Nr. 149 SONNTAG, 19. April 1936
eopaltemolraHfcfog Verlag; Karlsbad , Haus„Graphia"— Preise und Bezugsbedingungen siehe Beiblatt letzte Seite
Aus dem Inhalt; Neuer Massenprozeß gegen Illegale Greiser in Südamerika Der schwarze Etat Machtbewußter Sozialismus
Die Genfer Verhandlimgen in der Oster- woche haben gezeigt, daß wirkliche Friedensverhandlungen in Europa heute nicht möglich sind. Die Politik Hitlers hat um ihres Prestigebedürfnisses willen eine unheilvolle Atmosphäre der psychologischen Belastung, des Mißtrauens und der Erbitterung geschaffen, die jede Verhandlung oder Konferenz von vornherein belasten und zu einer Quelle der Gefahr machen muß. Die Konferenzen, die von der deutschen Politik angeregt werden, würden jenen Konferenzen der unmittelbaren Vorkriegszeit gleichen, die die Welt immer näher an den Rand des Krieges gebracht haben. Die größte Gefahr liegt nun darin, daß ausgerechnet bei diesem Zustand Europas die Diskussion um die Frage herangeführt wird, an der sich der Brand entzünden kann. Es ist die Frage, ob der»Status quo« in Mittel- und Osteuropa erhalten, oder ob die gegenwärtige Machtlage und Grenzziehung verändert werden soll. Das Problem des sogenannten»Revisionismus« in Mittel- und Osteuropa ist in den Vordergrund gerückt Die Absicht, jedem Versuch einer gewaltsamen Aenderung des Status quo in diesen Gebieten einen Riegel vorzuschieben, hat den Projekten eines Ostpak- t e s und eines Donaupaktes zugrundegelegen. Diese Projekte waren die großen Streitpunkte, um die sich seit zwei Jahren die europäische Politik konzentriert hat Der Ostpakt beruhend auf der Grundlage gegenseitiger Beistandsversprechen, ist von Frankreich , der Kleinen En tente , von Sowjetrußland dringend gefordert worden. Als die deutsche Regierung das gegenseitige Beistandsversprechen ablehnte, ist in einer Zeit wo die endgültige Ablehnung eines Kollektivpakts durch Hitler noch nicht feststand, als Ergänzung eines kollektiven Ostpaktes die Idee des französisch-russischen Beistandspakts konzipiert worden. Die Hitlerpolitik hat seit dem 21. Mai 1935 — den dreizehn Punkten Hitlers — dem Projekt eines kollektiven Pakts ihr Prinzip der isolierten zweiseitigen Nichtangriffspakte gegenübergestellt— weil aie sich nicht an den Status quo binden und ihn garantieren wollte. Bisher ist der diplomatische Kampf um diese Fragen als Kampf um abstrakte Prinzipien geführt worden —- aber jetzt ist die Zeit gekommen, wo die diplomatische Verhüllung abgeworfen wird und die Gefahrenpunkte mit Namen genannt werden. Es wird nicht nur von der Erringung der deutschen Vorherrschaft in Mittel- und Osteuropa gesprochen, sondern es wird offen ausgesprochen, auf wessen unmittelbare Kosten sie sich vollziehen würde. Die Rede Flan- dins, der ausdrücklich Danzig , Memel , Oesterreich, die Tschechoslo wakei , Dänisch-Schlcswig. Pol uisch-Schlesien und die Schwei ! genannt hat, hat auf die wichtigen Punkte hingewiesen. In Frankreich wendet sich die gesamte öffentliche Meinung auf das entschiedenste gegen solche revisionistische Pläne. Anders in England. Hier gibt es in der öffentlichen Meinung eine starke Strömung, die scharf zwischen den Fra gen Westeuropas einerseits, Mittel- und Osteuropas andererseits unterscheidet, die es entschieden ablehnt, sich wegen mittel oder osteuropäischer Fragen in Konflikte verwickeln zu lassen, und die es nicht als
ihre Aufgabe ansieht,»Frieden in einem Irrenhause zu stiften«.(Lord Lothian in einer Ansprache über Deutschland und das Rheinland , am 2. April.) Für die Denkweise dieser Richtung sind die Vorschläge erklärend, die Lord Lothian in der oben erwähnten Ansprache für eine europäische Verständigung machte: »1. daß innerhalb einer bestimmten Anzahl von Jahren unter der Ueberwachung des Völkerbunds eine Volksabstimmung über die Zukunft Oesterreichs in Oester reich stattfinden sollte, über Fragen, über die sich Oesterreich , Deutschland und der Völkerbundsrat verständigen sollten: 2. daß innerhalb von drei Jahren ein Abkommen über die Zukunft von Memel erreicht werden sollte. 