Nr. 161 BEILAGE ücufictetwrfe 12. Juli 1936 Die Tierzehn Jahre Frledridi Stampfers Beridit über die sdiwarzrotgoldene Republik »Als Sozdaldemokrat habe ich diese Er­eignisse erlebt, als Sozialdemokrat berichte ich über sie.« So beginnt Friedrich Stamp­ fer sein im»Graphia«-Verlag, Karlsbad , erschienenes großes Buch über»Die vierzehn Jahre der ersten deut­ schen Republik .« Der Versuch, Deutschland als ein Reich geistiger Frei­heit, politischer Gleichberechtigung und sozialen Fortschritts in die europäische Kulturgemeinschaft"einzugliedern, ist an unermeßlichen Schwierigkeiten und mensch­lichen Unvollkommenheiteh gescheitert »Aber diejenigen, die ihn unter­nahmen, können mit hocherho- benemHaupt auf ihn zurück­blicken. IhrWerkwirdnichtfür immer verloren sei n.« Viele werden diesem Satze Stampfers widersprechen. Meistens aus Unkenntnis über das, was in den vierzehn Jahren geschah, erstrebt und erreicht wurde. Es könnte manches zur Klärung auch der Diskussionen in der Emigration beitragen, wenn man wenig­stens die von Stampfer gewissenhaft auf­gezeichneten Tatsachen zur Kenntnis neh­men oder sich ihrer wieder erinnern wollte. Daß der Verfasser dieses Buches ein im Urteilen vorsichtig abwägender Mann ist, wissen alle, die ihn kennen. Aus seiner sozialdemokratischen Gesinnung gab er sich die gewissenhafteste Mühe, der geschicht­lichen Wahrheit zu dienen. Man mag zwei­feln, ob es ihm voll gelungen ist, und zwar weil in diesem Buche eine Menge fehlt oder nur allzu knapp skizziert ist, was immer ein Ruhm unserer Republik bleiben wird. So ist, um eine sehr wichtige Unterlassung zu nennen, der erfolgreiche Kampf in den Grenzgebieten des Reichs von 1918 bis 1923, eine gewaltige nationale Leistung republikanischer Arbeiter und Bürger, ent­schieden zu kurz gekommen. So weit er be­rührt ,wird4 ist di§ Schilderung blaß und läßt nicht deutlich genug erkennen, wie sehr die Bedrohung der Grenzgebiete zu einer Zentralfrage der inneren Politik ge­worden war. Schwerer wiegt noch, daß aus diesem umfangreichen Werk trotz der Er­wähnung vieler Einzelheiten das großartige Bild des sozialreformistischen Aufbaus, der in der Republik geleistet wurde, viel zu wenig und jedenfalls nicht plastisch genug hervortritt So schwach die Republik in vielen ihrer Lebensäußerungen gewesen ist, so stark war sie bis nahe an ihren Zusam­menbruch in ihrer sozialen Arbeit, und zwar auf allen Gebieten. Aus Stampfers Buch ist nicht zu erkennen, daß die am 9. November 1918 begonnene sozialpoli­tische Planung dem deutschen Volke eine für die ganze Welt vorbildliche Wohlfahrts­gesetzgebung verschafft und den Anteil der Massen in allen Zweigen des Kulturlebens bedeutend erweitert hat Selbst als unter den Erschütterungen der Weltkrise und nach dem Zurückdrängen des politischen Einflusses der Sozialdemokratie die Abbau­maßnahmen zu schweren Verfallserschei­nungen in der Sozialpolitik führten, konnte sie sich als Ganzes noch immer vor aller Welt sehen lassen. Stampfer wird uns darin sicher zustimmen, aber in der Bewältigung der Ueberfülle von allgemein politischem Material ist ihm die Aufzeichnung des großartigen Gebäudes deutscher Sozial- politik nicht gelungen. Das Bild der enor­men Leistungen im Wohnungs- und Sied­lungswesen fehlt fast ganz. Einen offenen Tadel verdient der Sozialdemokrat