preußisch- In den dreißiger Jahren gab es für die vor der Verantwortung be­werden dürfen.< Aber es hat in Europa  , als sich die Ideen der französischen   Revo- deutschen Judenemanzipation Juden des preußischen Staates achtzehn sitzen. Den Juden in Deutschland   ist lution bereits als sieghaft erwiesen hatten ist mit den Schicksalen der gesamtdeut- verschiedene Rechtsgebiete. Der Jude war genommen worden, was sie seit dem Zeit­eng teils Staatsbürger, teils Schutzjude. Pro- alter des Humanismus immer wieder trotz und die politischen Bürgerrechte allmäh- schen Freiheitsbewegung besonders >> seinem<< Volke fessoren traten auf, die das Heimatrecht aller Hemmnisse erfolgreich durchzusetzen lich erkämpft wurden, noch Jahrzehnte ge- verbunden. dauert, ehe die Juden aus den Ghettos und hatte Friedrich Wilhelm II.   auch den Ju- der Juden in Deutschland   anzweifelten. Die vermochten, die Mitwirkung in den Bezir­die den in den Jahren, als der größte Teil politische Kirchhofsruhe des Vormärzes ken   des geistigen Daseins der Welt, weil ihren zwangsweisen Isolierungen in bürgerliche Gleichberechtigung entlassen Preußens von den Franzosen besetzt war, wurde hin und wieder durch Austreibun- ihre Stimme in dem Lande, in dem Konzessionen versprochen. 1812 erhielten gen und Pogrome unterbrochen. Unver- vegetieren müssen, stumm gemacht wor­In Frankreich   selber waren den elsässi- sie Bürgerrechte, Freizügigkeit, freie Be- drossen kämpfte Gabriel Rießer  , der den ist. Es ist für die lebenden Juden ein schen und lothringischen Abgeordneten rufswahl, wenigstens durch Dekrete auf Vorkämpfer der Anpassungsgedanken, für schwacher Trost, daß die Geschichte im für die Nationalversammlung judenfeind- dem Papier. Sachsen   schuf erst 1813 den die Gleichberechtigung und prägte diesen Reiche der Ideen ihr Urteil schon vorweg liche Instruktionen mit auf den Weg ge- Leibzoll für die Juden ab. In der oberen für die Haltung der bürgerlichen Juden genommen hat, da sich auf der einen Seite der beiden Pole Spinoza, auf der anderen geben worden. Auf der berühmten jüdi- gesellschaftlichen Sphäre ermöglichte man dieser Zeit kennzeichnenden Satz: am deutschen >> Wir sind nicht eingewandert, wird sind Alfred Rosenberg   befindet. schen Notabelnversammlung vom 30. Mai den Juden die Teilnahme Der Vergleich der Lage der deutschen  1806 mußten die 112 Vertreter aller jüdi- Geistesleben, mit prominenten Salons als eingeboren, und weil wir es sind, haben in wir keinen Anspruch anderswo auf eine Juden von heute mit derjenigen im dun­schen Richtungen auf die zwölf Fragen Mittelpunkten, und die Juden traten

wurden.

aberkannt des neunzehnten Jahrhunderts.

Genau wie

sie