Nr. 15>9 BEILAGE
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28. Juni 1956
Reformierter Nationalsozialismus
Die Sdiwarze Front und ihr Programm
marxistischen Arbeiterbewegung für die breite Masse des Volkes ausdrücklich und zustimmend anzuerkennen«. Otto Strasser   bekennt sich als ein Schüler Spenglers, aber sein gutes Herz erlaubt ihm nicht, an den»Unter­ gang des Abendlandes  « zu glauben. Er predigt»die Auferstehung des Abendlandes« durch die deutsche   Revolu­tion, die Erneuerung der Gesellschaft im Geiste des Mittelalters. Darum soll es im Lande des deutschen   Sozialismus kein»Eigentum« mehr geben, sondern nur noch»Lehen«, keine»Klassen«, sondern »Stände«, von denen z. B. die»Offiziere der Wirtschaft« den einen bilden sollen, die»vollberechtigten«, gewinnbeteiligten Arbeiter einen anderen. Zünfte und Innun­gen sollen wieder zu Ehren kommen. Dem »liberal-kapitalistischen und liberal-marxi­stischen Ideal einer Höchsterzeugung von Waren« wird»das konservative Ideal eines voll ausgefüllten freien Lebens« entgegen­gestellt Damit wird»eine gewisse Götzen­dämmerung der Technik« verbunden sein, die dem konservativen Denken des Ver­fassers keineswegs als ein Rückschritt er­scheint. Auf die»neue Geisteshaltung« kommt es ihm an, auf die Schaffung einer neuen Eüte»ritterlicher Menschen«. Mit der Auferstehimg des Abendlandes will er den Ritter wieder auferstehen lassen, »jene gewaltige Frühschöpfung des Abend­landes, die weit über alle Grenzen hinweg das Sinnbüd der ganzen abendländischen Gemeinschaft war und nun folgerichtig mit ihrer Renaissance seine Auferstehung feiert«. Man wird nach alledem vielleicht fra­gen: wodurch unterscheidet sich nun dieser reformierte vom sonstigen Nationalsozialis­mus? Die Antwort kann nur lauten(es ist aber wirklich keine beleidigende Ab­sicht mit dieser Feststellung verbunden): vor allem durch ein gewisses Maß von Liberalismus. Strasser lehnt den »totalen Staat« ab, er will eine gewisse Pressefreiheit gewähren und die Juden wieder als Menschen behandeln.»Die Ver­nichtung der Parteien« will er aber zum Dauerzustand machen und auch auf die NSDAP   ausdehnen, hoffentlich auch auf die Schwarze Front! Das Recht, sich frei nach Weltanschauung und Gesinnung zu­sammenzuschließen und für den Sieg des­sen, was man für richtig hält, zu kämpfen, hat, wie es scheint, in seiner Konstruktion keinen Platz. Strasser will auch kein Parlament, son­dern ein kompliziert ineinander geschach­
teltes System von»Berufsräten« und »Ständekammern«. Das Reich teilt er in »Landschaften« ein mit Landschaf ts- Ständekammem und vom Reichspräsidenten ernannten»Landschaftspräsidenten«. Aus den Landschaftspräsidenten und dem Prä­sidium der»Reichsständekammer« setzt sich der»Oberste Rat« zusammen, der den Reichspräsidenten auf Lebenszeit wählt. Das ganze läuft auf ein System der Oligarchie, die Herrschaft einer dünnen Oberschicht hinaus eben der Leute, die sich für die modernen Ritter halten. Das deutsche   Volk wäre zu bedauern, wenn es nach dem lebensgefährlichen Experiment der Hitlerei auch noch diese Pferdekur durchzumachen hätte. Trotzdem erscheint Otto Strasser  , vom Standpunkt der nationalsozialistischen Orthodoxie aus gesehen, als ein»L i b e- r a 1 e r«, ein»Demokrat«, ein»Mar­xist«.»Was Sie da sagen, ist einfach Demokratie!«»Was Sie Sozialismus nennen ist reiner Marxismus!« das sind die Ausrufe, mit denen Hitler   in den ver­öffentlichten Gesprächen mit Otto Strasser  seinen Gegner immer wieder unterbricht. Hitler   hat eben von Demokratie und Mar­ xismus   seine eigenen Auffassungen! * Zwei Fragen sind zu beantworten: 1. Was bedeuten Otto Strassers Theorien für Deutschlands   Zukunft? 