Nr. 151 BEILAGE 3. Mai 1936 Unser Verhältnis zum Staat Erörtert vom Verfasser der»Grenzen der Gewalt« In Nr. 147 vom 5. April des»N. V.« veröffentlicht Genosse Fritz Tejessy einen Artikel, betitelt:»Mit Lassalle«, in dem er verkündet:»Wir müssen unser Verhältnis zum Staat neu durchdenken.« In der Tat beschäftigt diese Frage heute nicht wenige Genossen, ihre Erörterung ist nicht zu umgehen. Nur fürchte ich, daß die Art, wie F. T. dabei vorgeht, nicht gerade geeignet ist, die dringend erheischte Klärung zu fördern. Er gibt eine Darstellung, bei der die Dinge auf den Kopf gestellt werden. Was F. T. verlangt, ist vor allem Staatsgesinnung im Geist der Zeit im Gegensatz zu dem bösen Geist der Marx- Engelsschen Staatsauffassung, die bisher die Sozialdemokratie irregeführt habe und der ihren erneuten Aufstieg hemme. Nach Lassalle seien es Wilhelm Liebknecht und Bernstein gewesen, die Lassalles Staatsgesinnung vertraten. An sie sollten wir uns halten. Tejessy schließt mit den Worten: »Von Lassalle über Wilhelm Liebknecht und Eduard Bernstein führt der Weg In die staatspolitische Zukunft der deutschen Sozialdemokratie.« Er läßt es unentschieden, welchen Bernstein er dabei im Auge hat, ob etwa den von 1891, der damals die Schriften Lassalles herausgab und an dessen»Staats- gesinnung« scharf Kritik übte, oder den von 1899, der die Marxschen Anschauungen kritisierte. Aber gerade an dem Bernstein von 1899 und an dessem Revisionismus nahm Liebknecht den stärksten Anstoß. Er bekämpfte ihn ebenso sehr, wie er vorher Lassalle und seiner Staatsgesin- nung entgegengetreten war. Tejessy weiß in der Tat für Liebknechts»Staatsfreudigkeit« im Sinne Lassalles nur eines vorzubringen: »Wilhelm Liebknecht gab— staatsfreudig— seineim 1869 gegründeten Blatt den Titel»Der Volkastaat«. In Wirklichkeit entnahm freiüch Liebknecht diesen Titel dem 1869 beschlossenen Eisenacher Programm, als dessen Verfasser sich Bebel bekannte. Sein erster Punkt lautete;»Die Sozialdemokra tische Arbeiterpartei erstrebt die Errichtimg des freien Volksstaates.« Bebel prägte das Wort als»Tarnung« des Begriffs»demokratische Re- p u b 1 i k«, weil diese in Deutschland 1869 noch nicht offen als Ziel aufgestellt werden durfte. Mißtrauen gegen die Staatspolizei und nicht eine Liebknechtsche »Staatsfreudigkeit« wurde bestimmend für die Wahl des Wortes. Schon auf dem Eisenacher Kongreß bemerkte Liebknecht, man sage»Volksstaat« statt»demokratische Republik «, um die Partei vor poü- zeilichen Maßregeln zu schützen(vgL»Demokratisches Wochenblatt« 1869, Nr. 33). Soviel über die»Staatsfreudigkeit«, die das Wort»Volksstaat« hervorgerufen haben solL Nicht minder gut informiert uns Tejessy über Marx und Engels. Er weiß zu berichten, daß>im Verhältnis zum Staat Marx und Engels liberalistischen Anschauungen unterlegen sind.