IVr. 147 S0NNT4G, 5. April 1936

iSosiatogmDlraKfcfras iDod>cnbIatf Verlag; Karlsbad , HausGraphia" Preise und Bezugsbedingungen siehe Beiblatt letzte Seite

Aus dem Inhalt: Die Krise geht weiter Führer ohne Ziel In den Spuren von Stinnes Hölle der Ausbeutung

Hundert Prozent Terror Die Vernebelung der wahren Lage Deutschlands

Ate Napoleon T. sich zum Kaiser der Franzosen machte, veranstaltete er ein Plebiszit. Das Ergebnis dieses Plebiszits ist bisher nicht übertroffen worden. Selbst Hitler ist am 29. März nicht so nahe an die Grenze der absoluten Einstimmigkeit herangekommen. Das napoleonische Ple­biszit ist von späteren Zeiten als eine Far­ce, eine Machenschaft der diktatorischen Gewalt belächelt worden. Es war eine Ge­ste. Der Diktator verbeugte sich vor dem mit dem Geist der französischen Revolu­tion verbundenen Prinzip der Volkssouver­ änität er- stellte zugleich sein Kaiser­tum dem Gottesgnadcnprinzip des Legiti­mismus entgegen. Das Plebiszit Hitlers ist so gut eine Farce wie das napoleonische. Aber es gibt einen Unterschied: der deut­sche Diktator heuchelt eine Verbeugung vor dem demokratischen Geist der anderen, der freien Völker. Er wül sie verführen, seine Geste mit den Maßstäben zu mes­sen, die sie an ihre eigenen, wirkUchen Wahlen anlegen, und er will sie damit be­trügen. Die politisch denkenden Menschen außerhalb der deutschen Grenzen lassen sich nicht betrügen.»Als Wahl war es ein� Farce« so heißt es in der»Times« »denn eine Wahl setzt eine Auswahl zwi­schen, Kandidaten und ein gewisses Maß von Diskussionsfreiheit voraus. Als Probe iuf das Vertrauen der Nation zu ihren derzeitigen Führern war sie von Anfang an verfälscht durch das System der Staats­kontrolle, die unter dem Dritten Reich systematisch geworden ist und durch die Unmöglichkeit, eine oppositionelle Stimme abzugeben« Betrügen lassen sich nur die Kurzsichtigen und die Leichtgläubigen, für die Wahl gleich Wahl ist, weil sie sich die Bedingungen in einem Lande nicht vorstellen können, in dem der Terror der totalen Staatsgewalt herrscht. Diese Mas­sen sollen durch den hundertprozentigen Betrug der hundertprozentigen Wahlresul­tate geistig überrannt werden, sie sollen in den Glauben versetzt werden: das deut­ sche Volk will es! Die Plebiszite des Drit­ ten Reiches sind der Versuch, mit faschi­stischen Methoden auf Volksmassen außer­halb der deutschen Grenzen zu wirken, um sie geistig-moralisch und politisch dem Sy­stem der deutschen Despotie gegenüber zu entwaffnen. Sie sollen entmutigt, von der Sympathie mit dem unterdrückten Teil des deutschen Volkes femgehalten werden. Für sie ist es notwendig, einige Worte über dasWesen diesesPIebiszits und sein Ergebnis zu sagen. In einem freien Lande ist der Grad der Wahlbetei­ligung ein Gradmesser für den politischen Sinn und die politische Anteilnahme der Bevölkerung, in einem Diktaturlande je­doch nur ein Gradmesser für die Wirksam­keit des Terrors. Demgegenüber tritt zu­rück, wieviele von den zwangsweise zur Wahl getriebenen dann riskieren, ihre op­positionelle Gesinnung in irgend einer Form zu zeigen. Sich der Wahl entziehen bedeu­tet heute in Deutschland sichere Anwart­schaft auf das Konzentrationslager und auf Vernichtung der wirtschaftlichen Le­bensgrundlage, wahrscheinlich auch das Risiko, von einer Mörderbande totgeschla­gen zu werden. Ein Teil des Volkes wird bei einem solchen Ple­biszit mobilisiert, um den ande­ren Teil des Volkes zu verge­waltigen. Das ist der eigentliche Sinn des sogenannten Wahlkampfes. Das Sy­stem hat diese Riesenpropaganda veran­staltet, nicht um zu werben, sondern um die Leidenschaft seiner eigenen sicheren