Fried­ rich Stampfer aber dafür, daß er nicht ein eigenes Kapitel zum Ruhme der sozialdemo­kratischen deutschen Arbeiterbewegung schrieb und von 614 Seiten nicht 40 oder 50 erübrigte, um wenigstens aufzuzählen, was die sozialistische Arbeiterbewegung Deutschlands in anderthalb Jahrzehnten freier republikanischer Entwicklung in un­übersehbarer Vielfalt und stolzer Selbstver­waltung organisatorisch und geistig für sich und das deutsche Volk geschaffen hatte. Die Erfahrung zeigt nämlich, daß alle ihre Kritiker davon wenig oder nichts wußten, und die deutschen Kritiker am allerwenigsten. Eines der vielen in ihrer Knappheit aus­gezeichneten Kapitel des Buches ist»D i e Sozialdemokratie im Kaiser­reich«. Es kommt zu der ebenso rich­tigen wie in den weitesten Kreisen unbe­kannten Ergebnis, daß die Vorkriegssozial­demokratie, die sich viele Jüngere als ein Ideal revolutionären Aktivismus vorzustel­len lieben, ihren Weg, den Weg des Re­formismus schon lange vor dem 4. August 1914 gewählt hatte. Nicht nur die süddeutschen Block- und Budgetexperi­mente, sondern auch das Stichwahlabkom­men mit den Fortschrittlern bei den Reichs­tagswahlen im Jahre 1912 waren echte Vor­läufer der späteren Koalitionspolitik. Die Politik der Zusammenarbeit mit bürger­lichen Parteien ist für die Sozialdemokratie viel älter als die deutsche Republik. In die Staatsumwälzung des Herbstes 1918 ging die sozialistische Arbeiterbewegung Deutschlands es gab ja nicht nur die Partei, sondern auch Gewerkschaften und Genossenschaften nicht als eine zu ge­wagten Risiken neigende sozialrevolutio- wagte, was sie wirklich war, wird in diesem Buche noch manchen neuen Zusammen­hang finden. Diese Bewegung mit einer revolutionären Praxis und einer mehr auf BUdungsabende als auf Massenwirkung und Führerkräfte sich erstreckenden revolutionären Theorie sah sich im November 1918 plötzlich und ohne jede Vorbereitung der Notwendigkeit gegenüber, einen großen Staat nicht nur zu regieren, sondern umzuformen. Es ist leicht, der Partei vorzuwerfen, daß sie die­ser Aufgabe nicht gewachsen war, aber die anderen waren es noch weniger. Von den liberalen und den katholischen Demokraten, die sich in entscheidender Stunde als hilflos erwiesen, ganz zu schweigen; es ist weder in der Revolution von 1918 noch später aus dem revolutionären Radikalismus gegen die Sozialdemokratie eine Theorie oder eine Führung erwachsen, die auch nur nennens­wert eine Staats- und gesellschaftsbildende näre Gruppe hinein, sondern als eine demokratische und soziale Reform- bewegung mit gemäßigten sozialistischen Zielen. So war einst ihr Ursprung, soweit er in Deutschland lag. In einem halben Jahrhundert hatte sich so ihr Charakter geprägt Keine noch so scharfsinnige Theo­rie hatte in dieser langen Zeit die deutsche Arbeiterbewegung von der reformistischen Praxis abbringen können. Seit dem 4. August 1914 sind die Angriffswellen von links immer und immer wieder und in immer neuen Formen gegen die in Organisa­tion gegossene Art der deutschen Arbeiter­bewegung angestürmt. Es blieb alles ver­gebens. Sie blieb, was sie warund sein mußte. Keiner ihrer revolutionä­ren Gegner eroberte je die Mehrheit der sozialistischen Arbeiter. Erst die gewalt­tätige Diktatur konnte die Sozialdemokra­tie niederschlagen aber ihre revolutio­nären Gegner von links