Nr. 210 BEILAGE
UcutfteöSrfe
20. Juni 1937
Cremen die Diktatur der Lüge
Die Moskauer Prozesse sind eine unkeusche intellektuelle Zumutung an den internationalen Sozialismus. Die Sowjetpropaganda verlangt, daß denkende, politisch erfahrene Menschen sich diesen Wust von Lügen und dreisten Erfindungen, von erpreßten Geständnissen wider ihren eigenen Verstand zu eigen machen, sie decken und womöglich noch weiter verbreiten sollen. Sie verlangt das Opfer des intellektuellen Gewissens und der geistigen Persönlichkeit Die kommunistischen Parteien aller Länder und ihre Organe benutzen die Reaktion auf die Mos kauer Prozesse zu einer Zensurierung und Zweiteilung der Sozialisten. Wer nicht glaubt, daß die Moskauer Geständnisse echt und die Behauptungen der Stalin - schen Diktatur die reine Wahrheit sind, an der keinerlei Zweifel zulässig ist, der wird als»Trotzkist«, als Helfershelfer Hit lers und Francos bezeichnet. In anderer Form feiert die ruchlose Beschimpfung freiheitlich und demokratischer Sozialisten als»Sozialfaschisten « eine Auferstehung. Die kommunistischen Parteiorgane scheinen angewiesen worden zu sein, diese Mos kauer Prozesse zu einer allgemeinen Volkszählung der unbedingten Knechte der Stalinschen Diktatur zu benutzen. Die frechen Beschimpfungen, mit denen sie jedem überschütten, der es wagt, seine kritische Stimme zu erheben gegen das Tollhaus dieser Prozesse, wie überhaupt die Methoden des intellektuellen Terrors passen schlecht zu der angeblich neu aquirierten demokratischen Gesinnung. Die Machthaber von Moskau scheinen zu glauben, Haft angesichts der Rolle, die Sowjetrußland seit Mitte 1934 in der euro päischen Politik spielt, jeder Sozialist in Europa zum Gefangenen, ja zum Knecht der Stalinschen Politik werden müßte. Sie scheinen daraus für sich eine Immunität gegen sozialistische Kritik herleiten zu wollen. Sie haben bei einer gewissen Zwischenschicht politisch unerfahrener oder gesinnungsmäßig wurzelloser Intellektueller mit diesem Versuch geistiger Terrorisierung und Erpressung gewisse Erfolge hervorgerufen. Im großen aber ist der Versuch, die europäischen Sozialisten auf das Niveau von kommunistischen Parteifunktionären herunterzudrücken, die jede Moskauer Lüge für eine unfehlbare Wahrheit erklären müssen, vollständig mißlungen. Dieser Versuch hat nur Entrüstung und Verachtung hervorgerufen, er hat die kom munistischen Parteifunktionäre noch tiefer in die Schande hin eingedrückt, weü sie Dinge verteidigen müssen, die kein einziger Mensch in Europa glaubt, und sie selber auch nicht. Dieser Versuch hat aber auch den Klärungsprozeß bei vielen beschleunigt, die in den letzten Jahren den politisch-geistig-moralischen Zusammenbruch der Komintern und der ihr angeschlossenen kommunistischen Parteien zu ahnen begonnen hatten. Ein Zeugnis dafür ist das Buch des früheren Herausgebers der Weltbühne, Willi Schlamm , »Die Diktatur der Lüge«. Der Verfasser hat das Buch eine Abrechnung genannt. Es ist es im mehrfachen Sinne; denn es ist zugleich die Abrechnung eines Mannes mit seiner eigenen politisch-geistigen Entwicklung, der es fühlt, daß er auf dem Wege zur Wahrheit an einem Ruhepunkt angelangt ist durch Erkenntnis und Bekenntnis der elementaren sittlichen Grundlagen des Sozialismus. »Man kommt zu ihr, manchmal auf zermürbenden Umwegen, nach ausdörrenden Parteiabenteuern und Praktionsdisputen — aber einmal kommt jeder zu ihr, dem es ernst gewesen ist.« Weil es ihm ernst war, hat er sich von den Kommunisten die Beschimpfung»Renegat« zugezogen, — von jenen, die ein persönliches intellektuelles Gewissen nicht anerkennen dürfen, weil sie damit die Grundlage ihrer eigenen geistigen Knechtseidstenz in die Luft sprengen würden. Sein Buch richtet sich ja direkt gegen sie— gegen den intellektuellen Terror, dem sie sich unterwerfen. Es ist eines jener Bücher, die eine erlebte Wahrheit, eine schmerzlich-errungene Wahrheit wiedergeben. Es sind eine Reihe solcher Bücher erschienen, seitdem der Sieg der totalen Diktatur in Deutschland eine tiefe geistige Erschütterung hervor
