Nr. 190 BEILAGE TIcucrTtaäcfs 31. Januar 195? Der ScIiiiUliaufcn Maulkorb über Trümmern L Morbide Leute sprechen gern laut von dem, was sie nicht haben. Kein Regime branzte je so viel von Kultur, wie die Vertreter der Barbarei. Das begann schon in der Frühzeit ihrer Demagogenperiode. Der Führer war bald Künstler, bald Sol­dat. Der Soldat gegen Versailles  , der Künstler für eine phänomenale, nie dage­wesene völkische Kultur. Wie die sonsti­gen Versprechungen der Nazis, so steiger­ten sich ihre Kulturphrasen, je näher sie dem Endspurt von 1932 kamen. Auch diese Verheißungen klangen so kurz­fristig wie alle anderen: Sowie wir an die Macht kommen, ersteht in Deutsch­ land   hellenische Schönheit, Alle Musen hören auf mein Kommando! Braune Studienräte delirierten( in Versammlung und Presse: Hitler   berührt Germania   mit dem Zauberstabe und weg ist die Hopps- Operette, der Schlager verröchelt, groß erhebt sich das Volkslied, edelstes klassi­sches Theater großer Meister erblüht, edelster Wettbewerb auf allen Gebieten, ein ganzes Volk von neuer Kunst empor­gewirbelt in deutschgläubiger Freude oder Erschütterung, Volk und Kunst vereint in neuer Volksgemeinschaft, die Hochschulen erhabenste Pflegestätten großer, welt­erobernder Wissenschaft hach, es wird eine Lust zu leben! Und heute? Warten, warten, warten... Auf einem Trümmerhaufen. Der Oeldruck des besoffenen Studienrats ist dahin. Selbst völkische Blätter jammern über beklemmend wachsende U n- geistigkeit. Nach vier Jahren totaler Macht und sechzehn Jahren»Kampf­bewegung«. In ihren Reden fegten die Oberbonzen des Regimes die letzten fünf­zig Jahre mit einer Handbewegung bei­seite: was kulturell vor uns geleistet wurde, war Unsinn, Mumpitz, Dreck, wir dagegen werden... wir wollen.., wir planen... Aber sie versprachen ja viel kurzfristiger was also haben sie ge­leistet? Mißt man den Bankrott an den beschimpften fünfzig Jahren, so bleibt dem wilhelminischen Deutschland   manches abzubitten. Gewiß, der Halbabsolutismus von damals lastete über dem geistigen Le­ben wie eine mit Stickluft gefüllte Wolke. D.e Hochschulen normten den preußischen Assessor, der Korpsstudent besetzte die Pfründen, die Kunst stagnierte. Schon der Naturalismus wurde von oben her ver­femt, weil er revolutionären Ludergeruchs verdächtig schien. Ein Wedekind war der Schrecken des offiziellen Philisteriums Aber wie breit, welch schöpferischer Möglichkeiten voll erschien die geistige Bewegungsfreiheit, gemessen am geist­feindlichen Prokrustesbett des Dritten Reiches  ! Von der sozialdemokratischen Presse abgesehen, gab es eine unabhän­gige bürgerüche, in der Köpfe walteten, die auf ihre Selbständigkeit, Unkäuflich- keit und unabhängige Meinung hielten. Es gab eine scharfe Kritik, es blieb Raum für eine wahrheitswillige Wissen­schaft, für revolutionären Sturm und Drang  . Es gab die Haeckel und Bölsche, 63 gab einen Lujo Brentano  und unmerhin Historiker wie Karl Lamprecht   und Theodor M o m m- s e n. Die Kunst brachte Gipfelleistungen hervor. Unterm Halbabsolutismus wuch­sen Liebermann   und Käthe Koll­ witz  , Komponisten wie Johannes B r a h m s und Max Reger  , Lyriker wie D e b m e 1 und L i I i e n c r o n. Um den Simplizissimus gruppierten sich Kari­katuristen europäischen Maßes. Es gab du«»jüngste Deutschland  « um Schlaf, Arno Holz  , Hermann Conrad   i. Und wenn auch Hauptmanns»Weber« Anfangs von oben boykottiert wurden, so fanden sich dafür die Bretter der jungen freien Volksbühne. Heute würden drüben die meisten dieser Köpfe mit ihren ge­nialen Leistungen von damals dem Todes- urteil der Reichskulturkammer verfallen. H. Wahre Förderung und freien Raum erlangten die Dränger des wilhelminischen Deutschlands   durch die Weimarer Demokratie  . Wer Neues, Starkes zu sagen hatte, fand hier