waren schon vor­her auf der Strecke geblieben. V/er konnte etwas anderes erwarten, als daß diese Sozialdemokratie in einem sozialen Volksstaat, wie er der Form nach vom Herbst 1918 bis zum Sommer 1919 ge­schaffen wurde, d i e führende Staats- partei sein mußte? Auf jeder Seite der Ge­schichte dieser»14 Jahre« ist es an den Tatsachen zu lesen. Eis gab einfach für die Sozialdemokratie keine Möglichkeit, sich ihrer Verpflichtung und damit ihrem inner­sten Wesen zu entziehen, auch wenn sie es immer wieder versuchte. Weniger aus eige­nem Trieb als unter dem Druck wort­reicher Revolutionsdemagogie und im Kampfe gegen die unermeßliche Borniert­heit deutschen Bürgertums in allen Par­teien rechts von ihr. Diese Tragödie erzählt uns Stampfer auf vielen Blättern nicht ohne bittere Ironie. Auch wer das alles mit erlebt hat und, mit Recht oder Unrecht, zu fühlen und zu erkennen glaubte, daß die deutsche Arbeitpartei nicht immer zu sein Macht hätte werden können. Soweit diese radikalen Gruppen nicht schematisch aus­ländische Vorbilder kopierten, lebten sie ideell und personell aus sozialdemokrati­scher Vergangenheit. Die Fehler, die im Herbst 1918 aus der ganzen Tradition der Sozialdemokratie sich ergeben mußten, sind aus der Stampferschen Darstellung sehr gut abzulesen, und sie wirkten nach bis zum Untergang. Auch Revolutionen wer­den eben doch»gemacht«, wenn ihre trei­benden Ursachen auch weithin zwangsläu­fig sind. Ein sicheres und schlagkräftiges Machtinstrument wächst jedenfalls nicht aus irgendwelchen geheimnisvollen Ent­wicklungsgesetzen oder aus der Dialektik von Versammlungsdiskussionen oder gar aus der Stille wissenschaftlicher Biblio­theken, selbst wenn ihr Inhalt noch so marxistisch ist. Im Rückblick wirkt es beinahe komisch, wenn man vergebens bei irgend einer der sich befehdenden Richtungen den WUlen und noch weniger die Fähigkeit sieht, sich gleich im Zusammenbruch der notwendig­sten Waffen zu bemächtigen und Menschen damit auszurüsten, die sie diszipliniert zu gebrauchen wußten. Auch Stampfer führt natürlich viele Entschuldigungen an, und der Hinweis auf die pazifistische Gesinnung der Arbeiter ist der wichtigste und rich­tigste, aber er erklärt bei weitem nicht alles. Die Bewegung der Sozialreformer, der Demokraten und der sozialistischen Ideologien verschiedenster Grade stürzte sich 1918 mit Feuereifer auf die Verwirk­lichung ihrer Ziele, aber das Schwert über­ließ sie als kulturwidrig den anderen. Ein­zelne Ansätze zur Machtpolitik mit der Waffe blieben die Versuche einzelner. Auch nicht von den späteren bürger­lichen Koalitionspartnern konnte der Wille und das Können zu einer demokratisch­republikanischen Militär- und Hausmacht kommen. Das deutsche Bürgertum der Linken und der Mitte hatte entweder seit Jahrzehnten das Wehrproblem aus dem Gesichtswinkel steuerpolitischer Pfennig- fuchserei betrachtet oder war längst mili­tärfromm ohne Eigenwillen geworden. So mußte das Verhängnis seinen Weg gehen. Neben ein im Ansehen sinkendes Parlament ' trat mehr und mehr nicht nur eine sich konsolidierende und sich vergrößernde A r- mee, traten auch als ihre Reserve M i 1 i z- formationen unter Führung von Ge­waltmenschen, die eine schwache Republik weder für sich einspannen konnte noch zu vernichten wagte. Wer für die Zukunft lernen will, stößt