gerufen hat. Eis sind Bücher, in denen sich jene aussprechen, die die tiefe Kluft zwischen ihrem sittlich fundierten revolutionären Idealismus und der sowjetrussischen Wirklichkeit empfunden haben. Eis ist auch ein Zeichen der Zeit, daß für solche Bücher heute kaum Verleger zu finden sind, und daß gegen sie sofort der Terror des Moskauer offiziellen und offiziösen Schrifttums mobU gemacht wird. Damit hat freilich zu jeder Zeit jeder rechnen müssen, der die Wahrheit sagen wollte, nur um der Wahrheit willen. Solche Bücher, die zugleich Kampf- und Bekenntnisliteratur sind, sind deshalb ; wertvoll, weil sie das persönliche Ringen um die Wahrheit und die Empörung über das Böse unmittelbar erkennen lassen. Das Buch von Schlamm geht aus von einer analytischen Kritik der Moskauer Prozesse, und diese Kritik ist vernichtend. Aus dieser Kritik heraus wächst eine Untersuchung der Verhältnisse in Sowjetrußland und des geistig moralischen Zu- standes der kommunistischen Partei. Hier wird mit treffenden Beobachtungen die völlige Entartung der sozialistischen Idee im Stalinismus aufgezeigt. Der despotischen Praxis des Stalinregimes stellt der Verfasser sein Bekenntnis zum freiheitlichen Sozialismus entgegen: »Wir sind Sozialisten geworden, weil wir es nicht zu ertragen vermögen, daß Menschen von Menschen zertreten werden. Wir sind Sozialisten geworden, weil wir die Verödung und Vernichtung der menschlichen Kultur nicht zu ertragen vermögen. Wir sind Sozialisten geworden, weh wir Freiheit und Würde und Selbstverfügung des Menschen als höchste Lebenswerte begriffen haben. Kurz, wir sind Sozialisten geworden, weil wir der Gegenpol dessen sind, was sich im Paschismus kumuliert hat.«(S. 143/44.) Diese humanistische Grundlage des Sozialismus ist sein Lebenselement— die Zerstörung dieser höchsten Lebenswerte durch den Kapitalismus ist der Ausgangspunkt der sozialistischen Kritik. Der junge Marx geiselte die Verödung und Vernichtung der menschlichen Kultur, als er von der»Entmenschlichung des Menschen« sprach. Es ist der" Zentralpunkt der Schlammschen Kritik— wie der Kritik des freiheitlichen Sozialismus am Kommunismus in seiner russischen Gestalt überhaupt— daß er den Stalinismus, die Schändung der Freiheit und Würde des Menschen, die Entpersönlichung, kurz die »Entmenschlichung des Menschen« vorwirft: »Arn kranken Körper der menschlichen Gesellschaft hätte die kapitalistische Wunde operiert werden sollen. Dazu wurde ein bestimmtes Instrument gebraucht: die sozialisierte, technisch entwickelte Wirtschaft. Mit dem gleichen Instrument, gerät es in die Hände machttoller Tyrannen, kann der menschlichen Gesellschaft alles höher organisierte Leben herausgeschnitten werden. Die moderne Technik ist ein Instrument von furchtbarer Wirksamkeit. In den Händen freiheitawilliger Sozialisten könnte dieses Instrument der menschlichen Gesellschaft die Erlösung von den wirkendsten äußeren Uebeln bringen. In den Händen totalitätsbesessener Tyrannen muß es alle Lebenswerte vernichten. Das Instrument geriet in solche Hände. Nichts anderes ist der Ereignisinhalt unserer schauervollen Epoche. Den Diktaturen ist gemeinsam, daß in ihnen das Mittel den Zweck, das Instrument die Idee, die Macht das Leben tötet.«(S. 146/47.) >Eine total lenkbare, jeglicher eigenen Regung total entblößte Masse befindet sich in der Macht eines totalitären jegücher Kontrolle entzogenen Apparats. Daß sich die einzelnen Atome dieses Ganzen in ihrer standardisierten Haut subjektiv wohlfühlen können, ändert gar nichts an der hassens- werten Monstrosität des Zustandes; die mit unheimlicher Geschicklichkeit produzierte freiwillige Zustimmung von Millionen junger Deutscher zum Lebenszustand des Dritten Reichs läßt uns ja keinen AugenbUck lang in unserer Todfeindschaft gegen diese Schändung aller humanitären Werte schwach werden. Und ebensowenig dürfte unser Urteil durch die Erwägung gemildert werden, Sta lin wolle eigentlich etwas ganz anderes als die heutigen russischen Zustände; ohne
