Nazi-Sozialpolitik am Pranger Pariser Kongreß für sozialen Forisdiritt Als der erste Kongreß der»Internationalen Vereinigung für sozialen Fortschritt 1924 in Prag tagte, waren in der deutschen Delegation neben den Gewerkschaftsvertretern auch eine Anzahl bürgerlicher Sozialwissenschaftler erschienen, darunter der Sekretär der »Gesellschaft für soziale Reform« Herr Prof. Dr. Ludwig Hey de. Er wußte die Sozialpolitik der deutschen Republik nicht hoch genug zu rühmen. Als der Sozialdemokrat Renne r-Wien sein Referat über die Betriebsräte beendet hatte, schmierte sich der Herr Professor bei den Sozialisten an und erklärte: »Ich bin in der glücklichen Lage, den ausgezeichneten Ausführungen meines verehrten Herrn Vorredners nur wenig hinzufügen zu müssen. Denn ich stimme i n allem, was er in seinen Thesen vertreten hat, wie auch an dem, was er über den Entwurf hinaus von uns beschlossen haben möchte, vollinhaltlich überein.« Damals war der auf politische Konjunktur trainierte Heyde noch auf Liebe für den Marxismus eingestellt. Er hatte soeben einen »Abriß der Sozialpolitik« geschrieben, in dem er die Fiktion des sog.»freien Arbeitsvertrags« im kapitalistischen System rückhaltlos zerpflückte. Er verglich die neue Zeit mit der des Frühkapitalismus und schrieb kühn: »Ja, in der Tat, der Arbeiter hatte alle Rechte, die er nur haben wollte, denn er war»frei«, aber freilich»frei« in jenem Doppelsinne Karl Marx e#n s, daß er nicht nur politisch freier Bürger war und über seine Arbeitskraft verfügen konnte, sondern auch daß er frei war, bar, entblößt war von jeglichem eigenen Kapitalbesitz und daher gezwungen, sich dem Vertragspartner zur»Ausbeutung« zu überlassen.« Und er erklärte das Wesen der Sozialpolitik als eine Frage nach dem richtigen Verhältnis der Klassen, »unter Klasse wird die Summe in gleicher Erwerbs- oder Besitzlage befindlichen Menschen verstanden.« Inzwischen hat sich der einstige Marx - Interpret»wissenschaftlich« gleichgeschaltet. Er kennt keine sozialen Klassen mehr, sondern ist überzeugter Anwalt der»Volksgemeinschaft« geworden. Sein Führer ist nicht mehr Prof. Brentano, sondern Adolf Hitler . Das Steh-auf-Männchen, das immerhin— wie die alten Nazis sagen— zu den»Märzgefallenen« gerechnet wird, wollte sich aber bei seinen neuen Herren in besonders gutes Licht setzen, um seine Jugendsünden vergessen zu machen. Also Herr Prof. Dr. Ludwig Heyde wagte die Reise nach Paris , diesmal zum Zweiten Kongreß derselben internationalen Vereinigung. Vollkommen erneuert und verwandelt, gewappnet mit einer neuen»arteigenen« Aktentasche, die das Lehrmaterial vom»Deutschen Sozialismus« für die übrige vom Faschismus noch kulturunbeleckte Welt enthielt, spielte er den deutschen Delegierten. Heyde hatte sogar geglaubt, an einer internationalen Tagung teilnehmen zu dürfen, die ausgerechnet das Thema»Gewerkschaftsfreiheit« auf ihre Tagesordnung gesetzt hatte. Nachdem Prof. Brethe de la Gressaye-Bor- d e a u x das Wesen einer freien Gewerkschaft erläutert hatte, kennzeichnete der Vortragende als Merkmale der Koalitionsfreiheit: das Recht, einer Gewerkschaft beizutreten oder den Beitritt abzulehnen, das Recht, verschiedene Gewerkschaften zu bilden, das Recht aller Gewerkschaften, als Vertretung der Arbeiter und Angestellten gegenüber den öffentlichen Organen und den Unternehmungen anerkannt zu werden. Der Referent erwähnte als unentbehrliche Garantien der Gewerkschaften die Versammlungsfreiheit, Ihre innere Autonomie und das Recht zum Abschluß von unabdingbaren Kollektivverträgen. All diese Forderungen, die sich nachher die Tagung zu eigen machte, werden vom Dritten Reich abgelehnt. Der Delegierte aus dem Lande unbedingten Gewerkschaftsverbotes, der Unfreiheit und