3. daß die polnische und die deutsche Regierung zu einer baldigen Diskussion Uber die Zukunft von Danzig und die Schaffung besseren Zugangs vom Reich zu Ostpreußen eingeladen werden sollten; 4. daß die Grenzen von Bulgarien und Ungarn neu erwogen werden sollten.« Nehea dieser pc�Uy-revisipiüstischen Richtung in England steht eine andere, breitere, die aus Widerwillen gegen den Krieg überhaupt nicht in die gefährlichen Fragen Mitteleuropas verwickelt werden möchte, und diese Strömung ist es, die auf die englische Regierung einwirkt. Das Blaubudi und das Wesen der deutsdien Diplomatie Am 11. Juli 1935 hat Sir Samuel Hoare als Sprecher der Regierung im Unterhause erklärt, daß die englische Regierung auf das entschiedenste wünsche, daß ein Ost- und ein Donaupakt bei Teilnahme Deutsch lands so bald als möglich ratifiziert würde. Zwischen dieser Forderung von damals, die eine entschiedene Erklärung gegen den Revisionismus in Mitteleuropa war, und der Haltung der englischen Regierung von heute in diesen Fragen, ist ein großer Unterschied. Eis liegen dazwischen die Erfahrungen, die die englische Politik mit der deutschen Methode der Behantjlhng der Ostfragen gemacht hat. Darüber gibt das Blaubuch über die englischen Verhandlungen mit Deutschland Aufschluß, das die englische Regierung soeben veröffentlicht hat. Der damalige englische Außenminister Sir Samuel Hoare hat damals energisch auf den Ostpakt in Berlin gedrängt. Als die deutsche Diplomatie sich demgegenüber auf die zweiseitigen Nichtangriffsverträge aus Hitlers 13 Punkten zurückzog, ließ er am 5. August 1935 in
Berlin ein Aide Memoire überreichen, in dem es hieß; »Wenn die Absichten der deutschen Regierung, so wie sie von dem deutschen Botschafter erklärt wurden, korrekt aufgefaßt worden sind, so würde die durch eine solche Haltung der deutschen Regierung geschaffene Situation der britischen Regierung höchst entmutigend erscheinen. Sie würde sich für durchaus berechtigt halten, die Herbeiführung einer solchen Situation als beklagenswert zu bezeichnen.« Diese Aktion verlief im Sande . Am 22. August erinnerte der englische Geschäftsträger den Staatssekretär von Bülow an seine Antwort. Der zog sich darauf zurück, daß der Kanzler in einer so schwierigen Angelegenheit erst nach den Ferien, erst nach dem Nürnberger Parteitag, Mitte September, entscheiden könne»Als ich Ueberraschung und Enttäuschung ausdrückte, konnte Herr von Bülow nur erklären, daß die Ferien dem Herkommen nach in Deutschland strikter beachtet würden als in England«. Einen Tag später teilte der deutsche Geschäftsträger in London mit: Antwort erst Anfang Oktober, und am 15. September versicherte Baron Neurath dem englischen Botschafter, man wolle die Antwort verschieben, »bis ruhigere Zeiten kommen.« Der eng lische Vorschlag hat eine grobe Abfuhr erlitten, und seitdem hat sich die englische Politik von dem Projekt eines Ostpaktes abgewandt, es ist seitdem von der einstigen entschiedenen Forderung nicht mehr die Rede gewesen. Die Haltung der englischen Politik zu den Fragen Mittel- und Osteuro pas ist seitdem unentschieden und zweideutig. Einen gleichen Mißerfolg wie in der Frage des Ostpaktes hat die englische Politik in der Frage eines Luftpaktes in Westeuropa erlitten. Methode und Zielsetzung der deutschen Diplomatie war dabei die gleiche wie bei den Ostfragen. Das englische Blaubuch läßt klar genug erkennen, was das eigentliche Geschäft der Hitlerdiplomatie ist Sie hat mit den selbstherrlichen Entscheidungen des Diktators nichts zu tun, sie ist ein Hilfsorgan, dessen Zweck es ist, Vorschläge und Absichten der anderen zu zerreiben. In ihren Besprechungen soll nichts erreicht, nur hingehalten werden, ihre Aktionen zielen höchstens auf propagandistische Wirkung ab. Sie zieht sich jederzeit achselzuckend hinter die Entscheidung Hitlers zurück, ohne Rücksicht auf den üblen Eindruck, den ihre Partner von ihrer Zweideutigkeit und Grundsatzlosigkeit gewinnen. Ihre Aufgabe ist es, einen Schirm aufzurichten,
