Kr. 202 SOKKTAG, 25. April 1937
Aus dem Inhalt: Aufstieg der freien Arbeiter Kontrolle oder Blockade Ein General ist schlechter Laune Der asiatische Wotan
Verlag; Karlsbad , Haus„Graphia"— Preise und Bezugsbedingungen siehe Beiblatt letzte Seite Ist Hitler friedfertig? Ein dnrdfifididger AblenkungsTerfudi
Sozialdemokrat tisdier Protest Der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands hat mit starkem Befremden zur Kenntnis genommen, daß der englische Sozialist, Georg Lansbnry, eine freiwillige diplomatische Aktion bei Hitler unternommen hat. Dieser Schritt zeugt weder von dem Willen, der deutschen Opposition bei ihrem schweren Kampf zu helfen, noch von Verständnis für ihre Auffassungen und für das Wesen ihres Kampfes. Er fordert Widerspruch und Protest heraus. Er ist auch unvereinbar mit den Beschlüssen der Sozialistischen Arbeiter-Internationale über die Haltung der Sozialisten gegenüber Hitler-Deutschland und verletzt aufs tiefste die Gefühle der deut schen Sozialdemokraten, die Hitler ausrotten will. Dieser Schritt erweckt den Anschein, als ob das Hitlersystem verständigungsbereit sei— obwohl seine Kriegsrüstungen dem wirklichen Frieden und der Vcrstän- digung der Völker im Wege stehen. Er verschiebt die Frage der Verantwortung für den heutigen Zustand Europas und lenkt von den machtpolitischen Tatsachen der Hitlerpolitik auf reine Wirtschaftsfragen ab. Er unterstützt die Propaganda des Systems, die die Verantwortung für die deutschen Wirtschaftsnöte, die eine Folge der braunen Kriegsrüstung sind, von sich abzulenken versucht. Er bedeutet eine propagandistische Hilfeleistung für das System, das durch seinen freien bösen Willen die heutigen Zustände herbeigeführt hat und eben deshalb von der deutschen Opposition auf das heftigste bekämpft wird. Er wird zur Unterstützung der deutschen imperialistischen Forderungen, wie sie Schacht vorträgt, der unter der Maske des Verlangens nach Gleichberechtigung Kolonien und politisch-ökonomische Expansionsmöglichkeiten für den deutschen Imperialismus fordert. Er stört den geistigen Klärungsprozeß in Deutschland und fördert die braune Verwirrungspropaganda. Darüber hinaus verbreitet Lansbury in der englischen Presse Aussagen über die Zustände in Deutschland , die der Wahrheit ins Gesicht schlagen. Obwohl er nur zwei Tage in Deutschland war, will er wissen, daß die deutsche Jugend im Geiste des Friedens erzogen wird. Jeder objektive Beobachter kann die lächerliche Unwahrheit dieser Behauptung tausendfach nachweisen. Wäre Lansbury nicht Engländer, sondern Deutscher, so wurde er nicht von Hit ler empfangen, sondern wäre längst lebenslänglich eingekerkert. Durch seine Behauptungen beschuldigt er indirekt alle freiheitliebenden Deutschen , die gegen die Schmach des Systems kämpfen, der Un- wahrhaftigkeit, er fällt dem Kampf um die politische und kulturelle Befreiung des deutschen Volkes in den Rücken. Deshalb protestiert der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands aufs entschiedenste gegen diese dem deut schen Freiheitskampf feindselige Privataktion Lansburys. Lästige Gewohnheit In verschiedenen Stadtteilen Allensteins wurden in letzter Zeit wiederholt Fenster- Scheiben dadurch beschädigt, daß Jugendliche mit Flobertpistolen fahrlässig umgingen. In zwei Fällen waren Geschosse bereits in die Wohnungen eingedrungen. (»Preußische Zeitung « Nr. 105.)