des Terrors hatte die Stirn, vor diesem internationalen Forum sozial empfindender Menschen seine neue Walze von der als Gewerkschaftsersatz konstruierten»Deutschen Ar beitsfront « von neudeutscher»sozialer Ehre« und ähnlichen Scherzen ablaufen zu lassen. Der Heyde schien kein Gefühl für die Schande zu haben, die diese Berichterstattung über die Nazi-Zwangsorganisation in der Kulturwelt für Deutschland auslösen mußte. Der belgische Delegierte Gen. De B r o u k- köre verabreichte dem willigen Nazi-Wissenschaftler sofort die nötige Stäubung und klärte ihn auf, was Gewerkschaftsfreiheit ist, Ebenso deutlich war der Führer der franzö sischen Gewerkschaften Leon J o u h a u x- Paris , der u. a. erklärte: »Ich kann nicht verstehen, wie man von Gewerkschaftsfreiheit sprechen kann, wenn eine Gewerkschaft gezwungen ist, den Anordnungen der Staatsgewalt Folge zu leisten. Wenn die Vertreter von der Regierung bestimmt oder gar ernannt sind, gibt es keine Gewerkschaf tsf reiheit, wenn man den Arbeltern unter bestimmten Bedingungen Brot gibt und wenn man sie ihrer Freiheit beraubt, dann Ist man nicht mehr auf der Achse der Entwicklung und der Z 1 v 1 1 1 s a 1 1 o n.« Nach diesen klatschenden Ohrfeigen verließ der Nazi-Delegierte den Kongreß, auf dem für ihn wirklich kein Platz mehr war. Damit ist der dreiste Versuch der deut schen Faschisten, sich als Vertreter der Arbeiter auf internationale Tagungen für Sozialpolitik einzuschleichen, kläglich gescheitert. Nachdem der Macher der Arbeitsfront Dr. L e y bereits 1933 die Internationale Arbeitskonferenz anläßlich der Beratungen über den Achtstundentag unter Schimpf und Schande hatte verlassen müssen, ist sein Leidensgenosse Heyde nun reif, in den Stand eines richtigen Parteigenossen versetzt zu werden. Diese armen Tröpfe scheinen indes das Rennen noch nicht aufgeben zu wollen. Die sonst so geschwätzige Nazipresse schweigt sich zwar über die Blamage von Paris weidlich aus, dagegen redet die Arbeitsfront in letzter Zeit beharrlich davon, daß»immer wieder gewisse Kreise mehr oder wenig geschickt bemüht sind, Deutschland wieder nach Genf zu bekommen.« Die Dinge liegen wohl umgekehrt. Ein Organ der DAF plaudert aus, daß doch die Berichte des Internationalen Arbeitsamtes in Zehntausenden von Exemplaren und in vier Weltsprachen go- d ruckt in alle Welt hinausgingen. Die Nazis möchjten diesen Propagandaapparat des IAA allzu gern für ihre Berichterstattung vom»Deutschen Sozialismus« mißbrauchen. Wenn das Dritte Reich erst wieder Mitglied der Genfer Institution sein würde, hätte man Gelegenheit, auch dort seine Vorzensur auszuüben. Der»Angriff« vom 10. August meint, daß nach einem Wiederanschluß die Deutsche Arbeitsfront »nicht in auch nur einer einzigen Hinsicht in Mißkredit gebracht werden darf.« Das könnte den braunen Amtswaltern so passen. Zu Hause unterdrücken, verfolgen, foltern und morden sie die Arbeiter und in den Veröffentlichungen des Intern. Arbeitsamtes verkünden sie der Welt Lob und Preis der Nazi-Sozialpolitik. Wir empfehlen dem IAA , falls es zur Aufnahmeprüfimg der Arbeitsfront kommen sollte, Heydes Leitfaden zur Sozialpolitik von 1923 zur Hand zu nehmen, um festzustellen, ob die derzeitigen Zwangsgebilde im Dritten Reich eine Legitimation bieten können, irgendwie als Arbeitnehmervertretungen für die Internationale Organisation der Arbeit anerkannt zu werden. Dieser Delegierte Deutschlands von 1924 und 1937 schrieb einst: »Die Gewerkschaften haben das Solidaritätsgefühl der Arbeiterschaft stark entwickelt, was für die Durchsetzung von Arbeitskämpfen von unschätzbarem Werte ist.