hier auf eine Entschei­dungsfrage des Sozialismus, und gerade das Buch von Stampfer beschönigt die Wil­lensschwäche der Republik und der sie tragenden Parteien nicht. Die verschieden­sten Gruppen der bürgerlichen und der sozialistischen Demokratie haben sich da wirklich nichts vorzuwerfen. Ihre Unkenntnis elementarer Machtpoli- tik und ihre Abscheu gegen deren unver­meidliche menschliche und technische In­strumente waren überall gleich groß. Stampfer selbst hat ja erst neulich noch in diesen Spalten sich ein wenig über die »Kriegsleutnants« lustig gemacht. Immer­hin: es waren und sind recht gefährliche Burschen, auch wenn sie nicht gerade im Leutnantsrange standen, vielleicht sogar nur die Gefreitenknöpfe hatten. Nicht nur eine revolutionäre, sondern schon eine reformistische Umgestaltung muß sich auch solcher»Leutnants« bedienen kön­nen, mindestens muß sie vermeiden, die Soldaten sich und dem Staate zu unbeding­ten Todfeinden zu machen. Geist und Ge­walt schließen sich nicht aus. Das ist ge­wiß eine Binsenwahrheit, aber man muß auch wagen, sich zu ihr bekennen und entsprechend politisch zu handeln. Eis steht sehr viel in dem Stampfer­schen Buche, was an Tatsachen die selbst­verständliche Gebundenheit auch jeder so­ zialistischen Politik an die Grenzen der Nation beweist. Keine der Tatsachen wirkt aber stärker als ein Auszug aus der Rede Sinowjew s auf dem Spaltungspartei­tag der U. S. P. in Halle. Er hat ein für allemal ein klassisches Beispiel dafür ge­liefert, wohin auch der schärfste Analyti­ker und kühnste Perspektivist gerät, wenn er hoch über den Völkern nur internatio­nale Klassen sieht und weltweit seine an­geblich wissenschaftliche Schematik zu blutleeren Schemen werden läßt; »Haben Sie nicht gesehen, daß in Ita­ lien der Anfang der Revolution da ist, der proletarischen Revolution? Sie wird dort sie­gen, wenn nicht heute, so morgen! Wir haben mit Interesse die Bildung eines Aktionsrates der englischen Arbeiterklasse verfolgt: es war der Anfang eines Sow jets. In der englischen Arbeiterbewegimg sehen wir Um­wälzungen von welthistorischer Bedeutung. Die englischen Menschewisten mußten eine bolschewistische Bewegung ent­fachen; so ist die Lage, und das kommt auch in Deutschland . Nehmen wir ein Land wie Oesterreich ; da können Sie morgen erwachen und In der Zeitung lesen. daß dort die Sowjetregierung gekommen ist. Wenn es so kommt, brauchen Sie sich gar nicht zu wundem, das ist etwas ganz Selbst­verständliches. Nehmen Sie den ganzen Bal­ kan , er ist eine reife Frucht für die prole­tarische Revolution. Die unterdrückten Mas­sen Asiens erwachen. Ich gestehe, als ich in Baku sah, wie Perser und Türken die Internationale anstimmten, fühlte ich Tränen in meinen Augen. Da spürte ich den Hauch der Weltrevolution.« Wer damals schon kein Wort von die­sen Prophezeiungen glaubte, hat jetzt noch weniger Grund, sich eine Entwicklung in Europa und in der übrigen Welt vorzustel­len, die sich innerhalb der Völker auch nur annähernd nach denselben Grundsätzen und mit denselben Methoden vollzieht Dem Führer der Dritten Internationale hat da­mals einer der besten und nüchternsten Marxisten, Dr. Hilferding, geantwor­tet(in einer Rede, die viele für lange gül­tige Wahrheiten enthält):»Man muß auf­hören, einander Schmutzkonkur­renz in Radikalismus zu machen,