2. Sind sie ein Fortschritt über den Marxismus hinaus oder ein Rückschritt hinter ihn zurück? Zur ersten Frage ist zu sagen, daß ihre Beantwortung davon abhängt, ob man als nächsten Impuls der Entwicklung eine Auseinandersetzung innerhalb des Nationalsozialismus selbst erwartet oder aber eine Auseinandersetzung des Natio­nalsozialismus mit seinen geschichtlichen Gegnern, d. h. vor allem mit den Arbeitern. Im ersten Fall wird man den Theorien Strassers eine gewisse Bedeutung zuer kennen, im andern wird man sie ihn ab sprechen. Denn und damit kommen wir schon zur zweiten Frage außerhalb der Auseinandersetzungen im Nationalsozialis­mus selbst kann den Theorien Otto Stras­sers keine große Bedeutung beigemessen werden. Sie sind nichts als einer der unge­zählten, mit unzulänglichen Kräften unter­nommenen Versuche, den Marxismus durch ein neues System zu ersetzen, und es wird ihnen dasselbe Schicksal beschieden sein wie jenen Vorgängern: man wird bald aufhören, von ihnen zu sprechen. Auch die sozialistischen   Kräfte, die in der NSDAP  
in irgend einem geistigen Urzustand vor­handen sein mögen, werden eine andere Schulung brauchen, wenn nicht bei ihrem Zusammentreffen mit den geschulten alt- sozialistischen Kräften neue Verwirrung entstehen soll. Der Streit wird sich, soweit er theoretisch ausgefochten wird, um das Verhältnis von Sozialismus und Liberalismus drehen. Der Kampf gegen den Liberalismus ist wirklich nicht die Erfindung irgendwelcher sozialtheoretischer Neutöner. Er ist mit viel größerer geistiger Schärfe als von ihnen von den»marxistischen  « Sozialisten geführt worden, nicht zuletzt von den »typischen Liberalen Marx, Engels und Kautsky  « selbst. Diese allerdings haben auch einen Unterschied zu machen gewußt zwischen dem Wirtschaftsliberaüsmus, dem Manchesterliberalismus und dem geistigen Liberaüsmus; sie haben den einen ebenso bekämpft, wie sie sich dem anderen selbst­verständlich verbunden fühlten. Wenn Otto Strasser   diese beiden Begriffe von Libera­lismus durcheinanderwirft, so ist das kein Fortschritt, sondern ein arger Rückschritt. Sozialismus und Wirtschaftsliberalis­mus scheiden sich wie Wasser und Feuer. Sozialismus und geistiger Liberalismus gehören unzertrennlich zusammen, weil echter geistiger Liberalismus nur durch den Sozialismus verwirklicht werden kann. Wenn man diese Verbindung als eine »Ueberfremdung  « bezeichnet, und sie durch eine neue Verbindung»Sozialismus- Nationalismus-Mystizismus« ersetzen will, so können wir dazu nur erklären, daß die­ser neuartige Sozialismus nichts zu tun hat mit dem, was in Deutschland   seit siebzig Jahren als Sozialismus gegolten hat. Daß übrigens der Nationalismus ein typisches Erzeugnis des liberalen Zeitalters ist, während der Konservatismus kein Nationalbewußtsein, sondern nur ein Untertanen tum kennt, daß der Liberalis­mus auch nicht weltanschaulich mit dem Materialismus identisch ist, sondern im Idealismus der klassischen Philosophie seine Wurzel hat, das sind Tatsachen, deren Uebersehen man allenfalls nur durch das Bekenntnis zum Mystizismus begründen kann. Wo der Mythos beginnt, hört die Welt des Wirklichen auf. Otto Strassers Haß gegen alles Liberale wird nur noch verdächtiger durch seine Gefühlsausbrüche für Mittelalter, Lehen­wesen, Zünfte und Rittertum. Mit solchen Schwärmereien hat sich schon einmal eine deutsche   Emigration herumschlagen müs-
Der entfesselte Gangster Der falsdie Kommissär von München  
