}

Nr. 126 BEILAGE

Neuer Vorwärts

10. November 1935

Die Entmenschlichung des Menschen

Die braune Apokalypse der Geschichtsphilosophie

-

der

Ratio­

Leopold von Wiese, der an der Köl- worden war. Kultur und Bildung wurden| nischen Zivilisation. Die zoologischen| logie des Kollektivs und dessen Gefühlen ner Universität als Lehrer für National- ad absurdum geführt. Aber gleich- Instinkte, romantisch ideali- und Instinkten untertan: ökonomie und Soziologie seines Amtes zeitig ging bereits im Kriege siert und in eine naturalistische>> Die Macht der Führer« beruht auf waltet, sprach vor Jahren vor einem gro- die Aera des Individualismus Mystik verwandelt, brüsten sich dem Unbewußten, wie denn das Unbewußte Ben und aufmerksamen Auditorium über zugrunde zugunsten einer mit den modernsten Mitteln der überhaupt eine große Rolle in der Sphäre der die Probleme der Geschichtsphilosophie. kollektivistischen Massen- Zivilisationstechnik.<<( S. 66.) Machtbeziehungen spielt. Die Macht aber, Es war in der Weimarer Zeit , wo deutsche organisation, die nach Berdiajews Berdiajew erblickt in diesem biologi- die auf dem Unterbewußten und Irrationalen Gelehrte noch ihre Meinung sagen durf- Auffassung in den Schwierigkeiten der schen Materialismus, in welchem Gewande beruht, bedient sich in der modernen Welt ten. Die Jugend, die vor ihm saß, auf- Nachkriegszeit zwangsweise in Kommu- er auch auftritt, als Begeisterung der und das ist das merkwürdigste! gewühlt durch die politischen und sozialen nismus, Faschismus und Nationalsozialis- Jugend für die Technik und für den Sport, Methoden der äußersten Ereignisse der Nachkriegszeit, auf dem mus mündete. Es handelt sich hier aber internationale Charakterzüge. Der deut- nalisierung und Technisierung wogenden Meere des Zweifels um die künf- nicht um eine Organisation schöpferischer sche Nationalsozialismus aber ist das ent- des menschlichen Lebens.... Sie tige Existenz, erwartete von dem Redner, und konstruktiver Kräfte. Hinter der scheidende Warnungssignal an die Welt, versucht sie auch in den Sphären des mensch daß er ihr auf seine Weise den verborge­nen Sinn der menschlichen Geschichte vor dem Richterstuhl der Ewigkeit enthülle. Der liberale Pessimist enttäuschte sie bit­ter. Wiese verleugnete jede Geschichts­philosophie. Er begründete seine Auffas­sung mit einer summarischen Darstellung der undurchschaubaren und unwägbaren Zufälle, des Heldentums, der Niedrigkeit,

der Schwäche der Menschen, die immer wieder ihren dunklen Urtrieben verfielen, und er beleuchtete die Fragwürdigkeit aller Urteile über die Phasen der menschlichen Geschichte. Die Versuche, in ihnen tra­gende>> Ideen<< zu entdecken, lassen sich vor den harten Prüfungen der Wirklichkeit immer aufs neue widerlegen angesichts der Sinnlosigkeit geschichtlicher Phäno­mene. Das Bekenntnis Wieses mündete folgerichtig im Bekenntnis zum histori­schen Nirwana, in einer bloßen Darstel­lung der Geschichte der Geschichtsphilo­sophie und ihrer Wandlungen.

-

auf.

Ebenso folgerichtig aber war das hef­tige Scharren der Akademiker, das die Un­zufriedenheit mit diesem Bekenntnis her­vorgerufen hatte. Die Sucher nach Be­freiungs- und Erlösungslehren lehnten sich gemeinschaftlich gegen dieses Nein Die Christen, die Marxisten, die dogmati­schen Gottsucher, die gesinnungstreuen Gottlosen, die rassefesten Verbindungs­studenten und die Werkstudenten ihnen war das Bekenntnis der Vereinsamung des Menschen unter den Menschen, diese Pro­klamation einer rätselhaften Sinnlosigkeit des Daseins, im tiefsten zuwider. Sie woll­ten keine Problematik, sondern sie woll­ten glauben und bekennen