Anhänger bis zum Aeußersten aufzupeit­schen, damit sie regelrecht Jagd auf jeden machten, der sich der TeUnahme an der Wahlfarce hätte entziehen wollen. So wie beim Kriegsausbruch 1914 in allen Län­dern die Spionenmanie und Spionenhetze der im Kriegsrausch befindüchen Massen begann, so hat das System den Massen­wahn seiner Anhänger gegen die opposi­tionellen Volksschichten aufgepeitscht. Das ist ein grundsätzlich anderer Vorgang als bei einer wirklichen Wahl, und das er­klärt auch, wie das deutsche Volk wirk­lich restlos zur Stimmabgabe getrieben werden konnte. Das ist das Wesen des Terrors, der sich dem Massenwahn nutzbar macht. Er bringt den freiheitliebenden oppositionell gesinn­ten Menschen, der nicht vom Wahn er­faßt ist, in die furchtbare Lage, zu wäh­len zwischen der Unterwerfung und der Vergewaltigung seines Intellekts auf der einen Seite und dem sicheren Untergang seiner Person und seiner PamiUe auf der anderen Seite. Das ist die wirkliche Wahl­entscheidung, vor die er bei einem solchen Plebiszit gestellt ist! Wir möchten den Menschen, die das Glück haben, in freien Ländern zu leben, einen Begriff davon vermitteln, in welch furchtbarer unmensch­licher Situation sich heute ein nicht zähl­barer Teil des deutschen Volkes befindet: zusammengesperrt mit bewaffneten Nar­ren und ihrer Gnade ausgeliefert. Wir möchten sie aufrütteln aus der Gleichgül­tigkeit, die nur zu leicht die Nichtbetrof­fenen dem Dauerterror gegenüber ergreift. Wir möchten ihnen das Verständnis einer Erscheinung nahebringen, die wir ge­stehen es nur der restlos verstehen kann, der sie selbst erleidet. Diese soge­nannte Wahl vom 29. März mit der rest­losen Wahlbeteiligung des Volkes ist die grauenvollste Offenbarung des Terrors, die sich denken läßt. Und nun der»Wahlakt« selbst. Hier sind alle Methoden des Terrors wirksam geworden, von der gröbsten des unmittel­baren Zwangs bis zu den feinsten des psy­chologischen Druckes. Auf dem Lande hat man die»Wähler« in Viererreihen antre­ten lassen, einen jeden mit dem Stimmzet­tel in der Hand, eskortiert von SA-Leu­ten; in den Großstädten hat man als op­positionell bekannte Wahlbezirke in klein­

ste Wahlgruppen aufgespalten, um durch unmittelbare Beobachtung die Oppositio­nellen erkennen zu können, man hat ge­flissentlich verbreitet, daß die Wahlzellen unter Beobachtung stehen würden, daß die Stimmzettel sortiert und an Hand der Li­sten kontrolliert werden würden. Man hat den Versuch einer oppositionellen Abstim­mung mit hundertfachem Risiko belastet. Hinzu kommt, daß eine oppositionelle Abstimmung bis zum Aeußersten tech­nisch erschwert worden ist. Der Einheitsstimmzettel hat jeden Oppositio­nellen vor das Problem gestellt: wie mache iches, damitmein Stimm­zettel nicht dennoch als Ja- Stimme gezählt werden kann? Streiche ich den Namen Hitler durch kann der Wahlvorsteher erklären, ich hät­te den Namen Hitler ankreuzen oder an­streichen wollen. Streiche ich den Partei­namen oder die anderen Namen durch, wird er sagen, ich habe ausdrücklich Hit­ler wählen wollen. Zerreiße ich den Stimm­zettel, so hört es die Beobachtung und man fühlt es im Kuvert. Und lasse ich den für das Kreuz bestimmten Kreis frei -- wird dann meine Stimme sicher ungül­tig sein? In der Tat sind alle Stimmzettel, die im Kreis kein Kreuz erhielten, auf ein­heitliche Anordnung hin als gültige Ja- Stimmen gezählt worden. Allein schon diese Anordnung läßt erken­nen, daß es keinerlei Anhalts­punkte dafür gibt, wie das wirk­liche Abstimmungsergebnis gewesen ist. Niemand kann feststel­len, wie viele Oppositionelle zu dem Schluß gekommen sind, daß unter diesen Bedin­gungen die Demonstration des Neinstim­mens unzweckmäßig und nutzlos sei, wie viele trotz allem den Versuch unternom­men haben, gegen die Einheitsliste zu stimmen, ohne daß ihnen dieser Versuch gelungen ist. Mit diesen Methoden sind Millionenfälschungen möglich. Diese Ueberlegungen müssen den unbe­fangenen Beobachter zu dem Schluß füh­ren, daß ein solches Plebiszit unter solchen Bedingungen sich nicht zu einer Schätzung der Volksstimmimg eignet, daß es nicht als eine A u s d r u c k sf o r m der Stärke der Opposition ge­wertet werden kann. Eis läßt nur