Frage will auch Hitler »subjektiv« das größtmöglichste Glück für das deutsche Volk— aber er verwirklicht eine Lebensform, gegen die jegliches Gefühl für menschliche Sauberkeit elementar aufbegehrt. Nicht das ist wichtig, was Stalin wollen mag; entscheidend ist, was er realisiert. Wie ja Sozialisten überhaupt nun endlich einmal mit der ideellen Inflation aufhören sollten, die das pure Gold einer guten und wachen Gesinnung durch ungedeckte Zukunftswechsel immer mehr verdrängt, nämlich durch den Trick, eine böse Gegenwart mit einer guten Zukunft zu rechtfertigen. Diese»Zukunft« ist ein frecher Moloch, dessen Gefäßigkeit keine Grenzen hat; jedes Stückchen heutiger Freiheit, das ihm geopfert wird, bedeutet nicht ein größeres Stück morgiger Freiheit, sondern das genaue Gegenteil. Diese»Zukunft« ist ein Faß ohne Boden— und es wird immer mehr Blut hineingeschüttet! Solange Generationen sich bewegen lassen, im Interesse der berüchtigten Enkel auf ihre eigene Freiheit und Menschenwürde zu verzichten, vermindern sie(und vermehren sie nicht) die Freiheitsrente ihrer Erben. Daß aus Unfreiheit durch irgendeinen mystischen »dialektischen Umschlag« Irgend einmal Freiheit entsteht, ist eben bloß ein dialektischer Trick. Nur dadurch, daß sie ihre eigene Freiheit ordentlich verteidigt und vermehrt, spart eine Generation für den Freiheitsschatz der Enkel. Wie viel Elend, Schmach und Gemetzel muß der Sozialismus noch erleben, ehe er gelernt haben wird, dem verschlagenen Trick vom Freiheitsverzicht »im Interesse der Zukunft« nicht mehr aufzusitzen?«(S. 153/54.) Für diese Besinnung auf die humanistischem Grundlagen des Sozialismus, für den Gedanken, daß der Mensch um seiner selbst willen und nicht für irgend einen gefräßigen Moloch oder den Machtwahn von Diktatoren da ist, haben die linientreuen Kommunisten trotz aller modischen Bekenntnisse zur Demokratie kein Verständnis. Einer von ihnen hat die ganze
geistige Unsauberkeit, die grauenhafte Unwissenheit und die Abwesenheit jeder wahrhaft sozialistischen Gesinnung bei sich und seines gleichen offenbart, indem er unterstellte, Schlamm habe die oben zitierten Sätze gegen die Verödung der menschlichen Kultur durch den Kapitalismus, diese Sätze für Freiheit und Würde und Selbstverfügung des Menschen abgeschrieben aus Hitlers »Mein Kampf « und diese Sätze seien die Quintessenz des Faschismus... Aber diese Bestätigung der Schlammschen Kritik an der Diktatur der Lüge mußte ja kommen. Wer konnte denn glauben, daß eine Diktatur, die Moskauer Prozesse macht, einer prinzipiellen geistigen Kritik mit der Achtung vor der schwer errungenen Wahrheit des Kritikers entgegentreten würde? In den haßerfüllten Antworten, die das Schlammsche Buch in der kommunistischen Presse gefunden hat, ist die innere subjektive Unwahrhaftigkeit seiner Kritiker besonders stark hervorgetreten. Hier liegt ein besonderes Verdienst dieses Buches: es hat ebenso wie das Buch von Andre Gide zu einer Selbstenthüllung der intellektuellen Knechtsseelen in den kommunistischen Parteien geführt. Der intellektuelle Terror, der zur Preisgabe jeder eigenen Meinung zwingt, die Verleugnung echter Gesinnung, kurz, die Diktatur der Lüge ist bei den kommunisti schen Parteien so sehr in Blüte wie jemals zuvor. Zur gleichen Zeit aber wollen sie glauben machen, daß sie Vorkämpfer der Freiheit seien, bereit, sich mit dem demokratischen freiheitlichen Sozialismus zu verbünden im Kampfe um die Freiheit. Aber wo ist die geistige Grundlage für ein solches Bündnis, wenn jede Stimme des Bekenntnisses zum freiheitlichen Sozialismus, zu Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit terroristische Haßausbrüche der Diktatur der Lüge hervorruft? Max Klinger .