hinter den sich die Machtsammlung Hitlerdeutschlands ungehindert vollziehen kann. Das englische Blaubuch enthüllt als einziges Prinzip dieser Diplomatie: Zeitgewinn ist alles. Aber Zeitgewinn wofür? Darüber ist nicht der mindeste Zweifel. Wenn Hitler - deutschiand sich stark genug fühlen wird, so wird es darangehen, die Grenzen in Mittel- und Osteuropa einzuschmelzen. Die großdeutschen Expansionsabsichten Hitlers sind aus seinem Buch»Mein Kampf « hinlänglich bekannt, sie sind durch die Rosenberg- schen Pläne erweitert worden. Man mag die Rosenbergschen Pläne für reine Phantasien halten— die großdeutschen Eroberungspläne Hitlers sind es jedenfalls nicht. Er ist heute schon in der Lage, eine gewaltige Militärmacht hinter sie zu setzen. Zur Verwirklichung dieser Pläne strebt die Hitlerpolitik nach der Freundschaft, zum mindesten nach der Neutrali- sierung Englands, diesem Zwecke dienen die Deklamationen über die deutsch -französische Verständigung. Hitler gegen den Status quo Während der Verhandlungen über das deutsch -englische Flottenabkommen im Sommer 1935 versicherte Herr von Rib- bentrop in London , der Eckstein der politischen Konzeptionen des Kanzlers- sei »daß nur eine gemeinsame realistische Haltung gegenüber den großen europäischen Problemen ihre Lösung hervorbringen kann, und besonders eine deutsch -französische Verständigung, die das deutsche Volk wünscht, und ohne die Europa nicht zur Ruhe kommen kann«. Dieser Realismus, den Deutsch land und England gemeinsam zeigen sollten, ist die Teilung des Friedens, die Lösung des Westens vom Osten. Wie einst Wilhelm H. von den Engländern bei den gescheiterten Verhandlungen über die Flottenabrüstung die Neutralität bei einer kontinentalen Auseinandersetzung erkaufen wollte, so verfolgte auch die Hitlerpolitik ähnliche politische Ziele. Sie hoffte, auf der Grundlage des Flottenpaktes weiter zu bauen und das politische Ziel zu erreichen, an dem Wilhelm H. und Beth- mann Hollweg gescheitert waren: die Neutralität Englands und die Isolierung Frank reichs für die kontinentale Auseinandersetzung, die das Ergebnis des Weltkrieges revidieren soll. Mit dieser Zielsetzung hat die Hitlerpolitik weitergewirkt, und sie ist sich wohl bewußt, daß der schwache Punkt, an dem sie eindringen kann, die Haltung der öffentlichen Meinung in England ist Sie bietet alles auf, um propagandistisch
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Die polnische Presse verweist mit Erbitterung darauf, daß trotz der polnisch-deutschen Preaseverednbarungen, die nach dem Berliner Pakt beschlossen wurden, die deut sche Propaganda nicht aufhört, ausgesprochene anti-polnische Tendenzen zu verfolgen. Unter anderem schreibt der Warschauer sozialistische»Robotnik«, daß für die Auslandsbesucher, die sich für die Fahrt nach Deutschland zu der Olympiade entschlossen haben, ein Baedecker unter dem Titel»Deutscher Staat« herausgegeben wurde. Diese Handbuch enthält— nach dem »Robotnik«— kuriose Blüten. Der Plan der
Auaflüge nach Deutschland , der in diesem Reisehandbuch angeführt ist, bezeichnet als rein deutsches Gebiet Elsaß-Lothrin gen , das Gebiet der Freien Stadt Danzig und einen Teil Polens aus Posen und Thom. Auf einer Karte, die diesem Büchlein angeschlossen ist, sind die Vorkriegsgrenzen Deutschlands eingezeichnet und die polnischen Gebiete sind als»Gebiete, die von dem Mutterland abgetrennt wurden« bezeichnet. Beim Lesen dieses Buches geht hervor, daß ganz Posen, die Küste und Danzig eigentlich zum»Reich« gehört.»Robotnik« verweist
besonders auf den Umstand, daß das deutsche Reisehandbuch vom deutschen Propa- gandaml nisterium begutachtet wurde und spricht den Wunsch aus, das polnische Außenministerium möge dieser deut schen Propagandapublikation etwas Aufmerksamkeit widmen. Im Warschauer Senat verwies der Senator Lubomirski auf diese Sache und verlangte, daß das zitierte Handbuch auf polnischem Gebiete beschlagnahmt werde. Bs zeigt steh nämlich, daß dieser Baedecker sehr stark auf polmsohem Gebiet kolportiert wurde.