Nr. 229 BEILAGE llcuecUoncMs 31. Oktober 193? Per Kampf um das AsylrediA Die Entsflielduiig in Genf   vertagt Die letzte Völkerbundsversammlung hat sich eingehend mit der Lage sowohl der deutschen   Flüchtlinge wie jener, die dem Nansenamt unterstellt sind, befaßt. Zwei Berichte lagen der Völkerbundsver­sammlung vor, der eine von dem Hohen Kommissar für deutsche Flüchtlinge, Sir Neill Malcolm, der andere von Michael Hanson, dem Präsidenten des Nansenamtes. Was sagen die Berichte? Michael Hanson, der vom Völkerbund  1936 zur»konstruktiven Liquidation« des Nansenamtes bestellt worden ist, gibt die Zahl seiner Schützlinge nach sorgsamer Schätzung auf rund 60 0.0 00 Men­schen an. Es sind dies Russen, Ar­menier, Saardeutsche, Assyrer, C h a 1 d ä e r und eine geringe Anzahl von Türken. Nicht inbegriffen in der Zahl von 600.000 sind die Flüchtlinge, die der materiellen Unterstützung des Amtes nicht bedürfen, weil sie provisorisch oder endgültig Arbeit gefunden haben.»Es verbleibt aber auch so,« teilt Hanson  mit,»eine erschreckend große Zahl von Flüchtlingen übrig, die einer wirksamen Unterstützung bedürftig sind und sie auch nach 1938 nötig haben werden, wenn man nicht will, daß sie Hungers sterben oder zu Verzweiflungstaten ge­trieben werden, und jdie deshalb eine Ge­fahr für die öffentliche Ordnung dar­stellen.« Der Bericht schildert, daß das Nansenamt 1936/37 sich allein mit 130.000 Fällen befaßt hat. Eine fluktuierende Masse, ständig von der Ausweisung be­droht, abhängig von den kleinsten Schwan­kungen des Arbeitsmarktes. Das Nansen­amt hat den Flüchtlingen kleine rück­zahlbare Vorschüsse gewährt. Zwischen 1932 und 1936 hat es 850.000 schw. Fran­ken ausgeliehen, wovon in der gleichen Zeit 272.000 schw. Franken an das Amt zurückgezahlt wurden. Das Amt verfügt über akkreditierte Delegierte in 18 Län­dern, die eine»quasi konsularische Stel­lung inne haben und denen deshalb ge­wisse Regierungen wie eigentlichen Kon­suln das Exequatur erteilt haben.« Han­ son   sagt in seinem Bericht an den Völker­bundsrat, daß diese Vertretungen für den Flüchtling von»vitaler Bedeutimg« seien. »Sie sind die Behörde, an die sich die Flüchtlinge in allen Umständen ihres Le­bens wenden. Sie unterrichten das Amt über die Lage der Flüchtlinge, über ihre Bedürfnisse: sie intervenieren zu ihren Gunsten bei den Behörden des Landes, sie unterstützen sie im Suchen nach Ar­beit, sie helfen ihnen mit rückzahlbaren Vorschüssen oder kleinen Subventionen, sie bemühen sich, die Tätigkeit der ver­schiedenen Flüchtlingsorganisationen zu koordinieren.« Der Bericht des Hochkommis­sars für die deutschen   Flücht- 1 i n g e vermag über seine soziale Tätig­keit überhaupt nichts auszusagen. Er stellt fest, daß sich im letzten Jahr die Zahl der deutschen   Flüchtlinge um schätzungsweise 16.0 00 erhöht hat, und daß etwa 3 5.000 Flücht­linge sich in den Nachbarländern Deutschlands   befinden, wovon 20.000 in einer prekären Situation sind. Mögen diese Zahlen stimmen oder mögen sie wie es uns scheint, niedrig sein, so müssen jene Flüchtlinge, die in Ueberseestaaten oder in Palästina ein provisorisches Unterkom­men gefunden haben, aber deren Situation keinesfalls als gesichert angesehen werden darf, ebenfalls berücksichtigt werden. Beide Berichte kommen zu dem Ergeb­nis, daß die Tätigkeit der höchsten inter­nationalen Schutzorganisationen der Flüchtlinge, auf der einen Seite die des Nansenamtes, auf der anderen Seite des Hochkommissars für deutsche Flüchtlinge über den vom Völkerbund gestellten Ter­min bis zum 31. Dezember 1938 hinaus­gehen müssen. Keine Einstimmigkeit! In der sechsten Kommission des Völ­kerbundes kam es im Anschluß an diese Berichte zu einer Debatte über die Frage der Verlängerung des Status des Nansenamtes und des Status für die deut­ schen   Flüchtlinge. Die