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SONNTAG. 3. Mal 1936
6i%ialteiiwlraHfcfog tttecfonfrla# Verlag; Karlsbad , Haus„Graphia"— Preise mid Bezugsbedingungen siehe Beiblatt letzte Seite
Aus dem Inhalt: Der Diktator gegen die NSDAP Der Wettlauf der Rüstungen Maifeier ohne Politik Unser Verhältnis zum Staat
Die braune Unschuldslose
Wer ist schuld am Rüstungswahnsinn?
Das Hitlersystem führt zur Vorbereitung eines wirklichen Krieges einen Propagandakrieg. Er will mögliche Gegner vor Kriegsausbruch nach Kräften innerlich schwächen. Zu diesem Zwecke hat es eine Unschuldslüge erfunden;»Hit- lerdeutschland ist an nichts schuld, nicht einmal an der allgemeinen Aufrüstung!« Die Aufrüstung und ihre Kosten werden allen Völkern immer fühlbarer, vor allem den Völkern, die offen Steuern dafür zahlen müssen. Die englische Regierung hat sich zu erheblichen Steuerhöhungen entschlossen, um die Rüstungspläne zu finanzieren. Unter der schmerzvollen Wirkung der neuen zusätzüchen Steuerbelastung macht sich ein großer Teü der englischen Oeffentlichkeit heute klar, daß sie diese Ausgaben dem Hitlersystem zu verdanken hat. Das deutsch -englische Problem kommt aus dem Nebel des Gefühlsmäßigen in das Licht harter Tatsachen, die sich der englische Steuerzahler nach Pfund und Schilling berechnen kann. Es ist selbstverständlich, daß er die Frage stellt:»W er ist schuld?« Sofort meldet sich die Hitlerpropaganda und schreit in allen Tonarten los:»Wir sind unschuldig, wir sind vollständig unschuldig! Nicht wir, die bösen Franzosen sind schuld!« Es handelt sich dabei selbstverständlich nicht um eine internationale Diskussion von Land zu Land, um eine Auseinandersetzung auf irgendwie wahrhaftiger Grundlage, sondern um eine Anwendung der braunen Propagandagrundsätze über Benutzung und Erzeugung von Massenwahn. Eine Stimmung gegen Frank reich in England soll ausgebeutet und gefördert werden, um die englische Bevölkerung vom wahren Tatbestand abzulenken, Es verlohnt sich, die Methoden und die Scheinargumente dieser braunen Propaganda etwas näher anzusehen, »W arum müssen die Engländer zahlen?« so fragt die»Frankfur ter Zeitung «( Nr. 209/210), um.prompt zu antworten:»Weil sie erkannt haben, daß sie zu schwach geworden sind, um ihre britischen Interessen in der Welt durchzusetzen. In der Welt— aber nicht Deutschland gegenüber!« Die große Unruhe über die deutsche L u f t- rüstung in England, die langen Parlamentsdebatten über das Wachsen der deut sch » Luftrüstung, der Schock, den die englische Oeffentlichkeit erfahren hat, als Hitler dem damaligen Außenminister Sir John Simon mitteilte, daß die deutsche Luftrüstung der englischen ebenbürtig sei, Baldwins Wort von der Grenze am Rhein — alles dies wird von der Unschuldslüge ausgestrichen. Wenn die Engländer jetzt widerwillig in Luftschutzkeller und Gasmasken kriechen müssen, wenn die Ruhe ländUcher Gegenden durch das Krachen der Uebungsbomben der Luftflotte gestört wird, wenn das Sicherheitsgefühl des insularen Volkes Not leidet— dann weiß jeder Engländer, daß es nicht französische Fliegerbomben sind, die er fürchtet, sondern ein Luftangriff durch die Geschwader des Hitlersystems. Aber eben deswegen spricht die braune Propaganda nicht von Luftrüstung, sondern von der Flotte: »Durch das deutsch -englische Flottenabkommen Ist England die Sorge los, daß ein ungebührlich großer Teil der britischen Streitkräfte im Heimatgebiet durch die Rücksicht auf Deutschland festgehalten wird. In der Tat: die britische Regierung konnte es sich leisten, fast die gesamten verfügbaren Streitkräfte angesichts der abessinischen Krise im Mittelmeer zu versammeln.« In der Tat: ohne das deutsch -englische
