Nr 239 BEILAGE NEUER VORWÄRTS 17. Januar 1938 Hriegsscliauplatz Imierdenteclftlaiid Au« Berichten der �ozialdeniokrsttischen Partei Beutsehland« Der Schrecken, den das nationalst)- 1 zialistische Regime in seinen Anfangs-; tagen verbreitete, diente dazu, das deutsche Volk zu entmündigen. Seit-! her ist dieser Schrecken stabilisiert und organisiert worden. Die Gewalt wütet weiter, aber jlire Aufgabe hat sich gewandelt. Nun die Entmündi­gung vollzogen ist, gilt es, das Volk in dem Zustand der Recht- und Willens- losigkeit zu erhalten und es womög­lich seine einstige Freiheit vergessen zu machen. Die bis ins kleinste ausge­klügelten Ueberwachungs- und Straf- massnahmen, durch die jede selbstän­dige Regung im Keime erstickt wer­den soll, verursachen weniger Lärm als der wilde Ueberfall in den Tagen des Staatsstreichs. Das Ausland, das 1933 beim Anblick der blutigen Grau­samkeiten erschauerte und heftig protestierte, hat sich an den deut­schen Terror als Dauerzustand ge­wöhnt. Die sorgsam beobachtete Laut­losigkeit scheint ihren Zweck erreicht zu haben. Die Welt hört nur noch, was sie hören soll: Propagandareden und Triumphgesänge. Die Vorgänge sichtbar zu machen, die sich hinter den Kulissen vollziehen, ist eine und nicht die unwichtigste Aufgabe der deutschen Emigration. Um sie zu erfüllen, bedarf es dauernder Verbin­dung mit den in Deutschland leben­den Menschen, bedarf es der Fühlung­nahme mit allen Kreisen der Bevölke­rung. Die Deutschland -Berichte der So­zialdemokratischen Partei Deutsch­ lands veröffentlichen in ihrer letzten Ausgabe(Nr. 11, 4. Jahrgang) einen Ueberblick über die nationalsoziali­stischen Terrormassnahmen der ver­gangenen Monate. Die Schilderungen aus allen Teilen des Reiches lassen klar erkennen, worum es im Augen­blickgeht. Der Grad der Volksentmün- digung könnte den Diktatoren viel­leicht für sogenannte normale Zeiten genügen. Aber sie sehen einen Gefah­renpunkt. Wie verhält sich eine mit allen Mitteln der E)inischüchterung und Brutalisierung niedergehaltene Masse im Kriegsfall? Sie wissen es nicht. Und diese Ungewissheit treibt sie dazu, eine Art ständiger General­probe zu veranstalten, d. h. Deutsch­ land schon heute in den Belagerungs­zustand zu versetzen. Das Regime ver­nichtet deshalb nicht nur erbarmungs­los die überführten oder angeblich überführten Hochverräter, sondern lässt auch jene Männer für unbegrenz­te Zeit inSchutzhaft" nehmen, die zwar keinen Anlass zur Strafverfol­gung gegeben haben, die aber aus der Vergangenheit als Antifaschisten be­kannt sind und in der Zukunft als Führer der Opposition in Frage kom­men könnten. Es sind drei Gebiete des Terrors zu unterscheiden. Der Terror gegen die illegale Opposition, der bei der Gesta­ po zentralisiert ist und an dem Ge­richte, Strafvollzugsbehördcn, SS und SA als ausführende Organe mitwir­ken, richtet sich gegen alle Gruppen, gleichgültig ob politischer oder reli­giöser Natur, dieheimlich", dass heisst unter Vermeidung ständiger Polizei- und Parteiaufsicht, gegründet und aufrecht erhalten werden. Es be­darf keiner umstürzleristhen Absich­ten. Alsstaatsfeindlich" gilt schon der Versuch, sich ausserhalb der na­tionalsozialistischen Organisationen zu einem Meinungsaustausch zusam­menzufinden. Der allgemeine Ter­ror trifft jeden Einzelnen in der Be­völkerung. Er dringt in die Familien ein, wo Kinder ihre Eltern bespitzeln, um jedes unbedachte Wort zu denun­zieren, er ist in den Gaststätten und Versammlungslokalen fühlbar, in de­nen Agents provockateurs ihre Hä­scherdienste verrichten, er umlauert die Lebensmittelgeschäfte, die bei dem herrschenden Mangel häufig zu Stät­ten derMeckerei" werden, er er­schwert den Grenzverkehr und ver­bittert jede private Geselligkeit. Eine| besondere Rolle spielt endlich der Terror gegen die Juden, der heute, da der wirtschaftliche Einfluss der jüdi­schen Bevölkerungsschicht nicht mehr ins Gewicht fällt, nur noch der Ab­lenkung aufgespeicherter Hassgefühle dient, die dem Regime selbst leicht unbequem werden könnten. Der Terror sregren die Illegale Opposition Wie alltäglich in Deutschland die Hinrichtungen geworden sind, lehrt der folgende Bericht aus Berlin , den wir wie alle nachfolgenden Zitate den Deutschland-Berichten" entnehmen: Ich habe mit einem Scharfrichter ge­sprochen. Er erzählte, dass er und seine Kollegen jetzt vom Staat eine feste Anstel ' lang erhalten haben. Es fänden täglich Exe­kutionen statt, man arbeite deshalb seit kurzer Zeit nicht mehr mit dem Hand-, sondern mi dem Fallbeil. An einem einzi­gen Tage in der dritten Juniwoche wurden allein in Köln vier Hinrichtungen vollzo­gen. Die meisten Todesurteile, so erzählte er mir, würden wegen Spionage gefällt, und zwar nach einem sehr kurzen, ober­stellen wurden noch acht Strohmatratzen auf den Fussboden gelegt." Die Lebensmittelnot, die der ganzen deutschen Bevölkerung vielerlei Entbeh­rungen auferlegt, ist in den Strafanstal­ten zu einer ernsten Gefahr für Gesund­heit und Leben der Gefangenen gewor­den. Die Eigenversorgung spiel vor allem bei den politischen Häftlingen kaum eine Rolle, und wie die Gefange­nenkost aussieht, zeigen die folgenden Schilderungen: Während in der ersten Zeit die Ver­pflegung(in einem sächsischen Zuchthaus) erträglich war, wurde sie später von Jahr zu Jahr schlechter. Reines Fett gab es zu­letzt überhaupt nicht mehr. Das Fett.das wir bekamen, schien mit Fischtran ge­mischt worden zu sein. Fünfmal in der Woche gab es Marmelade. Fleisch war eine Seltenheit...", Die Verpflegung im Gefängnis Bautzen ist unzureichend. Während meiner Haft wurde sie von Monat zu Monat schlechter. Das Mittagessen ist fettlos und nicht selten höchst unsauber zubereitet. Die Qualität des Brotes verringerte sich in den letzten Mo- | naten. Im Juli war es fast aus blanker Kleie und Maismehl, es war klebrig, von Der Flüch tling Die deutsche Sprache ist emigriert, was zurückblieb Gekreisch und Gebelle, ein jeder Satz ist mit Schminke beschmiert und trägt an der Kappe die Sahelle. Die Wahrheit flüstert, die Lüge brüllt, und der Sinn, der den Worten sonst eigen,, ist tausendfältig in Unsinn gehüllt. In Deutschland heisst deutsch sprechen schweigen. Die deutsche Sprache ist emigriert, ihr nach hetzen drohend die Schergen. Sie irrt durch Europa und hungert und friert wagt keiner den Flächt Ii, ig zu bergen. Sie hat dereinst ihre Schätze verstreut, und sie wurden mit Jubel empfangen. Der Faust, der Don Carlos, der Nathan sind heut in den Weifbesitz übergegangen. Die deutsche Sprache ist emigriert, will nichts als die Wahrheit bekennen, doch die sie im Reichtum umsahwirrt und hofieri, die wagen sie kaum noch zu nennen......... Es kommt der Tag, der sie wieder befreit, sie wird in der Not nicht verderben. Die deutsche Sprache hat% tausend Jahr Zeit nur Führer und Könige sterben. A. Lindhorst. flächlichen Verfahren. Die Oeffenllichkeil werde von den meisten Fällen gar nicht unterrichtet... Besonders auffallend sei die hohe Zahl der verurteilten Flugzeugkon­strukteure und Techniker. Der Scharf­richter lehnte es brüsk ab, sich über die Hinrichtung sogenannter Staatsfeinde und Hochverräter zu äussern. Er sagte nur, po­litische Todesurteile und ihre Vollstreckung würden fast immer bekanntgegeben." Ebenso fieberhaft wie der Henker ar­beiten Polizei und Gerichte. Die Uebcr- füllung aller Strafanstalten hat derart katastrophale Formen angenommen, dass allerorten Erweiterungs- und Neu­bauten vorgenommen werden müssen. So wird z. B. bei Gotha in Thüringen ein neues Konzentrationslager für acht­tausend Gefangene errichtet, das den Namen Buchenwald erhalten hat. Beim Aufbau dieses Lagers sind 300 Häftlinge aus dem Konzentrationslager Lichten- burg beschäftigt. Entlassene Gefangene berichten aus Bayern : In ganz Bayern sind die Strafanstalten überfüllt, und es erfolgen immer neue Ver­haftungen. Im Weidener Landgerichtsge- fängnis werden Zellen, die für zwei Gefan­gene bestimmt sind, mit sechs Mann belegt. Im Nürnberger Zellengefängnis müssen viele Häftlinge auf den Gängen liegen." Und aus Werl in Westfalen : Ich lag in einem Baume, der für vier Personen berechnet, aber mit zwölf Mann belegt war. Zu de'n vier vorhandenen Bett­ganz dunkler Farbe und erzeugte oft Ma­genbeschwerden..." Das Essen im Untersuchungsgefängnis Breslau ist schlecht. Drei- bis viermal in der Woche gibt es Graupen in Wasser ge­kocht, sonst Mehl- und Haferflockensuppen. Als Abendbrot wird meistens trockenes Brot und sogenannter Kaffee