Sowjetunion   lehnte nicht nur den neuen Kredit von 104.000 schw. Franken ab, sondern ihr Vertreter Stein stimmte ausdrücklich gegen die Be­willigung, während die Resolution, die sich auf die deutschen   Flüchtlinge bezog, angenommen wurde. Die Stellung­nahme der Sowjetunion   zu der Tätigkeit des Nansenamtes ist eine rein politisch bedingte. Obwohl das Nansenamt auch für Anti­faschisten, so russische Menschewiken, deutsche   Saarflüchtlinge, Armenier, As­syrier, Chaldäer usw. tätig ist, und zwar, wie es den Absichten des Gründers des Nansenamtes entspricht vollkommen un- parteüsch und nur nach sozialen Ge­sichtspunkten, wünschte der Vertreter der Sowjetunion   die Liquidation des Nansen­amtes, da das Nansenamt auch Gegner der Sowjetunion   unterstützt.»Für uns wäre es unmenschlich, die russischen Flüchtlinge preiszugeben. Mein Land weiß, was Flüchtlinge sind und allein für die spanischen   Flüchtlinge gibt es täglich eine Million aus. Mein Land kann nicht sagen, ich werde Unterscheidungen unter den Flüchtlingen machen,« so erklärte der i Vertreter Frankreichs  , Grumbach, in der sechsten Kommission. In der Völkerbundsversammlung wurde die Verlängerung des gegenwärtigen Sta­tus der Flüchtlinge bei 22 Stimmen­enthaltungen und 25 Ja-Stimmen beschlos­sen. Der nächsten Völkerbundsversamm­lung sollen endgültige Vorschläge für die Versorgung der Flüchtlinge gemacht wer­den. Wie so oft ist man der grundsätz­lichen Entscheidung in Genf   mit einem Kompromiß dieses Mal durch die Hal­tung Rußlands   bedingt das den gegen­wärtigen Status zwar verlängert, aber keine endgültige Lösung bringt, ausge­wichen. Unteilbares Asylrecht. Die Stellungnahme der Russen führt zu der prinzipiellen Frage, die bereits durch die Diskussion über den Fall des| parteilosen Kommunisten Pfempfert und der Veröffentlichung in der Zeitschrift »Die Internationale  «(Sondernummer), Seite 22, ausgelöst worden ist. Die anti­faschistische Emigration ist sich leider nicht darüber einig, daß trotz der ideologischen Gegensätze in­nerhalb derselben das Asyl­recht unteilbar auf alle Strö­mungen der deutschen   Emigra­tion, mögen sie der einen Seite gefallen oder nicht gefallen, angewendet werden muß. Wenn von den Kommunisten der Versuch ge­macht wird, der in der übergroßen Mehr­zahl der Fälle mißlungen ist, die Trotz­kisten oder was oft mißbräuchlich so ge­nannt wird, zum Beispiel in Bausch und Bogen' als Gestapo  -Agenten zu bezeich­nen und so zu argumentieren, wie es Phi­ lipp Dengel   in de"r Internationale(Son­dernummer) getan hat, nämlich: »Wenn die Trotzkisten sich als vom Pa­schismus Verfolgte hinstellen und Asylrecht In Anspruch nehmen wollen, so zeigt die Zu­sammenarbeit der...(X. Y.) mit notori­schen Gestapo  - Agenten, s« a die Trotzkisten in Wahrheit Helfer gegen die illegale Bewe­gung im Lande und Zersetzer der anti­faschistischen Emigration sind. Es darf da­her für die trotzkistischen Schufte kein Asyl- recht in den demokratischen Ländern geben«. so ist diese Art der Argumentation ange­sichts der labilen Lage der deutschen   Emi­granten schlechthin eine Todsünde»gegen den heiligen Geist« des Asylrechtsgedan­kens. Es wäre durchaus möglich, einen großen Teil der in der»Internationale« und der in der»Rundschau«. Nr. 41, Seite iW, aufgezählten Beschuldigungen auf das Maß der Wirklichkeit zurückzuführen und in manchen Fällen würde eine solche Polemik mehr die linientreuen Kommuni­sten und nicht die besudelten»Trotz­kisten« belasten. Ee genügt uns aber, hier festzustellen, daß wir Im Sinne der norwegischen An­träge, die dem Völkerbund sowohl 1935 als auch 1937 vorgelegen haben, auf dem Boden des unteilbaren A.9yJ.r.echtes stehend selbstver­ständlich die Frage der Würdigkeit stel­len, aber sie nicht aus ideologischer Geg­nerschaft beantwortet wissen wollen. Würde man nach