« Er sagte von den Gewerkschaften, die vor ihrer Zerschlagung durch' die Nazis bestanden hatten: »Der ungeheure Druck, der auf der Arbeiterschaft gelegen hat, hat aus ihr selbst heraus den Ruf nach Silbsthilfe geweckt, hat das chaotische Gebilde der Arbeitermassen in die greifbare Form der Klassenverbände gebracht. Die Ausnutzung der Arbeitskraft über das erträgliche Maß hinaus weckte neben dem Verlangen nach der Staatshilfe zugleich den Willen aus eigener Kraft durch die planmäßige Entziehung der Arbeitskraft dem Unternehmertum entgegenzutreten, ihm die Unent- behrlichkeit des Arbeiters zum Bewußtsein zu bringen. Damals hat Heyde auseinandergesetzt, daß zwar der Händler, wenn er Salz verkauft, dabei von seiner Gesinnung nichts abzugeben hat, daß aber der Arbeiter, wenn er einer Berufsorganisation beitritt, die auf die Verwendung seiner Arbeitskraft Einfluß nimmt, »die Aufgabe hat, als ganzer Mensch einzutreten und somit gewisse Grund- gesinnungen mitbringt.« Als es in Deutschland noch Meinungsfreiheit gab, war es auch für den Sozialwissenschaftler Heyde selbstverständlich, neben und mit dem Koalitionsrecht, das Streikrecht und die Gesinnungsfreiheit zu den Postulaten der Gewerkschaft zu rechnen. Heute gibt es in der Sozialpolitik im Dritten Reich ebenso wenig eine Freiheit der Wissenschaft, wie von einer Gewerkschaftsfreiheit die Rede sein darf. Die internationale Sozialpolitik aber wird freiheitlich sein, oder sie wird nicht sein. Jßep's„(hee det Atieil** m vm(Men teseken Die soziale»Ehrengeriditsbarkeit« im Dritten Reich Um dem um auskömmlichen Lohn und hinreichende Ernährung geprellten deutschen Arbeiter ein anderes Stück»deutschen Sozialismus« vorzuschwindeln, hat Ley im vorigen Jahr die»soziale Ehrengerichtsbarkeit« einführen lassen. Der Schaumsohl ägerei der braunen Sozialscharlatane innerhalb der»Ar beitsfront « über die nunmehr wiedergewonnene»Ehre der Arbelt« konnte nicht genug sein. Tagte einmal ein»soziales Ehrengericht« und verhängte wirklich gegen einen die Reitpeitsche gegen seine Kuhtreiber gebrauchenden westpreußischen Krautjunker eine Ordnungsstrafe(früher hätte ihn wahrscheinlich der nächstbeste republikanische oder gar noch königliche Staatsanwalt beim Wickel gepackt) oder mißhandelte einmal ein Schneidermeister seinen Lehrjimgen und wurden ihm dann durch das braune Tribunal»die Eigenschaft eines Betriebsführers aberkannt« (früher hätte er wahrscheinlich eine Gefängnisstrafe wegen Körperverletzung antreten müssen), dann wurden solche Glanz- und Renommierstücke des»deutschen Sozialismus« gleich auf den ersten Seiten der Naziprease mit Schlagbalken vorgeführt. Was ist die Wahrheit? Man braucht nur die gelegentlichen freiwillig-unfreiwilligen Geständnisse anzusehen, die sich in der»Sozialen Praxis« finden. Die Strafen, die die»soziale Ehrengerichtsbarkeit« zu verhängen hat, sind folgende: 1. Warnung, 2. Verweis, 3. Ordnungsstrafe in Geld, 4. Aberkennung der Befähigung Führer des Betriebes oder Vertrauensrat zu sein, 5. Entfernung vom Arbeitsplatz. Die schwerste Strafe also, die vom»sozialen Ehrengericht« überhaupt verhängt werden kann— un<J die Verurteilung zur Erwerbslosigkeit ist sicherlich auch in einem anderen als nationalsozialistischen Staat, wenn sie dort möglich wäre, eine geradezu furchtbare und mitleidlose Strafart— trifft den Arbeiter ganz allein. Herr Ley hat hier seinen»Arbeiter der Faust« oder»der Stirn«, obschon er ihm Unsummen für sein eigenes persönliches Wohlergehen als wohlbestallter Rittergutsbesitzer abknöpft, einfach unter ein Ausnahmegesetz gestellt. Für Unternehmer ist dos mit dem der»Entfernung vom Arbeltsplatz« ja in gar keinem Falle anwendbar. Aber damit Ist es keineswegs genug! Schauerlich genug klingt das ja wohl, wenn wieder einmal einem Firmenbesitzer mit schlechtem sozialen Leumund seine »Betriebsführereigenschaft aberkannt«, worden