Nr. 196 BEILAGE ÜctKcTJoftDörfe 14. März 193? Moskauer Prozeßgeheimnisse Enthüllungen eines führenden Bolsdiewisien über die politischen und psychologischen Hintergründe der Moskauer   Prozesse und die Ausrottung der alten Bolscfaewisten III. Das Ende des neuen Kurses Dieser Zweitmnd, Kaganowitsch und J e s h o w, hat sich von Anbeginn an gegen die Politik der Versöhnung inner­halb der Partei ausgesprochen. Solange Kirow am Leben war, waren die Aktionen der beiden nicht sehr entschieden. Sie be­gnügten sich damit, daß sie Stalin   gegen diese Politik aufhetzten, indem sie sein an­geborenes Mißtrauen gegen alle jene förderten, in denen er jemals Feinde ge­sehen hatte, und daß sie schließlich mit allen Mitteln die Uebersiedlung Kirows nach Moskau   sabotierten, da sie ausge­zeichnet wußten, daß nach dieser Ueber­siedlung die Frage eines Wechsels im Personalbestand des Parteiapparates auf­gerollt werden würde, den sie mit solcher Mühe ausgesucht hatten. In der Plenar­tagung vom November 1934 wurde diese Sabotage endlich gebrochen, aber die Uebersiedlung Kirows konnte trotzdem nicht stattfinden... Und nun, nach dem Tode Kirows, der nur für diesen Zwei­bund vorteilhaft war, sind sie offen her­vorgetreten. Der Bericht Agranows war voll­kommen in ihrem Sinne abgefaßt. Die harmlosen Leningrader Frondeure aus den Reihen der ehemaligen Oppositionellen wa­ren als Verschwörer dargestellt, die sich mit Plänen eines systematischen Terrors trugen. Als ihr Zentrum wurde eine Grup­pe ehemaliger Führer des Komsomol im Wyborger Rayon in der Periode Sinow- jews hingestellt, mit Rumjanzew  , K o- tolynow, Schatzkin u. a. an der Spitze. Seit dem Herbst 1934 hatten die letzteren in der Tat regelmäßige Zusam­menkünfte, denn die Leningrader Abtei- lung für Parteigeschichte hatte die Ab­fassimg einer Geschichte der kommunisti­ schen   Jugendbewegung in Leningrad   in Angriff genommen und in den einzelnen Stadtbezirken regelmäßige Abende veran­staltet, in denen die früheren Funktionäre des Komsomol ihre Erinnerungen zum besten gaben. Zu diesen Veranstaltungen holte man sich fast mit Gewalt die ehe­maligen aktiven Funktionäre des Komso­mol aus der Sinowjewperiode, selbst sol­che, die wie zum Beispiel Schatzkin, jeglicher Politik Valet gesagt hatten. Im Wyborger Rayon waren diese Veranstal­tungen besonders lebendig. Sehr interes­sant waren im besonderen die Berichte Rumjanzew   s, der hierbei auch die Zeit der Sinowjew  -Opposition streifte und sie nicht ganz im Sinne der offiziellen Par- tcilinie beleuchtete. Aus Anlaß dieser Berichte gab es nicht wenig Tratscherelen, und Agranow nahm sie zum Ausgangspunkt für seine Konstruktion, wonach diese Zu­sammenkünfte ehemaliger Funktionäre nichts anderes waren als Beratungen von Oppositionellen, sintemalen diese Veran­staltungen auch von Nikolajew   be­sucht wurden. Was man auf diesem Gewebe aus­sticken konnte, wußten alle, die sich für die Produktion Agranows interessierten. In diesem Falle übertraf er sich selbst, er begnügte sich nicht mit Leningrad  , son­dern zog seine Fäden auch nach Moskau  , zu Sinowjew   und K a m e n e w, die die Unvorsichtigkeit begangen hatten, sich mit ihren früheren Anhängern zu treffen, wenn sie aus Leningrad   nach Moskau   fuhren. So entstand das Bild einer weitverzweig­ten Verschwörung, die vou den Führern der alten Opposition in dem Augenblick aufgezogen wurde, wo in den höchsten Re­gierungskreisen über die Versöhnung ge­stritten wurde. Der Bericht unterstrich speziell für Stalin die Aussagen, aus denen hervorging, Hnß Kamenew, dem Stalin   Glauben ge­schenkt hatte, sein Ehrenwort nicht ge­halten habe und nicht nur nicht über die ihm