« Es ist ein beliebter Kniff mancher Gegner der Demokratie unserer Tage, daß sie die Demokratie dem vom Kapitalismus beherrschten Liberalismus gleichsetzen, um sie in den Augen der Arbeiter zu verdächtigen. Frisch und fröhüch übernimmt Tejessy diesen Kniff. Marx und Engels waren demokratische Republikaner. Das wird bei ihm im Handumdrehen zu einer Unterwerfung unter»liberalistische Anschauungen«. Allerdings kann er sich dabei auf einen mildernden Umstand berufen, nämlich auf einen Vorgänger: Heinrich Cunow . Schon 1920 veröffentlichte dieser ein Buch über die Marxsche»Geschichts-, Gesellschafts- und Staatstheorie«, in dem es hieß, sie sei unter dem»Einfluß der gegen den Staatszwang eifernden englischen Staatstheoretik geraten«(S. 289). An einer anderen Stelle seines Buches(S. 319) behauptet Cunow sogar, Marx habe»aus einem halb utopistisch-anarchistischen Revolutionarismus« seine»Hypothese von der baldigen Abschaffung oder Auflösung des Staates herauskonstruiert.« Tejessy weiß selbst, daß diese Behauptungen als Entstellungen und Verdrehungen schon 1923 zurückgewiesen wurden in der Broschüre»Die Marxsche Staatsauffassung im Spiegelbild eines Marxisten«, beleuchtet von Karl Kautsky . F. T. sagt: »Noch 1923 versuchte Kautsky eine Ehrenrettung des oben zitierten Satzes(über das Absterben des Staates) von Engels.« Das hindert F. T. nicht, Cunows Behauptungen zu wiederholen. Kautsky ist bei seinem Schriftchen nicht stehen geblieben. Im zweiten Band seines Buches über die »Materialistische Geschichtsauf fassxmg«, erschienen 1927, erörtert er eingehend auf 600 Seiten jene Frage, die heute so vielen Genossen Kopfschmerzen verursacht, die unseres Verhältnisses zum Staat. Dort wird unter anderem auch Cunows Behauptung der Beeinflussung der Marx- Engelsschen Staatstheorie durch»liberalistische« Auffassungen behandelt: »Es ist mehr als komisch, anzunehmen, Marx und Engels hätten sich in ihren wissenschaftlichen Auffassungen durch Manchesterliberalismus und bürgerlichen Radikalismus bestimmen lassen. Und nicht minder steht in Widerspruch zu den Tatsachen die Behauptung, Marx und Engels hätten im Staat nichts als eine schädliche»Schmarotzerinstitution« gesehen,»die möglichst bald wieder verschwinden müsse.« »Dies von Marx zu behaupten, dem entschiedenen Bekämpfer des Anarchismus sowohl proudhonistischer wie bakuntsti scher Färbung! Von Marx , der in seiner»Inaugural- adresse«, wie im»Kapital« das hohe Lied des staatlichen Arbeiterschutzea sang und der nicht die Zerstörung, sondern die Eroberung der Staatsgewalt als unerläßliches Mittel zur Befreiung des Proletariats betrachte! (»Materialistische Geschichtsauffassung «, Bd. II, S. 54.) Allen Ernstes scheint dagegen F. T. zu glauben, daß Marx und Engels den Staat in Gemeinden auflösen wollten. So fasse ich wenigstens seinen Satz auf, die deutsche Sozialdemokratie sei den»Kommunalismus des deutsch -englischen Diosku- renpaares nie ganz los« geworden. Was soll das Wort»Kommunalismus« sonst besagen? In Wirklichkeit stellten Marx und Engels im März 1848 an die Spitze ihres Programms, das sie für die deutsche Revolution entwarfen, die Forderung: »Ganz Deutschland wird zu einer einigen unteilbaren Republik erklärt.« Diesem Programmpunkt blieben sie treu ihr Leben lang. Die Forderung des Einheitsstaates: welch tief stehender »Kommunalismus«! Kein Zweifel: Marx steht ebenso wenig wie sonst ein Denker über jeder Kritik. Der Schreiber dieser Zeilen hat selbst an manchen überholten Aeußerungen des Malfestzug 1936 »Freut euch des Lebens!«
Ausgabe
4 (3.5.1936) 151
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