Flottenabkommen wäre die Konzentration im Mittelmeer der englischen Regierung vielleicht noch leichter gefallen, und wenn das deutsch -englische Flottenabkommen erst so alt ist, daß das Hitlersystem seine 35 Prozent ausgebaut hat, und noch einiges darüber, wird keine englische Regierung mehr eine solche Flottenkonzentration wagen können! Die Argumente sind faul, und vorsorgüch zieht der Propagandist des braunen Systems deshalb ein drittes hervor: Sollte je wirklich das Wiedererstarken Deutschlands die Rüstungsvermehrung Groß- britanniens beschleunigt oder erleichtert haben(das Argument war zeitweise sehr zugkräftig) so wäre die britische Nation, man möchte fast sagen, uns zu Dank verpflichtet— denn es war im englischen Interesse wirklich an der Zeit, sich zu kräftigen!« Hitlerdeutschland ist unschuldig, gänzlich unschuldig, wenn es aber schuldig ist, war die Schuld keine Schuld, sondern ein gutes Werk! Und schließlich, zur Krönung des Denkens um die Ecke herum, folgt die Prophezeiung;- je mehr die Engländer für die Aufrüstung bezahlen, desto näher kommen sie an die Abrüstung heran, die Hit ler so sehnlichst erstrebt. Hier wird der wunde Punkt der Hitlerpolitik sichtbar. Sie hat die erste Ge
fahrenzone der Aufrüstung durchschritten. Sie hat die Bindungen und Verträge gebrochen, sie ist zur Rüstungs- auarchie übergegangen, ohne daß sie zum Rückzug gezwungen worden wäre und ohne daß Maßnahmen erfolgt wären, die den Zusammenbruch nicht Deutschlands , aber des verbrecherischen Systems bedeutet hätten. Sie hat das Stärkeverhältnis zu ihren Gunsten verschoben. Jetzt aber gerät sie immer stärker in die zweite Gefahrenzone. Die Aufrüstung der anderen als Folge des deutschen Anstoßes verschiebt das Stärkeverhältnis wieder zuungunsten des Hitlersystems, sie führt zu einer Probe aufs Exempel, wer den längeren finanziellen und wirtschaftlichen Atem hat, und vor allem— sie verschiebt die seelische Einstellung der rüstenden Völker zuungunsten des braunen Systems. Deshalb das Spiel mit dem Abrüstungsangebot, hinter dem sich nichts anderes verbirgt als die Absicht, das Stärkeverhältnis so zu stabilisieren, wie es sich nach dem Durchschreiten der ersten Gefahrenzone gestaltet hat und die Schuld des braunen Systems aus dem Gedächtnis der Völker hinweg zu eskamotieren. Das ist der Sinn der Unschuldspropaganda. Keines ihrer Argumente ist wasserdicht, jedes widerspricht dem anderen. Aber es kommt dieser Propaganda nicht
auf die innere Logik an! Ihr Zweck ist es, den gefühlsmäßigen Anhängern des Systems in England, die immer noch das Hitlersystems mit Deutschland verwechseln, Scheinargumente zu geben. Man kann sicher sein, daß diese von der hitlerschen Unschuldspropaganda gelieferten Scheinargumente in der innerenglischen Diskussion bald hier bald da auftauchen werden. Wäre es nicht an der Zeit, daß die englische Oeffentlichkeit geschlossen sich die Frage vorlegt: warum interessiert sich die Presse des Dritten Reiches so sehr für die Frage, warum die Engländer zahlen müssen? Wäre es nicht angebrachter, wenn sie sich intensiv und wahrhaftig mit der Frage beschäftigen würde; warum müssen die Deutschen zahlen? In Deutschland darf kein Mensch im Ernst die Frage aufwerfen; warum müssen wir zahlen, warum müssen wir hungern? Wehe dem, der es wagen würde, die Frage wahrhaftig zu diskutieren, oder gar sie zur Grundlage propagandistischen Wirkens gegen die Rüstungskosten und für die Abrüstung zu machen! Das braune System aber benutzt jede Gelegenheit, um innerhalb der anderen Völker Propaganda zu treiben, sich mit Argumenten und Scheinargumenten, mit Einflüsterungen, Verdrehungen, Lügen sich
Streit Im braunen System um den Raub
Das HiUersystem hält den Etat des Deut schen Reiches geheim. Es verbirgt seine finanzpolitischen Pläne für die Zukunft. Es hat Gerüchte über neue Steuern und einen Wehrbeitrag durchaickem lassen, ohne bisher irgend einen Schritt in dieser Richtung zu unternehmen. Gleichzeitig sind die Cliquenkämpfe hinter den Kulissen immer heftiger geworden, und nun ist plötzlich Göring als Finanzdiktator eingesetzt worden. Was bedeutet diese Maßnahme? Auch in anderen Ländern haben sich seit der Aufritetung große Koordinationsschwierigkeiten bei den militärischen Ausgaben ergeben— selbst in England, wo auf ein klares und durchsichtiges Budget Wert gelegt wird. Erst kürzlich ist ein Minister in England eingesetzt worden, dessen Hauptfunktion es sein wird, die Ansprüche von Heer, Flotte und Luftflotte in Einklang zu bringen und gegeneinander abzustimmen. Im Dritten Reich jedoch handelt os sich um mehr— nicht nur um die militärischen Etats. Kurz vor der Ernennung Görings hat Schacht im»Deutschen Volkswirt« eine Flucht in die Oeffentlichkeit angetreten. Man erkennt daraus, daß in der deutschen Finanzwirtschaft alles kunterbunt durcheinandef- g e h t, daß das Reichsfinanzministerium nicht mehr in der Lage ist, die einzelnen Etats zu koordinieren, daß die mächtigen Ressorts und Gruppen selbstherrlich ihren Finanzbedarf festsetzen, und daß ein Clearing der Ansprüche offenbar nicht gelungen ist. Wenn das Organ Schachts darüber klagt, daß einzelne Sekretariate, Führer von Organisationen und einzelne Ministerlen rücksichtalos sich ihre Fetzen vom Kuchen herunterreißen, so verbirgt sich dahinter das Geheimnis, daß Uberhaupt kein Reichsetat mehr besteht, und daß die Methode des Schuldenmachens und der Finanzierung