bekannt gewordenen oppositionellen Stimmungen dem Zentralkomitee Bericht erstattete, sondern auch selbst in Gesprä­chen mit Freunden, wenn auch vorsichtige, so doch nicht völlig loyale Erklärungen abgegeben hatte. Die Erörterung dieses Berichtes im Politbüro fand unter sehr gespannter Stimmung statt Auf der Tagesordnung standen zwei Fragen, erstens, wie man mit den durch die Untersuchimg festgestellten »Mitverschworenen« und»Anstiftern« ver­fahren solle, und zweitens, welche politi­schen Folgerungen man aus der Tatsache der Aufdeckung einer oppositionellen Ver­schwörung ziehen müsse. Die zweite Frage drängte die erste in den Hintergrund. Die Mehrheit war gegen einen Wechsel des Kurses, der in der Plenarsitzung des Zentralkomitees in Aussicht genommen worden war, wo eine Reihe von Reformen auf wirtschaftüchem Gebiete und die Ein­führung einer neuen Verfassung auf poli­tischem Gebiete geplant wurden. In dieser Frage trug die Mehrheit anscheinend den Sieg davon. Stalin   erklärte kategorisch, daß alle diese Maßnahmen unbedingt durchgeführt werden müßten, daß auch er ihr entschiedener Anhänger sei und daß der von Kirow vorgesehene Plan nur in einem Punkt revidiert werden müsse: An­gesichts der zutage getretenen Abneigung der Opposition, eine völlige»Abrüstung« durchzuführen, müsse die Partei im Inter­esse ihrer Selbstverteidigung eine neue energische Ueberprüfung der früheren Oppositionellen durchführen, und zwar in erster Linie der Anhänger von T r o t z k i, Sinowjew   und Kamenew  . Diese Linie wurde nicht ohne Schwanken an­genommen. Was jedoch die erste Frage betraf, so wurde der Beschluß gefaßt, die Angelegenheit als reguläre Terrorange­legenheit dem Sowjetgericht zu übergeben, und es den Untersuchungsbehörden zu überlassen, den Kreis der Angeklagten nach eigenem Ermessen zu bestimmen. Das bedeutete die Preisgabe d e r O p p o s i t i o n s f ü h r e r an das Gericht und an die Exekution. Die ersten Prozesse Nach Annahme dieses Beschlusses wurde die Parteimaschine in Gang gesetzt. Der Feldzug gegen die Opposition wurde mit Plenarsitzungen des Moskauer und Leningrader Parteikomitees eröffnet. An einem und demselben Tage angesetzt, wur­den sie besonders feierlich abgehalten, es traten in ihnen Berichterstatter vom Po­litbüro auf usw. Den Mitgliedern wurde ein umfangreicher Bericht über den Fall Nikolajew   ausgehändigt, derselbe, den ich bereits früher erwähnte: mit Zitaten aus dem Tagebuch Nikolajews, Aus­zügen aus den Aussagen der Angeklagten und anderen Dokumenten. Der Bericht war nur in einer sehr beschränkten Anzahl von Exemplaren angefertigt, wurde nur unter persönlicher schriftlicher Bestäti­gung der Komitee-Mitglieder ausgehändigt und mußte nachher wiederum gegen Quit­tung dem Sekretariat des Komitees zu­rückgegeben werden, wo er in besonderen Geheimschränken aufgehoben wurde. Aber selbst in diesem Geheimbericht wurde die bei Nikolajew   gefundene Deklaration nicht vollständig wiedergegeben; offenbar darf nur ein sehr enger Kreis von Personen ihren Inhalt kennen. Die erwähnten Ple­narsitzungen fanden natürlich ohne jeg­liche Debatte statt Die vorbereiteten Re­solutionen wurden einstimmig angenom­men und am folgenden Tage wurden alle Kettenhunde losgelassen- Sowohl in der Presse wie in den Versammlungen begann eine wahnsinnige Hetze gegen alle Oppo­sitionellen, insbesondere gegen die frühe­ren Anhänger Trotzkis und Sinow­ jew   s. So wurde die»öffentliche Meinung« geschaffen, die für die Durchführung der Abrechnung notwendig war. Der erste Prozeß weckte verhältnis­mäßig wenig Erörterungen. Die Angeklag­ten waren verloren. Niemand wagte für sie einzutreten. Zu den Gerichtssitzungen