den fruchtbaren Voran ging in Sturmschritt eine neue Architektur, eine Ueberwindung alter Baustilgemengsel, die Ausbreitimg des Flachbaustils, die Bauhausbewegung eines Walter G r o p i u s. Die Fenster der Universitäten wurden aufgerissen, frischere Luft zog herein, nicht genug für die Novemberumwälzung, aber die freie Forschung konnte atmen. Was auf künst­lerischem Gebiete empordrängte, errang sehr rasch europäische   Geltung. Käthe Kollwitz  , Franz Marc  , Feininger  , I Kokoschka, Pechstein heute drüben I verboten oder mißachtet hingen auf , internationalen Ausstellungen aller Län- , der. Es gab ein Ringen um neuen großen Ausdruck. Auf den Bühnen sah man Ge- sellschaftskrit ker wie Wedekind, Strind- berg, Georg Kaiser  , Stemheim, Schnitzler usw. Die Dichtung suchte den Menschen 1 zum Menschen zu formen, nicht zum Untertan und marschierenden Herden- v i e h. Alle großen, gewagten Experi­mente, alles nach Größerem Drängende fand sein Publikum. Es gab keine Ab­sperrung von den gewaltigen, befruchten­den Leistungen des Auslands. Ein Tairoff konnte sich ebenso zeigen wie ein Piran  - dello. Dieser freie Kampf der Geister um Neues, Größeres kennzeichnete das Kul­turleben der Demokratie. Es war ein ewiges Ringen um die Seele des Menschen, immer wurde an seine Ver­antwortlichkeit appelliert, immer hatte er die Möglichkeit, sich an Beispiel und Gegenbeispiel zu orientieren, zu schulen, an geistigen Kämpfen zu wachsen. Das gehörte zum tieferen Sinn dieses freien Wettbewerbs. Politisch gesehen wäre sozialistisch-demokratische Beeinflussung durch den Staat zweckmäßiger gewesen, doch das war eine Machtfrage. Dieses schöpferische Ringen, dieser Kampf um Klärung, diese Geburtswehen einer neuen Zeit wurden durch eine reaktionäre, bezahlte Bandenbewegung gestört, vergiftet, gelähmt und nach der Machtergreifung erstickt. HL Wie der ganze Hakenkreuzrummel, so stehen Ideologie und Phraseologie des Dritten Reiches   mit Wahrheit und Wirk­lichkeit in unlösbarem Widerspruch. Wo immer die Wahrheit sprechen kann, un­terliegt die braune Lehre. Deshalb mußte vom Dritten Reich der Geist geknebelt, das geistige Leben in die Zwangsjacke des Zwangsstaates gepreßt werden. Am Ein­gange des Dritten Reiches   loderten darum nicht nur der Reichstag  , sondern auch die Scheiterhaufen, auf denen der Geist ver­brannt wurde. Darunter Werke von Welt­geltung. Das Gesetz, nachdem sie ange­treten, trieb die Bandenführer auf dem gleichen Wege weiter. Der Geist geriet völlig unter den Absatz des totalen Feld­webels.»Die Wissenschaft hat dem Staat zu dienen...« Der Staat ist die braune Bonzerie, ergo... Von den Hochschulen verschwand ein genialer Kopf nach dem anderen. Ge­lehrte von Weltruf wurden mit dem Arierparagraphen verjagt, fanden dagegen begeisterte Aufnahme in anderen Ländern. Die freie Forschung darf nicht mehr ans Licht, die Vernunft wurde verpönt Ge­fühl, Instinkt und»Intuition« auf den Thron gesetzt. Nur der Kehlkopfspezialist Prof. Sauerbruch konnte es sich leisten, für die Freiheit der Wissenschaft zu plädieren, ohne zu fliegen. Eine zahl­reiche Schicht Studenten, die einmal Hit­ lers   Bewegung zujubelten, wehren sich gegen die ihnen zugedachte Pseudowissen- schaft, indem sie bei Professoren hören, die als oppositionell gelten. Nazi­blätter wüten dauernd gegen die akademi­sche Opposition. Die Schule wurde zur soldatischen Drillanstalt degradiert. Nicht das Wissen, sondern die abgestempelte Gesinnung entscheidet. Ein Erlaß be­stimmt, daß bei der Auslese erstens das Körperliche, zweitens die Gesinnung und erst an dritter Stelle die geistige Be­fähigung entscheiden. Leise Anmerkun­gen in gleichgeschalteten Blättern, Schil­ ler Goethe  , Kant usw. seien nicht gerade soldat  'sche Menschen, sondern ausgespro- Boden des freien