den Schluß zu, daß das terroristische Sy­stem einen unzählbaren Teil des Volkes zu Handlungen zwingen kann, denen er gesinnungsmäßig widerstrebt. Es offen­bart nicht die hundertprozentige Zustim­mung des deutschen Volkes zum System und zur Politik Hitlers , sondern lediglich den hundertprozentigen Terror. Dieses Plebiszit war keine Feststellung und keine Enthüllung, es hat im Gegen- teh einen großen Vorhang vor den wirk­lichen Zustand und die wirkliche politische Gesinnung des deutschen Volkes gezogen. Es ist kein Zweifel, daß im Zusammenhang mit der Rheinlandbesetzung eine ungeheue­re nationalistische Welle in Deutschland hochgepeitscht worden ist aber wie weit diese Welle über den Kreis der Anhänger des Systems hinausgegriffen hat, wie weit sie mehr geworden ist als ein Instrument des Terrors, ob und wie weit sie FViedens- liebe und Kriegsfurcht in breiten Massen ertötet hat darüber sagt das Ergebnis des Plebiszits gar nichts aus. Eis läßt nur die Vermutung zu, daß dies System am Tage der Mobilmachung eine ungeheuere Kriegsbegeisterung in Erscheinung treten lassen kann, aber keine Aussage darüber, ob sie echt und dauerhaft sein wird! Eis ist nicht echt, wie das ganze System nicht echt ist, so wenig echt, wie seine Schwüre und seine Ideologie. Es ist nur eine Ver­hüllung. Und es sollte ja auch eine Verhüllung sein! Denn es gibt Gruppen in Deutsch­ land , die die Politik des Hasardspieles mit dem Frieden mit Elntsetzen und Furcht ansehen, es gibt eine tiefe Unruhe im Vol­ke, das die katastrophalen Schwierigkei­ten des Systems fühlt, es gibt schwere Beklemmungen des Systems selbst, es gibt Kampf und Parteiung innerhalb der An­hängerschaft des Systems, es gibt eine unversöhnliche Opposition gegen das Sy­stem, es gibt illegale Organisationen. Das alles zu verdecken, das ist der eigentliche Sinn dieses Plebiszits gewesen. Und trotz alledem praktisch hundert Prozent? Nein, das sagt gar nichts! Ein Vorhang ist niedergegangen. Eine dunkle Wol­ke künstlichen Nebels hat sich über das unglückliche deutsche Volk, hat sich über die Mitte Europas niedergesenkt, aus dem die Ueberraschungsvorstöße des deutschen Kriegssystems gegen die heutige Ordnung Europas erfolgen sollen.

Fortdauer der polltisdien Krise Wadi der ersien Etappe des diplomatischen Großkampfes

Drei Wochen nachher; die»vollendete Tatsache« der Rheinlandbesetzung bleibt vollendet, und das ist bisher das einzige, das zählt. Die frühere neutrale Zone ist besetzt, die schon vorbereiteten Festungs­arbeiten sind im Gange. Man kann die Be­deutung des dadurch herbeigeführten U m- sturzes in den europäischen Machtverhältnissen gar nicht hoch genug veranschlagen. Machtpolitik hat ihre eigene Dynamik. Wie die Beset­zung des Rheinlandes die unerbittliche Konsequenz der schrankenlosen, nur der Eigengesetzlichkeit des militärischen An­spruchs gehorchenden Aufrüstung war, so ist die Gewinnung dieser neuen Machtposi­tion für Hitlers Außenpolitik nur der Aus­gangspunkt für die Schaffung noch stärkerer. SieistnurEtappe, nicht Ende. Der Festungswall am Rhein bedeutet

zunächst, daß die deutsche Diktatur für ein Vorgehen in Mittel- und Ost­europa ungleich stärker freie Hand hat als bisher. Hinter den Festungen genügt ein relativ kleiner Teil der deutschen be­waffneten Macht, um ein Vorgehen Frank­ reichs und damit zugleich Englands un­möglich zu raachen, wenn Hitler einen neuen Sprung im Osten ausführt. Die Be­festigung des Rheinlands erfolgt nicht zum Schutze Deutschlands gegen einen eng­lischen und französischen Angriff, an dem dort buchstäblich kein Mensch, keine Gruppe denkt. Sie erfolgt gegenwärtig auch noch nicht, um einen deutschen An­griff gegen den Westen auszuführen. Aber sie bewirkt, daß Zentral- und Osteuropa noch mehr als seit dem Beginn der Auf­rüstung zum Ort der geringsten Wider­standskraft gegen deutsche Ansprüche wird, daß deutsche Angriffe leichter loka­

lisiert werden können, daß die westlichen Großmächte von den'Entscheidungen im Osten ausgeschlossen, auf das westeuro­päische Gebiet beschränkt bleiben. Aber so bedeutsam diese unmittel­bare Wirkung des Vorgehens Hitlers ist, vielleicht noch bedeutsamer können die mittelbaren werden. Die Stärkung der deutschen Machtstellung steigert ihre Anziehungskraft im selben Maße als sie die französische vermindert. Alle bisherigen Machtgruppierungen im Osten waren auf der Voraussetzung der prompten englisch -französischen Interven­tionsmöglichkeit und ihrer militärischen Ueberlegenheit aufgebaut. Mit der Voraus­setzung werden sich auch diese Gruppie­rungen ändern. Die bisherige Richtung der rumänischen Außenpolitik an der Seite Frankreichs ist keineswegs gesichert. Starke Strömungen, besonders in den obe-