wurden nicht einmal die nächsten Ange­hörigen zugelassen. Es wäre übrigens schwer gewesen, sie, mindestens in Lenin­ grad  , ausfindig zu machen, da alle, die in irgendwelchen persönlichen Beziehungen zu den Angeklagten standen, ohne Unter­schied des Alters, des Geschlechts und der Parteizugehörigkeit unter dem Verdacht der»Mittäterschaft« verhaftet waren. An den Gerichtssitzungen nahmen nur diejeni­gen teil, die durch ihre amtliche Stellung dazu berufen waren. Daraus erklärt es sich, daß über diesen Prozeß so wenig ge­sprochen wurde. Es unterliegt indes kei­nem Zweifel, daß er keineswegs glatt verlauf wi ist: fast alle Angeklagten be­stritten die gegen sie erhobene Anklage, lehnten die ihnen zugeschriebenen Aussa­gen ab und sprachen von dem Druck, der während der Untersuchung auf sie ausge­übt worden war. Kein einziger von ihnen bestätigte die Existenz eines»verschwöre­rischen« Zentrums. Natürlich blieben alle diese Proteste ergebnislos. Unter noch stärkerer Abgeschlossenheit wurde der Prozeß gegen die Leiter der Leningrader Abteilung des Innenkommis­sariats abgehalten, aber in seinen Ver­handlungen herrschte ein ganz anderer Ton: Die Anklagen waren relativ milde, die Angeklagten bekannten ihre Schuld, sie beriefen sich aber auf Anweisungen, die auf Kirow selbst zurückgingen. Das Urteil frappierte alle diejenigen durch seine Milde, denen bekannt war, wie streng bei uns sonst die Strafen selbst für eine einfache Nachlässigkeit ausfallen, wenn es sich um den persönlichen Schutz der »Führer« handelt. Selbst Balzewitsch, der die Hauptleitung des Schutzes des Smolny-Instituts in Händen hatte, wurde nur der»verbrecherisch-nachlässigen Er­füllung« seiner amtlichen Obliegenheiten für schuldig befunden und zu 10 Jahren Konzentrationslager verurteilt. Der Chef der Leningrader Abteilung des Innenkom­missariats und sein Vertreter kamen mit drei, bezw. zwei Jahren davon, wobei sie gleichzeitig mit verantwortlichen Posten in der Verwaltung der Konzentrationslager betraut wurden, so daß de facto das Urteil für sie nur eine gewisse Degradierung be­deutete. Einen ganz anderen Charakter trug der Prozeß gegen Sinowjew  , Kame­ new   usw. Eh- war von Anbeginn an als »Schauprozeß« gedacht, der in»voller Oef- fentlichkeit« durchgeführt werden sollte, und dessen Zweck es war, die Führer der Leningrader Opposition in den Augen der dortigen Bevölkerung endgültig zu»ent­larven«. Die Angeklagten, die, wenn ich nicht irre, in den letzten Jahren sämtlich außerhalb Leningrads gelebt hatten, wur­den aus Moskau   und anderen Städten dort­hin gebracht Es war im Grunde ein Pro­zeß gegen das Leningrader Parteikomitee der Sinowjew  -Periode, ausgenommen die­jenigen Personen, die schon damals treue Stalinisten waren. Den Angeklagten wurde erklärt daß die Partei von ihnen Hilfe im Kampfe gegen die terroristischen Strömungen fordere, die auf dem Boden der von ihnen seinerzeit entfesselten extremen fraktionellen Kämpfe entstanden waren. Sie müßten der Partei diese Unterstüt­zung erweisen, indem sie sich po­litisch zum Opfer brächten: Nur die reumütigen Bekenntnisse der Oppositionsführer vor dem Gericht nur die Uebernahme der Verantwortung für diese terroristischen Strömungen und die entschiedene Verurteilung derselben könnten ihre ehemaligen Anhänger ver­anlassen, auf dem eingeschlagenen Wege Halt zu machen und ihre Tätigkeit ein­zustellen. Dieser Vorschlag stieß viele der Angeklagten ab, für seine An­nahme trat unter den Angeklagten hauptsächlich Kamenew   ein. Dieser letztere wurde vor seiner Ver­haftung zu Stalin   gerufen; offenbar war das noch vor der entscheidenden Sitzung des Politbüros. Stalin   wollte angeblich in