***

uns

Diese akademische Episode kam vor einem neuen Buche von Nikolai Berdiajew:» Das Schicksal des Menschen in unserer Zeit«( Vita Nova Verlag, Luzern ) in Erinnerung. Der Religionsphilosoph und Sozialethiker Ber­diajew, Russe von Geburt, dem wir eine Reihe wichtiger Schriften zur Zeit verdan­ken, beantwortet die Frage nach dem Ge­schichtssinn bündig mit einem Hinweis auf die brennende Gegenwart. Die geistige Konsequenz der Geschichte ist bei Berdia­jew nicht die Flucht zum zweiflerischen Nichtwissen eines individualistischen Huma­nisten. Für ihn ist die entscheidende Ten­denz der Zeit, das brutale Resultat der Ge­schichte, die Dehumanisierung. Er hält über die Geschichte Gericht ab, die den Menschen zu

heben.

Das Kartenhaus

BUTTER KARTE

FETTKARTE

S

500

EIERKARTE

*

zu

lichen Denkens und Gewissens, ja, sogar in denen des sexuellen und erotischen Lebens durchzuführen. Der absolute, ideokratische, totale Staat führt unvermeidlich zur Leug­nung der Freiheit, des religiösen Gewissens, der Freiheit des Christenmenschen in seinem geistigen Leben. Im modernen Deutsch­Iand offenbart sich diese Situation mit einer besonderen Kraft und Deutlichkeit...< ( S. 81-82.)

Berdiajew stellt die Frage, wie die » Masse<< auf den technisch vervollkomm­neten Cäsarismus reagiere. Er vertritt mit Entschiedenheit die Auffassung, daß der der neuen Massen reli­gion erlegene Mensch die ver­lorene Freiheit, im politi­schen wie im geistigen Sinne, nicht mehr vermißt. Diese Situa­tion ist für ihn besonders bei der Nachkriegsgeneration deutlich und ganz besonders und immer wieder in Deutschland . Die unpersönliche Subordi­nation im alten Militarismus wird auf die neue nationalistische Bewegung mit fort­dauernd trommelnder Propaganda über­tragen, bis die von der Bewegung erfaẞ­ten Menschen selbst nach der Einordnung in die disziplinierte Autorität verlangen. Der Bewußtseinsinhalt der Persönlichkeit wird ausgelöscht. Von einer Vergewalti­gung ist keine Rede mehr, Der zwangs­weise Dienst an den unpersönlichen Din­gen, an deren Existenz und an deren Ver­waltung sie nicht mitwirken, bringt Un­zählige nicht nur freiwilligen Ver­zicht, sondern zum Glauben an die Rechtmäßigkeit und Rich­tigkeit der allgemeinen Ent­menschlichung.

zum

Man darf hinzufügen, daß solche psychologische Erscheinungen nicht nur bei den sogenannten» Unpolitischen auf­treten. Sie nehmen häufig auch von den­jenigen Besitz, die schon einmal das Frei­heitsbewußtsein als einen unverlierbaren Teil ihrer menschlichen Würde besaßen. Die verlorene Freiheit wird hier gleich­gesetzt mit der Abnahme einer als hart empfundenen Bürde: der Mitverantwort­lichkeit durch eigenes Denken und quäle­risches Sichentscheidenmüssen. In die­ser Abstumpfung des persön­lichen Freiheitsgefühls, die im Dritten Reich bewußt ge­fordert wird, liegt die größte Gefahr für die künftige kämp­ferische Wende. Es handelt sich um

Probleme der Individualpsychologie, mit denen sich Berdiajew nicht beschäftigt, an denen aber kein sozialistischer Politiker vorübergehen darf, wenn er nicht zu Fehl­schlüssen gelangen will.