Die Reversseite des»totalitären« Machtstaates bildet die»totalitäre« Emi­gration. In ihr sind alle Parteien ver­treten, die in Deutschland   vor der Errich­tung der Diktatur eine Rolle spielten, die Nationalsozialisten nicht ausgenommen. Die nationalsozialistische Gruppe der Emigra­tion, die sich selber die Schwarze Front nennt, zeichnet sich durch leb­hafte Aktivität aus. Ihr Führer ist Otto Strasser  . Otto Strasser  , der jetzt am Anfang der Vierzig steht, war nach der Revolution von 1918 Sozialdemokrat, Vor- standsmitgüed des Republikanischen Füh­rerbundes und Sekretär Emst Heilmanns. Beeinflußt von seinem älteren Bruder Gregor   vollzog er seinen Uebergang zur jungen Nationalsozialistischen   Partei. Er wollte aber auch dort Sozialist bleiben und hoffte, gemeinsam mit seinem Bruder und Joseph Göbbels   einen sozialisti­schen Kurs durchsetzen zu können. Dabei hatte er freilich selbst vom Sozialismus keine viel klarere Vorstellung als sie sonst in Köpfen junger Kriegsleutnants zu finden war. Wir alten Sozialisten kamen alle irgendwo von der klassischen Philo­sophie, der französischen   Revolution und dem Jahr 1848. Sozialismus war für uns: Schaffung der materiellen Voraussetzun­gen für die Herstellung der persön­lichen Freiheit. Die jungen Kriegs­leutnants aber gingen vom»Fronterleben« aus, in dem sie gelernt hatten, daß man eine Truppe verpflegen muß, wenn sie kämpfen soll. Die persönliche Freiheit war etwas, womit sie gar nichts anfangen konnten. Im Schützengraben war dafür kein Platz. Eines Tages erkannte Otto Straaser, daß die NSDAP   kapitalistischen Zielen diente und daß der Sozialismus in ihrem Namen nur Betrug war. Er hatte damals sehr lange Unterhaltungen mit Hitler  , der sich bei dieser Gelegenheit als ein ent- schiedener Anhänger des kapitalistischen  Wirtschaftssystems zu erkennen gab. Otto Strasser   erhob im Sommer 1930 die Fahne der Rebellion. Ihm folgten der Major Buchrucke r, Hauptmann S t e n n e s und Herbert Blank  , während Graf Reventlow und Dr. von Leer  seine Gefolgschaft verließen. Auch Gregor Strasser   blieb linientreu, und allen voran hatte sich Göbbels   rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Mit dem Rest der Getreuen bildete Otto Strasser   die Schwarze Front; er veröffentlichte im Jahre 1931 eine pro­grammatische Schrift:»D er Aufbau des deutschen Sozialismus«. In der Prager Emigration, im Grunov-Verlag, ließ er nun eine zweite Auflage erscheinen, die den seit 1931 eingetretenen Ereignissen Rechnung trägt. Aus seiner kurzen»marxistischen  « Vergangenheit hätte Otto Strasser   wenig­stens das eine lernen sollen, daß es ein ge­fährliches Unterfangen ist, mit der geisti­gen Leistung von Marx   und Engels in Wettbewerb zu treten und ihr ein neues System entgegenzustellen. Er hat trotz­dem diesen Versuch unternommen, und man muß schon sagen, er hat es mit mehr Mut als Glück getan. Strasser will ent­deckt haben, daß es in der Geschichte immer abwechselnd 150jährige Perioden der Gebundenheit und der Ungebunden- heit, des Konservativismus oder des Libe­ralismus gegeben hat. Die letzte liberale Periode hat mit der Erklärung der Menschenrechte 1789 begonnen, sie gent also jetzt zu Ende, und es beginnt eine konservative Periode mit der deutschen  Revolution. Was gewesen ist und was nach seiner Meinung wird, faßt er zu­sammen in die Formulierung: »Der Liberalismus umschließt natur­notwendig den Kapitalismus, den Indivi­dualismus, den Rationalismus.« »Der Konservatismus umfaßt natur­notwendig den Sozialismus, den Nationa­lismus und den Mystizismus.« Den Marxismus betrachtet er als einen »liberal überfremdeten Sozia­lismus«. Marx  . Engeis sind für ihn»alles typische Liberale«. Den­noch hält er es»für eine Pflicht des An- standes. die großartigen Leistungen der