persönlicher Unterredung nachprüfen, ob Kamenew   sein ihm gegebenes Wort gehal­ten, oder ob er trotz seiner Schwüre seine Verbindungen mit der Opposition aufrecht­erhalten hatte. Es verlautete, daß diese Unterredung einen dramatischen Charak­ter trug. In Moskau   hatten die ehema­ligen Oppositionellen in der Tat ähnlich wie in Leningrad  »auf dem Boden gemein­samen Tee-Trinkens« gewürzt durch fron- dierende Gespräche, die Fühlung mitein­ander aufrechterhalten, und obwohl Kame­ new   an diesen Tee- Abenden nicht teilnahm, so wußte er doch von ihrer Existenz, infor­mierte sich über die dort geführten Ge­spräche und erklärte in vertraulichen Un­terhaltungen mit einzelnen Teilnehmern, daß er im Grunde derselbe geblieben sei, der er früher war. Diese Erklärungen Ka­menews waren allen Teilnehmern der»Tee­abende« bekannt; irgend jemand erzählte davon den befreundeten Gesinnungsgenos­sen in Leningrad   und von ihnen erfuhr es auch Agranow. Jetzt versuchte Ka­ menew  , sich damit herauszureden, daß man ihn nicht verstanden und seine Worte falsch ausgelegt habe, aber schließlich be­kannte er seine Schuld, versprach Besse­rung und brach sogar in Tränen aus. Aber Stalin   erklärte, daß er ihm jetzt nicht mehr glaube und die Angelegenheit den »normalen« gerichtlichen Weg gehen lasse. Die moralisdie Verlumpung Eis muß anerkannt werden, daß die Haltung der ungeheuren Mehrzahl der Oppositionellen vom Standpunkt der poli­tischen Ethik in der Tat nicht auf der nötigen Höhe steht. Gewiß sind die Be­dingungen in unserer Partei unerträglich. Es ist absolut unmöglich, loyal zu sein und die an uns gestellten Forderungen in vol­lem Umfange zu erfüllen: täte man das, so müßte man sich in einen Denunzian­ten verwandeln, und ständig ins Zentral­komitee laufen, um dort über jede zufällig gehörte oppositionelle Phrase, über jedes oppositionelle Dokument, das einem in die Hände fällt, Bericht zu erstatten. Eine Partei, die an ihre Mitglieder derartige Anforderungen stellt, darf natürlich nicht erwarten, daß man sie als freien Verband von Gesinnungsgenossen, die sich für be­stimmte Zwecke freiwillig zusammenge­schlossen haben, betrachtet. Lügen müs­sen wir alle, ohnedem kann man nicht leben. Aber es gibt bestimmte Grenzen, die man beim Lügen nicht überschreiten darf. Aber die Mitglieder der Opposition, insbesondere ihre Führer, haben diese Grenzen leider sehr oft überschritten. In früheren Zeiten hatten wir- alte»Po­litiker« einen bestimmten Ehrenkodex für den Verkehr mit der Welt der Herrschen­den. Eis galt als ein Verbrechen, wenn man ein Gnadengesuch einreichte: wer das tat, war politisch erledigt. Wenn wir im Ge­fängnis oder in der Verbannung saßen, lehnten wir es ab, der Obrigkeit gegenüber selbst in den Fällen, wo wir uns dadurch Erleichterungen verschaffen konnten, das Versprechen zu geben, daß wir keinen Fluchtversuch unternehmen würden. Die allgemeine Auffassung war die: Wir sind ihre Gefangenen; ihre Aufgabe ist es, uns zu bewachen, unsere aus der Gefangen­schaft zu entfliehen. Wenn es sich in Aus­nahmefällen als notwendig erwies, eine Verpflichtung einzugehen, so mußte sie streng eingehalten werden; es galt als schmachvoll, die unter Abgabe eines Ehren­wortes erzielten Erleichterungen für eine Flucht auszunutzen, und die alte»Katorga< prägte sich gut die Namen derjenigen ein, die durch derartige Vergehen den Ruf der politischen Gefangenen in Mißkredit ge­bracht hatten. Jetzt hat sich die Psychologie vollkom­men gewandelt. Jetzt wird die Einrichtung eines Gnadengesuches als eine ganz nor­male Angelegenheit betrachtet; dies ist meine Partei, und ihr gegenüber können die Regeln, die unter dem Zarismus ausg»-