russischem Muster in der sechsten Kommission vorgehen oder die kommunistische Auffassung gut­heißen, so bedeutet das das partielle Asyl­recht je nach den verschiedenen politi­schen Gesichtspunkten und die Jagd der verfemten Flüchtlinge über den Erdball, die Unlösbarkeit eines Problems, dessen Lösung wir in Gänze betreiben müssen, wenn wir wirklich die Interessen unserer, uns am nächsten stehenden Flüchtlinge wahrnehmen wollen. Rußland   muß helfen. Bei dieser sozialen Liquidation des Flüchtlingselends, welches vielleicht am besten, dadurch sichtbar wird, wenn wir den Unterstützungssatz eines deutschen  Flüchtlings in Brünn   mit Kc 2.60, in Prag  mit Kc 3.70, aber höchstens 5 Kc nennen, könnte Rußland   den kommunistischen  Flüchtlingen weit mehr helfen, als es dies bis dahin getan hat. In dem Organ»Einheit«, welches vom westeuropäischen Sekretariat der»Roten Hilfe« herausgegeben wird, schreibt Fr. Popper, Prag  : »Sehen wir nach einigen anderen demo­kratischen Staaten, wo ebenfalls eine Anzahl deutscher   Emigranten leben, wie diese die Asylfrage lösen. Die Sowjetunion   gab z. B. den Emigranten das Recht auf Arbeit und geht mit ihnen wie mit den eigenen Bürgern um.(?!) In der Sowjetunion   gibt es keinen arbeitslosen Emigranten, so wie es dort überhaupt keine Arbedtslosigkedt gibt. Des vollen Asylrechtes erfreuen sich die politi­schen Flüchtlinge auch jetzt, nachdem eine Reihe von Gestapoagenten und Emigranten- Trotzkisten entlarvt wurden.« Der kommunistische Schreiber scheint zu übersehen, daß Rußland   nach Art. 129 der neuen Verfassung den Werktätigen, die wegen ihrer politischen Gesinnung verfolgt werden, Asylrecht zu geben, ver­spricht. Rußland   hat von der deutschen  Emigration, deren Höchstzahl 131.000 be­trägt, nach"igen er unüberprüfbarer An­gabe 7000 Emigranten aufgenommen. Legen wir diese Zahl zugrunde, so sehen wi., daß Rußland  , das Land ohne Ar­beitslosigkeit, auf 23.000 Einwoh­ner einen deutschen   Flüchtling aufgenom­men hat, Frankreich  , ein Land mit Wirt­schaftskrise, jedoch schon auf 3000 Ein­wohner einen Flüchtling. Nach dem Flächeninhalt berechnet kommt in Ruß­ land   auf 3000 Quadratkilometer ein Flücht­ling in der Tschechoslowakei   schon auf 70 und in Frankreich   auf 39 Quadratkilometer je ein Flüchtling. Will man diese rein zahlen­mäßige Berechnung nicht gelten lassen, so kommt man doch über die Tatsache nicht hinweg, daß in den letzten 20 Monaten aus der Tschechoslowakei   z. B. nicht ein einziger Flüchtling nach Rußland   gekom­men ist, nicht einmal Kinder, Kranke oder Frauen. Jede Emigration aber braucht ein so­ziales Ventil. Nansens Tatkraft war z. B. die Ansiedlung von 1.5 Millionen aus Kleinasien   vertriebener Armenier in Grie­ chenland   und Bulgarien   zu verdanken, und drei Jahre vor seinem Tode gelang ihm die Ansiedlung von 40.000 Armeniern, die in Konzentrationslagern in Aleppo  , Alexan- drette und Beyruth waren, in Syrien  . Es genügt nicht, von den demokratischen Staaten das Asylrecht zu fordern, auch »Rußland  « muß es üben, uns scheint sogar stärker als die demokratischen Staaten. Asylrecht in der Vergangenheit. Das Recht auf Asyl für den Flüchtling ist das älteste ungeschriebene Gesetz der Menschheit. Man verstand früher unter diesem Asylrecht nicht nur das Recht, sich unter besonderen Bedingungen in einem Lande aufhalten zu dürfen, son­dern auch das Recht auf Arbeit und das Recht im Rahmen der geltenden Gesetze des Gastlandes seine Mei­nung zu sagen. Aus der klassischen Literatur kann man feststellen, daß schon die Kirchen in der Frühzeit die Einrich­tung des Asylrechtes kannten. Das Konzil von Sardica gab denen Schutz, die wegen ihrer»Religion oder Verteidigung der Wahrheit« verfolgt wurden. In England wurde 1905 anläßlich der Judenverfolgun­gen durch das zaristische Rußland das Asylrecht verankert. Lord Hugh Cecil er­klärte: »Als wir das Prinzip der Religionsfreiheit übernahmen, taten wir es im Namen der gan­zen Menschheit, und den Unterschied, den emige Leute glaubten ziehen zu müssen nicht die Regierung zwischen den eigenen Bürgern und den Fremden, war ein Unter­schied, den die englische   Geschichte nicht kannte, auch konnte er nicht auf Grund des Christentums oder der Vernunft verteidigt i werden.