In Pari« wurde dieser Tage ein internatio­naler Hochstapler verhaftet, hinter dem die Steckbriefe mehrerer Länder her waren. Zu den Leidtragenden gehörte auch Hitlerdeutsch­land. Der Schwindler heißt Friedrich Hahn, war vor dem Kriege Leutnant bei der k. u. k. Kavallerie, mußte wegen fortgesetzter Schwin­deleien den bunten Rock ausziehen und fled­derte seitdem Amerika   und Europa  . Erst durch seine Verhaftung erfährt man etwas über die wilde Gastrolle, die er nach dem HlUerumsturz im braunen Lager spielte. In den Märztagen 1933 erschien er unter dem klingenden Namen Paul Freiherr von Hahn mit Vollmachten der Nazipartei im Ver­lagshaus Knorr   u. Hirth in Mün­ chen  , gab sich als Staatskommissar aus, kündigte die Redakteure, beschuldigte die Chefredakteure des Hochverrats, ließ sie nach Dachau   bringen, bestimmte die Schreibweise der neuen Redaktionen und»griff durch«, vor allem durch die Kasse. Das hatte er den brau­nen Oberbonzen richtig abgeguckt. Wie einst der Hauptmann von Köpenik einfach die Methoden des preußischen Mili­tarismus kopierte, so ahmte Hahn die brau­nen Allüren nach: Braunhemd, Tressen, Lit­zen, Adelstitel, schnarrender Offizierston, Ge­schrei wider die Landesverräter, Brutalität und Kasse. Das genügte, das alles wirkte hin­reichend echt. Ein zugereister Gangster dü­pierte die eingesessenen, organisierten. Uni­
form und Hakenkreuz fanden den üblichen blinden Gehorsam, jede SA- und SS-Abteilung hörte auf sein Kommando. So weit wäre alles nach der sturen Logik verlaufen, die für alle mllitaristisch-cäaaristi- schen Systeme gilt, nur eins hebt diesen Streich über alles Dagewesene hinaus; Um­fang und Dauer des Rummels. Der Haupt­mann von Köpenik konnte seine Rolle nur einige Stunden spielen, dann war es au». Hahn aber richtete ein längeres Schreckensregiment an, plünderte nicht nur eine Kasse, sondern schickte harmlose bürgerliche Redakteure Ins KZ, ließ verhaften und mißhandeln, machte eine ganze Weile in neuer Presse, ehe es einem Detektiv der Münchner   Polizeidirektion gelang, den wilden Gangster zu entlarven und dorthin transportieren zu lassen, wohin er an­dere verbannte, nach Dachau  . In Dachau   war er den Häftlingen kein Un­bekannter. Noch im Juli 1933 weilte er dort anläßlich der Enthüllung des Schlageter- Denkmals als Ehrengast. Wenzel Rubner berichtete in dem Buch»Konzentra­tionslager«(Verlag»Graphia«, Karls­ bad  ) über seine spätere Gastrolle als Gefan­gener: »Er kam als Häftling und wurde in die Dunkelzelle eingeliefert. Wir sahen ihn. wenn er ins Freie kam, furchtbar entstellt. Er sah aus wie ein Schatten«. Er wurde von den anderen streng isoliert,
niemand sollte seine Geschichte erfahren. Wo ist eine solch blutige Groteske je möglich ge­wesen?! Man kennt in der neueren Geschich­te kein ähnliches Beispiel. Er erscheint als ein unwahrscheinlich tolles Versagen der staatlich organisierten Gangsterei auf jenem Gebiet, auf dem sie sich am stärksten fühlt: der totalen Organisation! So scheint es. Aber gerade zu diesem System des bar­barischen Parteistaates gehören die Durch- einauderregiererei, die Cliquenwirtschaft der großen und kleinen Despoten, die Kamarillen. Immer fühlt sich einer durch den anderen ge­fährdet, immer steht eine Kamarilla gegen die andere. Wenn Göring   einem Göbbels   mann auf die Zehen treten läßt, fällt bei baldiger Ge­legenheit ein ringmann irgend einem Un­fall zum Opfer. Und umgekehrt. Planwirt­schaft mit Blutrache. Zu diesem Cliquendunst gehört der 30. Juni ebenso wie der entfesselte Gangster Hahn. Wer ihm mit Mißtrauen ent­gegentrat, riskierte die Rache seiner Clique und Dachau  . H e 1 m 1 i c h mußte sich die Münchner   Polizei ihre Beweise besorgen... Das war noch nicht da! Der falsche Staatskommissar entkam schließlich aus Dachau   nach Frankreich  . Wäre er dort nicht geklappt worden, wüßte die außerdeutsche Oeffentlichkeit bis heute noch nichts über diese tolle Blamage des Dritten Reiches  . Die helmische Presse aber muß weiter schweigen.