Wettbewerbs.) chene geistige Typen gewesen, verhallen ungehört oder werden oben als Meckerei vermerkt In diesen Tagen wurden die Adolf- Hitler-Schulen gegründet. Folgerichtig unterstehen sie keiner fachlich- wissen­schaftlichen Leitung, sondern des zustän­digen Gauleiter und sind das Sprung­brett für jede höhere Karriere. Auslese nach Gesinnung und Tätigkeit des Be­werbers in der Hitlerjugend  . Wie das den Rivalitätskampf und" die charakterliche! Korrumpierung dieser Jugend verschärft, kann sich jeder selber ausmalen. Wer in aller Welt soll künftig die akademischen Grade und Examina deut­ scher   Schulen noch ernst nehmen? Schon jetzt gelten in alt-akademischen Kreisen die neugebackenen Doktoren nichts mehr. Um den ungünstigen Eindruck im Aus­lande zu verwischen, ertönt ab und zu ein Rust-Erlaß, in dem bestimmt wird, es müsse an den Universitäten wirklich und wahrhaftig gearbeitet werden. Die Professoren aber fragen sich, wie und was gearbe tet werden soll, wenn bei den Examina die beste Kenntnis der Hitler- schen Kampfbibel entscheidet. IV. Das Gleiche auf dem Gebiete der Kunst. Auch sie hat dem Staate zu die­nen und so sieht sie auch aus. Trotz sechzehn Jahren braunen Bewegung und vier Jahren totaler Macht nicht eine eigene originelle Leistung, die im Ausland ein Echo gefunden hätte. Ueberall Rück­fall in peinlichste Primitivität und Dilettantismus. In der Musik herrscht das Blech vor. Wagner und der Militär­marsch. Große Musiker wurden ge­schwenkt, Furtwängler   fiel in Ungnade, Hindemith   fristet ein verstecktes Dasein. Der Arierparagraph räumte mit großen Namen von früher und heute auf. Freie Bahn dem gesinnungstüchtigen Streber. Jüdische Librettisten wurden umgedich­tet, um klassische Werke»zu retten«. Hochkomisch, wie der totale Staate mit Tradition und Geist ringt. Die jüdischen Musiker stehen auf dem Index, aber was macht man mit Künstlern, die durchaus Mendelssohn   oder Gounod   für ihr Pro­gramm brauchen? Wie verhält man sich zur Loreley  , dem deutschesten Volkslied mit dem Heineschen Text? Und wer kann B z-ts»Carmen« verbieten, die Oper aller Opern?! Die Welt schüttelt den Kopf und lacht. Was der Militärmarsch im neudeut­schen Musikleben, das ist das soldatische Wandgemälde in der Malerei. Auch hier Rückfall ins Primitivste, schlimmer noch als auf literarischem Gebiet. Hier windet sich die Presse in dauernder Ver­legenheit. Da die Maler vergeblich nach der»neuen seelischen Haltung« fahndeten, wurden ihnen nationalsoziaüstische Mo­tive von der NSDAP   auf einer Liste ge­liefert. Auf der Akademie lehren gesinnungstüchtige Durchschnittler. Da­gewesenste Figurenmalerei, auf heroisch und nordisch frisiert, soll dem Volke »neu sehen« lehren. Einige AbteUungen der Nationalgalerie und der Museen wur­den geschlossen, weU s:e dem Publikum zeigten, was" wirkliche Malerei ist. Rust bekannte, es gelte gewisse Erscheinungen einer vergangenen Periode zunächst einmal den Blicken zu ent­rücken, damit wir zu uns sel­ber kommen...« So schwer wird es ihnen, zu sich selbst zu kommen. Aus­stellungen moderner Gemälde wurden un­ter dem Titel»Schreckenskammer« zum abschreckenden Exempel aufgemacht. Sie erlebten einen Massenandrang, weil das Publikum wieder einmal freie Kunst sehen wollte. Und was soll man zu der neueren An­regung der Reichskulturkammer sagen, die da von den Malern fordert, die Mutter tunlichst immer mit vier Kindern zu zeigen? Die Kunst hat dem Militär­staat zu dienen. Eine Malerei für Hebam­men, Stabsärzte und Hegehöfe. Diesen Dekretinismus denke man sich auf Dichtung und Literatur übertragen! Blubo, Gesinnungsmächelei, »Hofdichterei« wie jüngst die Deutsche Wochenschau klagte beherrschen das Feld. Was das Ausland als Uebersetzun- gen aus dem Deutschen   bringt, ist emigrierte Literatur. Es gelang den