**

seiner eigenen Ent- ehernen Maske der technischen Disziplinie-| die noch einmal gemahnt werden muß, sich menschlichung brachte. Die rohen Elemen- rung, die die kollektivistischen Organisa- dem Verfall in die Unmenschlichkeit tarkräfte haben ohne Verschleierung die tionen aus dem Kriege zu Zwecken staats- entziehen. Vorherrschaft und die Führerschaft über- politischer Macht anstrebten und mit der nommen, begleitet von Theorien, die sie Absolutierung entsprechender Ideen wei- Berdiajew besitzt eine packende Dar­verherrlichen und zur Staatsdoktrin er- terführten, wird das Chaos ver- stellungskunst und eine Stilkonzentration, In ihrem Wappen sind die Reiter borgen. Diese Ordnungen stehen in die von den Verblasenheiten gewisser Eine klarere Analyse der geistigen der Apokalypse. Sie haben den Menschen Wahrheit im Dienste der Menschenvernich- modischer Philosophen vorteilhaft ab- Situation der Zeit, als sie Berdiajew gezwungen, die historischen Prozesse als tung, der Auslöschung des ewig- göttlichen sticht. Immer wieder ist seine Argumen - gibt, ist nicht denkbar. Sie macht die verhängnisvolle unmenschliche Kraft zu Gleichheitsbegriffes und der Widerlegung tation bestrickend. Für ihn hat der for- Weltagonie erschütternd deutlich. Aber erfahren, die an ihm vorübergeht oder ihn des Christentums, das in seiner geschicht- male Liberalismus im Bunde mit dem Berdiajew fühlt, daß er mehr zu geben erdrückt und zerstört. Berdiaje w lichen Form verspielt hat. Eine neue humanitären Skeptizismus vor den Auf- hat. Der zweite Teil seines Buches macht sieht den klarsten Beweis für Orthodoxie mit Mythen und Symbolen krie- gaben der politischen und sozialen Gegen- den Versuch, der großen Entmensch­den Miẞerfolg und die Tragö- gerischer Abkunft dient der nationalen wart versagt. In seiner Hilflosigkeit hat er lichung das Positivum einer neuen die der Geschichte im deut- und rassischen Selbstvergötterung: sich der Diktatur in die Arme geworfen, christlichen Geistigkeit ent­schen Nationalsozialismus. >> Der deutsche Rassismus ist seinem Cha- die ihn mit ihren eisernen Klammern er- gegenzusetzen. Er sucht die. Umkehr und Berdiajew macht für die höllische Zeit- rakter nach ein romantischer Naturalismus; drückt. Der totale Staat hat nicht nur die die Rettung in religiösen Bezirken zur wende den Kapitalismus und den Welt- er enthält in sich Elemente der» Nature, des» bürgerliche<< Freiheit der Großen Revolu- Zurückgewinnung der geistigen Freiheit. krieg verantwortlich. Der Der Kapitalismus Blutes, der Erde, der Volksseele, d. h. der tion geschluckt, er hat die Freiheit der Jetzt muß das entgötterte alte Christen­hat die Freiheitsidee im sozialen Abhän- tellurischen Mächte, die sich gegen die Tech- menschlichen Personen aufgehobentum beweisen, ob es noch die Fähigkeit gigkeitsverhältnis widerlegt und vernich- nik zu wenden scheinen. Allein... die Steri- unter den» unmenschlichen Befehlen, mit besitzt, von neuem die einzige und letzte tet. Der Weltkrieg hat bewiesen, daß die lisierung, die Eugenik, das Verbot der Misch- denen ein Führer beauftragt wird. Die Zuflucht der Menschen zu werden. Humanisierung der Welt nur eine Tünche ehen, die staatliche Aufsicht über das Privat- Welt ist in die Epoche eines neuen Cäsa- Es muß ein Christentum sein» von war, die von dem großen Gewittersturm leben usw. alle diese Maßnahmen sind rismus eingetreten, wobei der Führer von dieser Welt«, eine positivistische Humani­gründlicher fortgewischt wurde als zuvor nicht. Ausdruck der natürlichen Reaktion auf der Masse, die er despotisch sierung des Glaubens. Diese neue» Offen­in großen Kriegen, weil sie mit den das mechanisierte Leben,

-

sondern Formen beherrscht, vollkommen

ab barung ist ohne einen sozialen Plan nicht

glitzernden Farben der Lüge aufgetragen der durch und durch dehumanisierten tech- hängt. Er ist der Sklave der Psycho- zu vollenden. Das aber ist für Berdiajew