George Lansbury, bis zum Jahre 1935 Führer der englischen Arbeiterpartei im Unterhaus, hat Hitler einen Besuch gemacht. Diesen Besuch sieht die englische Arbeiterpartei mit großer Beklemmung. Die Opposition gegen Hitler in Deutsch land , das freiheitsliebende Deutschland , die illegalen Kämpfer gegen das braune System blicken auf diesen Schritt dieses alten Mannes mit offener Empörung. Warum? Es handelt sich nicht nur um Fragen des Taktes, nicht nur darum, daß einer, der zur sozialistischen Gesinnungsgemeinschaft gehört, hingeht, um mit einem Manne zu reden, der die volle Verantwortung für alles trägt, was in Deutsch land gegen uns, gegen das Volk, das Recht und die Freiheit geschehen ist. Es handelt sich auch nicht nur darum, daß durch solche Schritte die Sozialistische Arbeiter- Internationale zu einer Farce und zum Gespött werden muß. Das Gefühlsmäßige gegen einen solchen Schritt versteht sich von selbst, und man wird wohl verstehen, daß unser ganzes Gefühl sich gegen einen solchen Schritt empört. Man mag diesen Schritt aus der Persönlichkeit des alten Mannes und dem besonderen Charakter seines unpolitischen Verhältnisses zur Politik erklären und nachweisen, daß er nur konsequent weiterführt, was er immer als Politik betrieben hat— so als er auf der Konferenz der Arbeiterpartei in Brighton September-Oktober 1935— mitten im abessinischen Konflikt die einseitige völlige Entwaffnung Englands empfahl und sich gegen die Sanktionen gegen Mussolini aussprach, so wieder, als er auf der Labourkonferenz von Edinburgh Oktober 1936 den Diktaturländern Deutschland und Italien versicherte, daß sie das Recht hätten, sich zu beklagen. Aber nicht der Mann interessiert uns, sondern die Sache, und in der Sache liegt das, was uns, und mit uns die deutsche Opposition auf das tiefste empört. Das braune System ist an einem kritischen Punkte angelangt. Es steht vor wichtigen Konsequenzen seiner bisherigen
Politik. Gegen seine auf Vorherrschaft in Europa abzielenden Rüstungen erheben sich die Rüstungen der demokratischen Länder, gegen seine Politik der Spaltung und Zerklüftung Europas der Zusammenschluß der großen Demokratien. Im Rüstungswettlauf droht ihm früher der Atem auszugehen als den großen Demokratien. Die Schwächen und Schäden der Kriegswirtschaft, die Folgen der gewaltigen Kapitalsverwüstung für die Rüstungen, der Veränderung der inneren Struktur der deutschen Volkswirtschaft werden sichtbar. Wirtschaftspolitisch wie machtpolitisch läuft die Politik des Systems in eine Sackgasse. Der Frieden Europas gestört, die Freiheit des Volkes vernichtet, das deutsche Volk moralisch zurückgeworfen, mit ungeheuren Lasten heute und für die Zukunft beladen und alles nur, damit die Stellung des deutschen Volkes unter den Völkern der Erde am Ende weitaus schwächer und weniger angesehen ist als unter der Weimarer Republik — das ist die Anklage gegen das System, deren Berechtigimg immer sichtbarer wird. Schon zeigen sich im Innern des Systems emstliche Meinungsverschiedenheiten über den Kurs, über die Chancen des Vierjahresplanes, über die Chancen des Revanche- und Eroberungskrieges, für den das System gerüstet hat. In diesem Augenblick unternimmt Lans bury eine Diversion zugunsten des braunen Systems. Sein Schritt zielt darauf ab, das Odium von diesem System zu nehmen, daß es diese Dinge freiwillig, aus freiem bösen Willen herbeigeführt hat. Er verschiebt die Verantwortlichkeiten. Er unterstützt die Unschuldslügen des Systems. Er kommt ihm propagandistisch zu Hilfe, indem er das System in der Pose der Harmlosigkeit, der absoluten Verständnisbereitschaft zeigt, und indem er alles verschleiert, was an diesem System wesentlich und gefährlich ist. Wahrlich, die freiwilligen Helfer Hitlers sind gefährlicher als alles, was Göbbels an Agenten besitzt! Die Anklagen, die die deutsche Oppo-
Hiii'cii Hunger ermordet! Teuflische Nethoden des braunen Systems
Wie wir zuverlässig erfahren, ist Genosse Hirschberg, dessen tapfere Haltung im Prozeß vor dem Volksgerichtshof wir in der vorhergehenden Nummer geschildert haben, auf eine grausame Weise ermordet worden. In den Zuchthäusern des Systems ist eine neue mörderische Regelung gegen die polltischen Gefangenen eingeführt worden. Sie erhalten schwerste Arbeiten zugewiesen. Wer das vorgeschriebene Arbeitspensum nicht leisten kann, erhält strafweise Abzüge an der Verpflegung. Da infolge dieser Minderemährung die Arbeitsleistung weiter sinken muß, läuft diese grausame Prozedur auf langsamen Hnngertod hinaus. Genosse Hirschberg war durch grausame Mißhandlungen geschwächt, er war herzkrank. Er ist ein Opfer dieser mörderischen Regelung geworden. Er ist a n Entkräftnng z u g r u n d e g e g a n- gen. Dasselbe Schicksal droht den Genossen M a r k w i t z und Oitendorf.
