Nr, 162 SONNTAG, 19. Juli 1936
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Aus dem Inhalt; Der kalte Putsch in Danzig  Die Rechte der politischen Flüchtlinge Briefe, die uns erreichten Die braunen Weisen von Zion
Hitlers Hand auf Oesterreich  Freie Hand zurfriedlichen" Durchdringung
Das Dritte Reich hat mit Zustimmung Muacolinis seine Hand auf Oesterreich   ge­legt. Mit der Anerkennung der Unabhän­gigkeit Oesterreichs   durch Hitler   ist Oesterreich   endgültig in den faschistischen Revisionsblock hineingezogen. Die Ver­schacherung Oesterreichs   an Hitler   ist das Zeichen dafür, daß der machtpolitische Sta­tus quo in Mittel- und Südosteuropa   völlig umgewälzt wird. Sie ist die Frucht der grundsatzlosen Politik der Westmächte in der Frage Abessiniens, die Folge der Hit- lerschen Rheinlandaktion vom 7. März. Die Verschacherung Oesterreichs   be­ruht auf Geheimabkommen zwi­schen Hitler   und Mussolini  , zwischen bei­den und Schuschnigg  . Die wichtigsten Gegenstände dieser Geheimabkommen sind nicht bekannt. Die Gefahren, die sie mit sich bringen, sind so ernsthaft, daß dies Ereignis überall mit jener vorsichtigen Zu­rückhaltung aufgenommen worden ist, die bochexplosiblen Stoffen gegenüber ange­bracht ist. Die Rückwirkung auf die ge­samte europäische   Politik wird groß sein. Es ergeben sich neue Perspektiven und Möglichkeiten, neue Konstruktionen alle in der Richtung einer Zerreißung Europas  in zwei Lager, einer Neubelebung des mit­teleuropäischen Revisionismus. Um diese Perspektiven wird noch lange diskutiert werden. Aber die Dinge sind so ernsthaft, daß, die Prüfung der Gegenwart nicht hin­ter der Erörterung der Frage verschwin­den darf, was in Zukunft sein könnte. Was heute bereits sichtbar ist, ist alar­mierend genug. Diese Geheimabkommen sind aus der gesamteuropäischen Konstellation heraus­gewachsen und werden auf sie zurückwir­ken. Gegen die Pläne einer Organisierung des Donauraums im Geiste der kollektiven Scherheit setzt sich eine Politik der Auf- fwlung in Interessensphären der beiden Raubmächte Deutschland   und Italien  durch, die ohne Rücksicht auf den Völker­bund und die Völkerbundsstaaten die Füh­rung der Politik in Mitteleuropa   an sich reißen. Was unter ihrer Führung dort ge­schieht, hat mit der Friedensidee des Völ­kerbundes, mit dem Gedanken der kollek­tiven Sicherheit, mit allen Plänen und Pro­jekten, die auf diese Ideen gegründet wor­den sind, nichts, gar nichts gemein. Es ist die andere Linie, es ist die faschistische Alternative der europäischen   Politik. Der Vergleich der neuen Konstellation mit dem Dreibund liegt nahe, und die Pa­rallele ließe sich weit ausspinnen, ange­fangen von Viktor Emanuel HL, der be­reits Partner des alten Dreibunds war, bis zu den inneren Spannungen und Gegen­sätzlichkeiten, die im neuen Dreibund die gleichen sind wie im alten. Aber noch läßt sich keineswegs beurteilen, ob die neue deutsch  -italienische Entente auch nur auf Monate halten wird. Es ist viel zu wenig über den wahren Inhalt des deutsch  -italie­nischen Geheimabkommens bekannt, als Haß man beurteilen könnte, ob diese En­tente in erster Linie dem Bluffen der West­mächte und vor allem Englands dienen soU, oder ob sie als Dauereinrichtung ge­dacht ist Nur eines ist sicher: wer darin, und vor allem in dem Abkommen mit Oesterreich, einen Schritt zum Frieden er­blickt, der steckt den Kopf in den Sand. Das österreichisch-deutsche Verhältnis wird sehr rasch zu einem Herrschaftsver­hältnis werden. Der»Brückenschlag«, der 1933 so gründlich gescheitert war, wird jetzt unternommen. Dieses unglückliche Land Oesterreich   ist seit langem ein wil­