Um das Olm des fäJuees Leni Riefenstahl von der Gegenclique erledigt Eine geflüsterte Skandalaffäre den Augen des Gastgebers— in irgendeinem macht wieder einmal die Runde durch zivilisierten Lande der Welt vor. Etwa in
Deutschland . Der Filmstem Leni Riefen stahl ist mit Getöse aus den höchsten Gefilden in die tiefste Versenkung gestürzt. Die— in Künstlerkreisen besonders rasch zirkulierende— Plüsterzeitung und die von ihr orientierte Auslandspresse stellen den Vorgang so ear: Gesellschaft im Hause des Reichsinnenministers Frick. Viele Filmschauspieler zählen zu den Gästen. Auch Leni Riefenstahl . Göbbels tritt ein, sagt laut und lächelnd: »Ich werde wohl sofort wieder gehen, denn ich pflege mich nicht in Gesellschaft von Juden aufzuhalte n.« In der darauf einsetzenden peinvollen Stille— jeder der Anwesenden mag entsetzt und verlegen an irgendeiner zweideutigen Großmutter kauen— verkündet» der Minister, er habe einwandfreie Beweise dafür, daß die Großeltern von Fräulein Riefenstahl Nlchtarier gewesen seien. Die also Beschuldigte verläßt sofort, vom Gastgeber gefolgt, das Zimmer. Frick kommt zurück, nickt zu Göbbels hinüber— und die vor dem Zwischenfall begonnenen Gespräche werden fortgesetzt, als sei nichts geschehen. Guillotinenstimmung. Draußen wartet der Schinderkarren auf den Nächsten— laßt euch nichts merken— der Tanz geht weiter. Vielleicht bei manchen Kollegen auch ein wenig Kraft durch Schadenfreude. Leni Riefenstahl ist indes vor ihrem Haus angekommen. Dort findet sie einen SS-Lastwagen, mit all ihren Koffern bepackt.»W ohin wünschen Sie zu reisen?« Ja— wohin— ohne Auslandspaß? Leni Riefenstahl begab sich in ein Hotel nahe bei Berlin , wo sie heute noch festgehalten werden dürfte. Die Geschichte mag genau so, sie mag ein wenig anders verlaufen sein. Daß sie überhaupt möglich war und daß ihr knalliger Hintertreppen-Anstrich niemanden in der Welt überraschen konnte, ist eigent- lich das einzig Interessante an ihr. Man stelle sich eine ähnliche Szene— die gesellschaftliche Niedermetzelung eines Gastes vor
England. Sieht man den Beleidiger nicht ordentlich als erledigten Mann aus dem Hause wanken? In Deutschland geht es längst nicht mehr um so differenzierte Regungen wie Ritterlichkeit oder Geschmack — in Deutschland geht es einfach darum, wer wen zuerst frißt. Leni Riefenstahl , von allen Lohnschreibern des Propagandaministeriums jahrelang als»geniale Schöpferin« sämtlicher Parteitagsfilme besungen, -zigmal mit Adolf Hitler , unzählige Male mit fast allen andern Moguln des Dritten Rei ches photographiert, Leni Riefenstahl schien schon ohne Geräusch erledigt zu sein, als ihre letzte Regieleistung den Erwartungen nicht entsprach. Um den mit viel Eifer angekündigten Olympiade-Film wurde es erst stiller,' dann still, und endlich war es ein offenes Geheimnis, daß der mit phantastischen Kosten hergestellte Bildstreifen als u n- brauchbar abgelehnt werden mußte. Eine Blamage für Deutschland . Wieder einmal hatte eine nationalbraune Kunstgröße versagt, sobald internationale Maßstäbe angelegt wurden. Aber just in letzter Zeit schien eine Ehrenrettung geplant zu sein. Plötzlich tauchten Notizen und kleine Artikel in den deutschen Zeitungen auf, die darauf hinwiesen, wie schwer ein so»ungeheures Material« zu bewältigen sei, und die ein baldiges Erscheinen des sorgsam überarbeiteten Olympiade-Films ankündigten. Offenbar stand Clique gegen Clique, denn gerade, als die Riefenstahl, von der Gnadensonne gebräunt, in den Kreis der Favoriten zurückkehren wollte, beförderte sie der Propagandi höchstselbst mit soviel Getöse in den Orkus, daß es keine Auferstehung mehr gibt. Das ist nicht die erste Hinrichtung dieser Art und wird nicht die letzte sein. Jeder, der heute in Deutschland oben ist/ kann morgen mit Donnergepolter in den Keller rasseln, ob er nun über eine Ahnfrau stolpert oder Uber die eigene Vergangenheit, über einen unvorsichtigen Ausspruch, über die Intrigen