Kunstfeldwebeln sogar, einen der deutschesten unter den bürgerlichen Dich­tern außer Landes zu treiben: Thomas Mann  . In Skandinavien   staunt man über das, was im aufgenordeten Deutschland   als nordische Literatur gilt. Dafür sind nor­dischste Vertreter wie Sigrid Undset  , Selma Lagerlöf  , Peter Freuchen   auf der Boykottliste. Björnson und Strindberg sowieso. Die dramatischen Autoren flüch­ten seit vier Jahren, wie die Blätter kla­gen, ins Historische, weil auch die harm­lose Darstellung wirlicher Gegenwart zu gefährlich ist. Was im klassischen Drama mit dem Maulkorb karamboliert, wird kastriert, denaturiert oder verboten. Die Ensembles bestehen zu achtzig Prozent aus gesinnungstüchtigen Dilettanten, machen den Eindruck, als kämen sie frisch aus der Theaterschule. Die großen weltbekannten Regisseure sind verschwun­den, dafür fahren tausende Deutsche ins Ausland, um eine Inszenierung von Rein­hardt zu sehen. Die Klage über mangeln­den Nachwuchs reißt nicht ab. Die Di­rektoren warten auf eine brauchbare Ko­mödie, warten und spielen älteste harm­lose Schmarren. Auch der Film hat dem Staate zu dienen: Blubo   und antibolsche­wistische Mache öden das Publikum an. Die Klage seiner Aktionäre über das schlechte Filmgeschäft parierte H u g e n- b e r g vor vier Wochen mit dem Stoß­seufzer:»Es gibt hier Dinge, deren man nicht Herr ist...« Diese Dinge sind: Zensur, Maulkorb, Günstlingswesen, Par­teibuchwirtschaft, das Dschungel der In­stanzen. Angesichts dieser Armutei mußten selbst die letzten Reste der Kritik fal­len, die Meckerei hatte sich unter den Strich geflüchtet. Selbst unter den Despotien der Mettemichzeit gab es mehr geistige Bewegungsfreiheit. Sogar ein Hakenkreuzblatt(Die Deutsche   Kämpfe­rin) entblößte jüngst das ganze Elend, in­dem es auf die»wachsende Gefahr der Entgeistun g« aufmerksam machte und die»oberflächlichen Zerstreu­ungen«, denen das Volk ausgeliefert werde, herb kritisierte. Denn durch die Hintertür tänzelte längst der Jazz, deutsch   frisiert, wieder herein; in der Operette triumphiert der seichteste Schlager und blödelnde Text nach wie vor, erotisch verspießert und mit Hänge­zöpfen; hinter verschlossenen Türen fröhnt der deutsche Zeitgenosse verbote­nen Steps nach verniggerter Radiomusik; auf den Brettern, die die Welt bedeuten, erzielt L'Arronge einen Massenandrang wie nie vorher; die»Satire« des Kabaretts kennt als Ziel lediglich die Meckerhulda und das Schoßhündchen der Frau Kom- merzienrat; die Presse philosophiert hin un- wieder über»die Krise des Hu­mors«... Kurz; Bankrott und Verlogen­heit, soweit das deutsche Auge reicht, Bruch und Verödung auf der ganzen Linie. Nirgends eine eigene Leistung, ein eigener Stil, ein eigener Ausdruck. Dafür aber toben wütende Cliquen- kämpfe um die Futterkrippe und fortlaufende Skandale. Es gab einen Krawall um Widukind und Karl den Großen, einen Krakeel um die angeb­liche Ermordung Schillers und Mozarts durch Goethegenossen, es gab den Ger­manen-Skandal um jene angeblich alt- fries'sche Handschrift, auf die der Rasse­professor Wirth hineinsauste. Man erlebte Musikerkrakeele wie den um Hindemith  und Furtwängler  , einem Liebermann wurde das Malen verboten, der Arier­paragraph brachte deutsche Herolde ins Wanken, die Jungen forderten einen 30. Juni gegen die Alten das totale Pro- pagandamimsterium kam aus den Affären nicht heraus, min Glück für Göbbels  , daß wenigstens die Religion ins Ressort des Inneren gehört, denn auf diesem Boden tobte der ununterbrochene Kampf um Christus. Die konfessionelle Freiheit liegt in den letzten Zügen, drei versclvedene vöiicische R'chtungen streiten bereits um den Leichnam der christlichen Kirchen drei und ein paar Dutzend Wotansekten. Welch eine Totalität, welch e'n Wirrwarr, welch fabelhafte»neue Volksgemein-