lenloser Spielball der Mächtigen. Musso­ lini   hat seine Hand auf dies Land gelegt in einem Zeitpunkt, als das grandiose Un­verständnis der französischen   Politik für die demokratischen Positionen in Mittel­ europa   dem Faschismus freie Hand gab. Er hat jene Provokationspohtik veranlaßt, die zum Februaraufstand von 1934 führte. Seitdem ist das Land der Zankapfel zwi­schen Hitler   und Mussolini   gewesen, und seine Stellung ist allen Schwankungen der faschistischen Machtpolitik getreulich nachgefolgt. Es war eine europäische Mandschurei und wird es in Zukunft erst recht sein. Das neue Abkommen gibt ihm nichts weniger als wirkliche Unabhängig­keit! Dem ersten Anschein nach könnte man die gegenwärtige Stellung Oesterreichs   als ein Kondominium der beiden faschistischen Mächte Deutschland   und Italien   bezeich­nen. Bei näherer Prüfung erkennt man, daß binnen kurzem die Macht Deutsch­ lands   in Oesterreich   viel größer sein wird als der italienische Einfluß. Der Vasall wechselt den Herrn. Vor einiger Zeit, unmittelbar nach der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in Oesterreiph, wurden, ML Ütar einen Putschplan der»national betonten Kreise« in Oesterreich  , also der Freunde des Dritten Reichs. Es wurden Namen genannt und Etappen des Machtübergangs bezeichnet, bei dem die Verbindungen des deutschen   Generalstabs in Oesterreich   die Hauptrolle spielten. Nun, diese Männer sind heute in die österreichische Regierung aufgenommen, und wichtige Etappen die­ser Pläne sind ohne eklatanten Putsch auf
dem Verhandlungswege bereits erreicht. Auch in diesen Plänen war das Ziel nicht der formelle Anschluß, die Annektion, son­dern die Gleichschaltung des Heeres und der Außenpolitik von den inneren Verhältnissen gar nicht zu reden. Diese Gleichschaltung marschiert nun mit Riesenschritten, und die offiziellen Erklärungen lassen erkennen, wie weit sie schon gediehen ist. Zwischen den öster­reichischen, deutschen und italienischen Erklärungen über die Abkommen bestehen bemerkenswerte Unterschiede. Die deut­ schen   Erklärungen zeichnen sich vor denen der anderen durch brutale Deutlichkeit aus, und was ihnen noch fehlt, ergänzt die dirigierte Presse. Der Versuch der österreichischen Dik­tatur, eine eigene österreichische Ideologie als Basis ihrer Herrschaft und der Selb­ständigkeit Oesterreichs   zu schaffen, bricht angesichts dieser Erklärungen in sich zu­sammen. Die ideelle Grundlage des Ab­kommens ist nicht diese Dollfuß-Schusch- nigg-Mentalität, sondern die Mentalität der österreichischen G r o ß d e u t s c h e n, je­ner Partei, die bei Hitlers politischen An­schauungen Pate gestanden hat. An die dpr vop bespudgreft öster­reichischen Eigenart tritt die Lehre vom Volkstum im Geiste Hitlers  , und es ist be­merkenswert, daß Hitlers   Telegramm an Schuschnigg   von der»rassischen« Zusam­mengehörigkeit der beiden Völker spricht, auf die künftig ihre Politik gegründet wer­den soll. Es ist eine ideologische Kapitu­lation vor dem Nationalsozialismus. Es ist deshalb gänzlich verfehlt, wenn man in diesem Abkommen eine Preisgabe
der österreichischen Nationalsozialisten durch Hitler   erblickt. Der Putsch vom 25. Juli 1934 hat schon gezeigt, welche Rolle dem nationalsozialistischen Lärm, und welche Leuten vom Schlage Rintelens zu­gewiesen war. Die ernsthaften und gefähr­lichen Nationalsozialisten in Oesterreich  sitzen heute im Lager der»National-beton­ten«, und sie sind es, die jetzt den Ton in der österreichischen   Regierung angeben. Und wie wird die vermeintliche Preisgabe der Nationalsozialisten aussehen, wenn erst die österreichische Legion auf Grund der Amnestie nach Oesterreich   zurück­kehrt! Das Dritte Reich hat sich seine Einflußsphäre gesichert! Die»Frankfur­ ter Zeitung  «(Nr. 354) unterstreicht, was die amtlichen Mitteilungen nur andeuten. Sie beruft sich auf die Rede Hitlers vom 21. Mai 1935 und fährt dann fort: »Adolf Hitler   verwies dann auf die Schweiz  und auf unser ungestörtes Verhältnis zu die­sem Land, ungestört,»weü die Unabhängig­keit und Selbständigkeit der Schweiz   eine tat­sächliche ist und weü niemand zweifelt, in ihrer Regierung den wirklichen lega­len Ausdruck des Volkswillens zu sehen.« Damit war gesagt: eine wirk­liche Unabhängigkeit Oesterreichs   und eine auf dem freien österreichischen Selbstbestim­mungsrecht basierte Lösung wird Deutsch­ land   immer respektieren. Daß diese Unab­hängigkeit heute besteht, beweist der Vertragsabschluß, bei dem weder Herr Beneä noch sonst jemand Pate gestanden hat daß aber die österreichische Regierung mehr als bisher die politische und geistige Verbin­dung mit einem möglichst großen Volksteil suchen wird, dürfte eine der internen öster-
Die braune Terror justiz arbeitet Hamburger Sozialdemokraten zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt Hamburg  , Anfang Juli 1936.