Wir erhalten von der ganzen Welt Protest gegen diese Methode des systemati sehen Mords!
Hinrlditungsfilme Es wird uns berichtet: Von allen H i n r i c h t n n g e n, die in Deutschland erfolgen, werden amtliche Tonfilme hergestellt. Diese Filme verbleiben keineswegs in den Gerichtsarchiven. Sie werden vielmehr bei Zusammenkünften der höchsten Würdenträger der nationalsozialistischen Partei privat vorgeführt. Als bei der Vorführung eines Films von der Hinrichtung eines der Opfer der politischen Rachejustiz sich zeigte, daß das Opfer vor der Exekution zusammenbrach, begleiteten die bei der Filmvorführung anwesenden Großwürdenträger der NSDAP die schauerliche Szene mit Gelächter und zynischen Redensarten.
sition gegen das System erhebt, sind wahr. Sie sind die Grundlage des Freiheitskampfes gegen das System. Je stärker diese Anklage durch die Tatsachen bestätigt werden, um so gefährlicher wird dieser Freiheitskampf für das System. Lansbury aber erblickt seine Aufgabe darin, diesem System, der Vormacht der europäischen Gegenrevolution eine helfende Hand hinzustrecken in einem Augenblick, wo die Propagandalügen des Systems gefährlich hart auf die Tataachen stoßen. Eine schöne Auffassung internationaler Solidarität im Kampfe gegen die Gegenrevolution! Nicht, daß wir glaubten, daß die Aktion Lansburys praktische politische Auswirkungen in weltweitem Maßstab haben würde. Aber was wir ernstlich besorgen ist, daß sie der geistigen Klärung entgegenwirkt und daß sie die Verwirrung der Begriffe fördert, auf die das System seine Propaganda in Deutschland und außerhalb Deutschlands aufgebaut hat. Zu dieser Begriffsverwirrung gehört die These von den Habenichtsen, den Proletariern unter den Völkern. Sie ist ein Stück der faschistischen Verhüllungsideologie, ein Stück Imperialismus selbst, das nur gedeihen kann auf der geistigen Grundlage des imperialistischen Merkantilismus. Was sollen angesichts dieser These die kleinen Völker Europas sagen? Lansbury aber nimmt diese These für wahr! Er glaubt an sie, er glaubt, daß hier die Kriegsursachen liegen, er glaubt nicht an politische Differenzen zwischen demokratischen Völkern und diktatorischen Systemen und predigt: gebt Deutachland und Italien , was sie fordern; denn Raum für alle hat die Erde! Wirklich und wahrhaftig; ruft sie alle zusammen, um über eine wirkliche Teilung der Welt zu sprechen!(Konferenz von Edin burgh . Bericht S. 187.) Das ist der gedankenmäßige Hintergrund seines Schrittes bei Hitler, das liegt hinter seiner Idee einer wirtschaftlichen Weltkonferenz zur Beseitigimg der Kriegsursachen. Man erkennt, wie die Primitivität dieses politischen Denkens sich mit vulgär-imperialistischen Gedankengängen deckt! In dieser primitiven Auffassung liegt eingeschlossen eine einzige große D e s a v o u i e r u n g der gesamten po 1 i t i s c h e n A rb e i t der Weimarer Republik durch vierzehn Jahre hindurch für den Frieden und die Gleichberechtigung Deutschlands . Denn diese Arbeit hatte ja Erfolge: für die Welt wie für Deutschland ! Wo waren denn damals die Rohstoffragen? Und wo wären für ein Deutschland , das von Reparationen frei ist und sein Kapital nicht milliardenweise für Rüstungen vergeudet, heute diese Fragen der Rohstoffe, wenn es seine Wirtschaft in friedlicher Arbeit zu friedlichen Zwecken unter Aufrechterhaltung der Eingliederung in die Weltwirtschaft weiter entwickelt hätte? Diese primitive Auffassung Lansburys verfälscht alle deutschen Probleme. Also haben die Hugenberge und die Hitler immer recht gehabt? Und das heute, wo der Rüstungsvierjahresplan deutlich zeigt, daß die deutsche Wirtschaftsnot von der nationalistischen Politik kommt, von der Revanchelust, von der Macht- und Eroberungsgier des neuen preußisch-deut schen Militarismus! Allerdings, als die deutsche Republik ihre Politik um Gleich-