ist. Welche meritorische Bewandtnis hat es damit? Nun, fragen wir die oben zitierte »Soziale Praxis«(neuestes Heft 34 ds): »Nun zeigt aber die Praxis, daß die besonders schwere Strafe der Aberkennung der Betriebsführerbefähigung (durch die sozialen Ehrengerichte) nicht immer als ausreichende Sühne angesehen werden kann, zumal da sie wesentliche Teile der Unternehmerfunktion bestehen läßt. Gerade solche Unternehmer, die sittlichem Denken und ehrenhaftem Empfinden unzugänglich, rein materialistisch eingestellt sind, werden zweifellos mehr in Schach gehalten, wenn sie mit der Absetzung auch noch eine empfindliche Geldstrafe befürchten müßten«. Darum plädiert der Mann der»Sozialem Praxis« dafür, daß doch diese doppelte Bestrafungsmöglichkeit endlich eingeführt werde: bisher hätten die»Gerichte« nicht so verfahren dürfen. Ob sie es mm in Zukunft und nach diesem Vorstoß eines gequälten Herzens dürfen, ist freildch die Frage. Immerhin, selbst wenn die»Soziale Praxis« sich mit ihrem revolutionären Vorstoß zugunsten größerer sozialer Gerechtigkeit im Dritten Reich durchsetzen sollte— was nicht anzunehmen ist, so lange darüber Herr General Göring als Vierj ahresplan-Obervogt in letzter Instanz entscheidet— was wäre dann die Wirklichkeit im so erneuerten sozialen»Ehrenc-Recht? Den Arbeiter darf das Gericht auf die Straße setzen und zum Hungertod verurteilen. Dem Unternehmer, dem ja»wesentliche Teile der Untemehmerfunktion«, vor allem also das Privileg, einen möglichst großen Reingewinn einzusacken, nicht genommen werden können, würde höchstens noch über die»Aber- kennungaur künde« hinaus, über die er sich im übrigen einen Ast lachen darf,©inen bescheidenen Beitrag in Form einer Zehn- oder Zwanzigmarknote zur Armenkasse zu leisten haben! Das wird er mit Hilfe des Nazitreuhänders, der ihm nur ein bißchen den bestehenden Lohntarif zu seinen Gunsten umzubiegen braucht, überstehen, ohne auf die NS- Volkswohlfahrt angewiesen zu sein. Weidmannsheil! In Oberschlesien ist die SA auf Menschenjagd geschickt worden. Ein»Hochverräter« wurde gefangen. Stabschef Lutze hat den beteiligten Häschern das folgende Schreiben gesandt: »Im Zusammenhang mit den Maßnahmen der Polizei zur Ergreifung eines flüchtig gegangenen Verräters sind vor kurzer Zeit Teile der Standarte 22 und des Sturmbanns Hl/j�ß in Gleiwitz eingesetzt gewesen. Nach einem innerhalb kurzer Zeit reibungslos vollzogenen Alarm wurden etwa 5 5 0 SA- Männer teüs zur Absperrung der nahen Grenze, teils zur Durchkämmung des Gebietes eingesetzt. Der Flüchtling, der in den Morgenstunden festgenommen werden konnte, bestätigte, daß durch den Einsatz der SA ein U eberschrei ton der Grenze nicht möglich war... Ich spreche daher allen beteiligten Führern und Männern meine besondere Anerkennung und meinen Dank aus.« 550 Bluthunde gegen einen wehrlosen, gehetzten Freiheitskämpfer. Und| dafür eine schriftliche»Anerkennung«! Man flüslert... Was passiert einem Hitler-Untertan, der sich im Jahr mehr als zwei Anzüge leistet? Er wird streng bestraft. Weswegen? Wegen-- Baumfrevels! ® cmoPraHfdjCS iTochcnblalf Herausgeber: Ernst Sattler ; verantwortlicher Redakteur: Wenzel Horn; Druck:»Graphia«; alle in Karlsbad . Zeltungstarif bew. m. P. D. ZI. 159.334/V1I-1933. Printed In Czechoslovakia . Kontrollpostamt: Poätovnl üfad Karlovy Vary 3.— Aufgabepostamt Karlsbad 3. Der»Neue Vorwärt8« kostet im Einzelverkauf innerhalb der CSR Kö 1.40(für ein Quartal bei freier Zustellung Kö 18.—). Preis der Einzelnummer Im Ausland Kö 2.—(Kö 24.— für das Quartal) oder deren Gegenwert in der Landeswährung(die Bezugspreise für das Quartal stehen In Klammern): Argentinien Pes. 0.30(3.60), Belgien : Belg . 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