und Kriegsmethoden in die Anarchie der Reichsfinanzen geführt hat. An sich hätten die Vollmachten, die Schacht als Wirtschaftsdiktator bereits besitzt, völlig genügen müssen, um das Clearing der Ansprüche herbelzufühtrern, zumal er immer noch das uneingeschränkte Vertrauen von Hitler besitzt. Aber hier ergibt sich eine Interessante Fragestellung: wie kommt es, daß dieser Anarchie nicht mit der Autorität von Hitler gesteuert wird? In der Person von Hitler liegt nach der ungeschriebenen Verfassung des Dritten Reichs die ganze Gewalt, also auch die gesetzgebende Gewalt, also auch die unumschränkte Gewalt, den Etat festzusetzen und die großen Linien des Ausgleichs zu diktieren. Man muß den Schluß ziehen, daß diese Aufgaben Uber die Fassungskraft des Oberhauptes hinausgehen, und man muß sich fragen: welche praktischen Arbeitsfnnktlo- nen leistet Hitler Überhaupt bei der Beherrschung des Dritten Reichs ? Schacht hat nach einem Schirm für sich gerufen, obwohl Hitler hinter ihm steht. Er hat diesen Schirm für nötig gehalten, weil es sich nicht nur um den Ausgleich der Ansprüche von Rüstung und Wirtschaft handelt, sondern auch um die Ansprüche der nationalsozialistischen Partei und ihrer Organisationen. Wenn er Klage führen läßt Uber den Bedarf der großen Zahl von Organisationen, die mit der NSDAP verbunden sind, über die dauernde Schwächung des Einkommens und damit der Steuerkraft der Einzelpersonen durch diese Organisationen, so wird hier ein Konflikt wieder lebendig, der seit dem Herbst 1933 latent war und dessen letzte Ausläufer am 3 0. Juni 1934 blutig erledigt wurden. Hinter der Parole der Staats raison, daß alle Kraft auf die Rüstung konzentriert werden müsse, verbirgt sich die Absicht zu einer kräftigen Beschneidung des Eigenlebens der NSDAP und ihres Finanz
bedarfs. Die NSDAP hat sich dagegen zur Wehr gesetzt. Das»Schwarze Korps«, das Sprachrohr der SS und der sogenannten radikalen Nationalsozialisten hat Schacht deswegen auf das heftigste angegriffen und ihn reaktionärer Gesinnung beschuldigt. In diesem Kampf um die Beute hat Schacht sich nicht allein exponieren wollen. Ein Machtwort Von Hitler , so sollte man meinen, hätte genügen müssen, um eine Entscheidung zwischen Heer und Wirtschaft auf der einen, den Ansprüchen der NSDAP auf der anderen Seite herbeizuführen. Aber Hitler hat es vorgezogen, sich nicht selbst zu exponieren. Er hat Gö ring zum Diktator ernannt, praktisch gesprochen zum Diktator gegen die Partei. Der Vorgang wirft Licht auf die Machtverhältnisse in Deutschland . Schacht hat hinter sich die Führer der bewaffneten Macht, die fest entschlossen sind, unter den wachsenden Finanzierungsschwierigkelten die Aufrüstung nicht leiden zu lassen. Wenn gespart werden muß, dann soll zuerst bei der NSDAP gespart werden. Göring steht vollständig an der Seite der Führer der bewaffneten Macht, er gehört zu ihnen. Sein Staatssekretär G r a u e r t, einer der Exponenten der großindustrlellen Interessen in Deutschland , wird praktisch beim Ausgleich der Ansprüche, bei der Beachnei- dung des Finanz bedarf s der NSDAP , die erste Rolle spielen. So ergibt sich wieder das Bild von 1933/1934: gemeinsame Stellungnahme von Wehrmacht und Industrie gegen die »falschen Kosten« der NSDAP . Das braune System ist keineswegs im Gleichgewicht. Es hat ernste Konfliktsmög- licbkeiten in sich. Die mammutartige Aufblähung der nationalsozialistischen Organisationen mit ihrem gewaltigen Finanzbedarf, an denen Hunderttausende von Existenzen hängen, macht es wahrscheinlich, daß eine Finanzdiktatur gegen die NSDAP dem System noch manche Nuß zu knacken geben wird.