Hamburg  , die Welthafenstadt, war immer eine Hochburg der Sozialdemokratie. Auch nach der»Machtergreifung« Hitlers, aber hemmungsloser und brutaler Terror der SA  - und SS-Banden sollten die sozialistische Ar­beiterschaft Hamburgs   in die Knie zwingen. Was nicht gelang. Auch jetzt noch liegt das Schwergewicht der inneren Politik im Dritten Reich nach wie vor im Kampf ge­gen den»Staatsfeind«. In den letzten Tagen wurden wieder eine Anzahl Hamburger So­zialdemokraten von der Gestapo   verhaftet. In­zwischen arbeitet die braune Justizmaschine noch FUlle zur Aburteilung auf, die schon seit vielen Monaten zurückliegen. Vor dem Ober- landesgericht in Hamburg  , das unter seinem berüchtigten Senatspräsidenten schon barba­rische Zuchthausstrafen gegen sozialdemokra­tische Funktionäre verhängt hat, standen vor einigen Tagen am 30. Juni 1936 sechs Hamburger Sozialdemokraten. Der braune Justizterror hat neue Opfer ge­fordert. Das Oberlandesgcricht Hamburg   bat fünf Kameraden zu hohen Zuchthausstrafen und einen weiteren zu einer mehrjährigen Ge­fängnisstrafe verurteilt. Die Anklage lautete auf Hochverrat und behauptete, daß die An­geklagten versucht hätten, die Sozialdemo­ kratische Partei Deutschlands   neu aufzubauen, und daß sie gleichzeitig für die Angehörigen der im Konzentrationslager und Gefängnis sitzenden Familienväter Golder gesammelt und verteilt hätten. Der Staatsanwalt be­antragte gegen die sechs Angeklagten 25 Jahre und 6 Monate Zuchthaus. Das Urteü lautete:
Arthur Jessen, Flensburg  , 4 Jahre Zuchthaus, John K i e n o v 4 Jahre Zuchthaus, Emil Gothel 4 Jahre 6 Monate Zuchthaus  . Franz Trümmer 4 Jahre 3 Monate Zuchthaus  , Krüger 2 Jahre 6 Monate Zuchthans, Bartrück 2 Jahre 6 Monate Gefängnis.
Die zu Zuchthaus verurteüten Kameraden erhielten weiter 5 Jahre Ehrverlust und Stel­lung unter Polizeiaufsicht. Gegenüber dem f e s t e n t s c h I o s- senen Kampfwillen der sozialde­mokratischen Arbeiterschaft Hamburgs   ist die Waffe des bru­talen braunen Terrors längst stumpf geworden. Immer wieder stehen die mutigen Kämpfer ge­gen das Hitler-Regime auf 1 Edgar Andre  In Hamburg   ist der Kommunist Edgar Andre   wegen Hochverrat und Mord zum Tode verurteilt worden. Sein Hochverrat soll darin bestanden haben, daß er den Roten Frontkämpferbund   nach dem Verbot von 1929 weitergeführt hat. Des Mordes aber wurde er deshalb für schuldig erklärt, weü in den Kämpfen, die sich damals zwischen Roter Front und SA abspielten, auch einige Natio­nalsozialisten zu Schaden gekommen sind. Für diese Taten macht man den Verurteilten verantwortlich, indem man annimmt, daß er zur Zeit, da sie begangen wurden, Leiter des Roten Frontkämpferbundes   gewesen sei. In Wirklichkeit war er das gar nicht, ja er hat sich während eines Teüs der kritischen Zeit­periode sogar im Ausland befunden. Der Prozeß, der gegen Andrö geführt
wurde, ist ein einziger großer Betrug an der Oeffentlichkeit. Andre gehört schon seit mindestens fünf Jahren zu den Personen, deren Kopf von der braunen Feme   gefordert wird. Damals drangen die Mordgesellen in einen Autobus und erschossen den kommu­ nistischen   Stadtverordneten Hennig, den sie mit Andrö verwechselten. Diese wirklichen Mörder befinden sich natürlich jetzt in Frei­heit und genießen mit Tausenden von Hltler- kameraden gleichen Kalibers alle Ehren des Dritten Reichs. Was ihnen damals mißlun­gen war, das auszuführen, waren jetzt die Hamburger Richter beauftragt, und sie ha­ben sich dieses Auftrages pünktlich entledigt, wie nicht anders zu erwarten war. Sind es doch dieselben, die auch für die Abschlach- tung von Fiete Schulz die gewünschten juri­stischen Prozeduren vorgenommen haben. Die Männer im schwarzen Talar sind nur Ersatz für die Männer in schwarzer Uniform. Und doch muß man sagen: Ein Schuß, sogar ein Schuß aus dem Hinterhalt, ist ehrli­cher als eine solche Justizkomödie mit vor­geschriebenem Todeserfolg. Dagegen müßte die ganze Welt aufstehen, um diesem System seine Schande ins Gesicht zu schreien. Aber während der Henker wieder einmal das Beil schärft, um den Nacken eines Unschuldigen zu treffen, rüstet diese Welt zur Olym­piade in Berlin  !