« Victor Hugo   gab nach der Niederlage der Kommune gegenüber der belgischen Regierung seiner Auffassung von der Un­teilbarkeit des Asylrechts in folgenden Worten Ausdruck; »Wenn pin Besiegter von Paris  , wenn ein Mann der Vereinigung, Kommune genannt, welche in Paris   wenig ausgewählt ist, und welche Ich für meinen Teil niemals billigte, wenn einer dieser Leute, und wäre es mein persönlicher Feind, gerade wenn es mein persönlicher Feind ist, an meine Tür klopft, ich mache auf. Er ist in meinem Haus, er ist unverletzlich. Wenn ein Mensch außerhalb des Gesefzes steht, lasse ich ihn in mein Haus eintreten, ich verbiete Jeden, ihn wegzusto­ßen.« Gegenwart und Zukunft. In der Gegenwart sind wir leider von diesem Ideal in der Frage des Asylrechtes weit entfernt. Regierungen, die die ver­schiedensten Ideologien vertreten, zeigen sich nicht gerade asylrechtsfreundlich. , Gewiß ist in vielen Ländern für Flücht­linge manches geschehen. Frankreich   hat seine Tradition gewahrt, und manche junge Demokratie suchte diesem Lande nachzueifern. Das Eintreten der verschie­densten Staaten im Völkerbund zugunsten der Flüchtlinge ist nicht immer mit der Praxis des Landes gleichlautend. Die Grenzen der europäischen   Länder öffnen sich nur nach langem Kampfe für Flücht­linge. Die norwegischen Vorschläge zur Lösung des Gesamtproblem� haben Hand und Fhiß, sie erstreben eine totale Lösung, eine gerechte Verteilung der Lasten und die ständige zentrale Bearbeitung der Frage beim Völkerbund. Das Nansenamt oder ein anderes zentrales Flüchtlingsamt soll die soziale und juristische Frage, ein­schließlich die der bedauernswerten Staa­tenlosen, lösen. Die Polemik eines Publi­zisten in einer Emigrantenzeitung gegen eine solche Lösung ist vollkommen unver­ständlich. Der Nansenpaß ist keineswegs minderen Wertes als der deutsche   Flücht­lingspaß, soweit er eingeführt ist, und die Tatsache, daß das Nansenamt in Berlin  eine konsularische Vertretung hat, scheint mir ein an den Haaren herbeigezogenes Argument zu sein. Das Institut für das Internationale Recht hat auf seiner letzten Madrider Tagung(Mai 1936) für ein zu schaffen­des»Oberkommissariat für alle Flücht­linge« ein Statut ausgearbeitet, daß bis auf seinen Art. 5, Abs. 2(welcher die Ab­schiebung von Staatenlosen und Flücht­lingen behandelt) vorbildlich und rich­tunggebend genannt werden darf. Eis zer­fällt in drei Teile: Im ersten Teil sind die allgemeinen Bestimmungen und Definitio­nen angegeben, im zweiten Teil werden die Rechte und Pflichten der oft übersehenen Staatenlosen behandelt, im dritten Teil die der politischen Flüchtlinge. Das Institut für Internationales Recht will die juristi­sche und soziale Sicherstellung des Flücht­lings, formuliert das unteilbare Asylrecht und scheint uns das erstrebenswerte kom­mende Flüchtlingsstatut zu sein, wenn noch den Flüchtlingen im Rahmen der Gesetze die Freizügigkeit eingeräumt wird. Der Genfer   Beschluß hat die Ent­scheidung über das Schicksal von nahezu einer Million Menschen vertagt. Wir haben die Aufgabe, die Weltdemo­kratie in den kommenden entscheidungs­vollen Monaten auf ihre Pflichten gegen­über den Flüchtlingen auf der Basis des unteilbaren Asylrechtes hinzuweisen. Das Asylrecht kann nicht fragmentarisch, nicht partiell, nicht kompromißlerisch gehand­habt werden, es bleibt ein ewiges unan­tastbares Menschheitsgesetz. Kurt Randloff.