verabreicht, Sonntags bisweilen ein Harzerkäse oder für zwei Mann ein Hering..." Im Gerichtsgefängnis Erfurt war das Es­sen besonders schlecht. Es gab früh ein Stück Brot undKaffee", Mittags einen Li­ter Suppe mit Erbsen, Bohnen oder Linsen und etwa zwei Karoffeln darin und abends wieder Suppe. Die Suppen wurden von uns Einlaufsuppen genannt und konnten, da sie fast nur aus Wasser bestanden, getrunken werden..." ..Schwere Erkrankungen sind die Fol­ge der körperlichen Schwächung, Er­krankungen, die bei der mangelhaften Pflege häufig zu Todesfällen führen. Die älteren Gerichtsbeamten, die aus der Vorhitlerzeit übernommen wurden, benehmen sich den Gefangenen gegen­über in den meisten Fällen korrekt. Sie werden aber immer mehr von neu einge­stellten SA- und SS-Leuten verdrängt. mit denen der berüchtigte Konzcntra- tionslagergeist auch in die Gefängnisse einzieht. Im Gefängnis Bautzen z. ß. kommt es fast täglich zu Misshandlun­gen: Bunker gibt e sbei den geringsten Ver­stössen, z. B. für Sprechen während des Spazierganges erstmalig 3 Tage und im Wiederholungsfall 8 Tage. 28 Tage Bunker erhielt ein Gefangener, weil er seine Frau, die ihn besuchte, zum Abschied küsste. In diesen 28 Tagen nahm der Gefangene 22 Pfund ab und musste nach Vcrbüssung der Strafe sofort in ärztliche Behandlung ge­nommen werden... Die unteren Beamten, besonders die neueingestellten, schikanie­ren die Gefangenen und schlagen sie in der Zelle. Die Prügelstrafe ist dasErziehungs­mittel", mit dem die Politischen für das Dritte Reich gewonnen werden sollen. Ge­prügelt wird mit Rohrstöcken und Ochsen­ziemern. Die Prügelstrafe kann auch offi­ziell verhängt werden... Die Schreie der im Keller Geschlagenen sind oft in den Zel­len zu hören." Ein Häftling aus dem Untersuchungs­gefängnis Breslau erzählt: Der Direktor beschimpft die Gefangenen, die ihm vorgeführt werden, in den gemein­sten Ausdrücken:Strolch, Schuft, Landes­verräter, Judenschwein, Marxistensau". Die Wachmannschaften befleissigen sich des gleichen Tones. Aber sie tun mehr, sie schlagen bei jeder Gelegenheil rücksichtslos mit dem Gummiknüppel drein. Die Hilfs­wachtmeister Winkler und Winzek be­nützen sogar ihr Seitengewehr als Prügel­instrument. Der Hilfswachlmeister Reiner tritt die Gefangenen mit seinen schweren SA-Stiefeln in Leib und Rücken." Die politischen Häftlinge werden in allen Gefängnissen srhlechter behandelt als die Kriminellen. Vor allem sind sie von der Aussenarbeit ausgeschlossen, die in der Eintönigkeit des Gefängnisle­bens eine Erleichterung bedeutet. Viele von ihnen werden nach Verbüssung ih­rer Strafe in ein Konzentrationslager ge­schafft und dort nach Willkür auf un­bestimmte Zeit festgehalten. Der allgremelne Terror Die Grenzkontrolle ist im Laufe der Zeit derart verschärft worden, dass die Grenzbevölkerung das Gefühl hat, in einer Art Kriegszustand zu leben. Be­sonderes Aufsehen erregt der Bau von Zollhäusern", die rund um Deutsch­ land , hart an der Grenzlinie und tn grosser Zahl, errichtet werden. Sie ha­ben betonierte Keller, kasernenartige Räume und sind offensichtlich für mili­tärische Zwecke bestimmt. Der Grenzverkehr wird durch Pass­und Zollschikanen in jeder Weise er­schwert. Aus Südwestdeutschland wird denDeutschland-Berichten" geschrie­ben: Aus Bobental wurde gemeldet, es gäbe in der dortigen Gegend keine Grenzgänger mehr. Alle hätten in Deutschland Arbeit finden können. In Wirklichkeit wurde die­sen Leuten die Grenzkarte zwangsweise ent­zogen, so dass sie ihre lohnende Arbeit im Elsass aufgeben mussten und jetzt gezwun­gen sind, sich unter schimpflichen Bedin­gungen ins rechtsrheinische Gebiet ver­frachten zu lassen... Seit etwa einem Jahr ist der Ausflugsverkehr nach Stras­ bourg vollständig stillgelegt." Viele Ausländer wundern sich noch immer darüber, dass sie von deutschen Reisenden auf allerlei Fragen recht ein­silbige Antworten zu bekommen pfle­gen. Der folgende Bericht aus Mittel­ deutschland macht diese Einsilbigkeit vielleicht begreiflicher: Ein Angestellter aus der Stadt X., der zur Pariser Weltausstellung fahren wollte, halte sich auf ein Inserat bei einem Pari­ser Quartiergeber angemeldet. Er wurde dort auch aufgenommen und bei der An­kunft sofort von einem anderen Deutschen begrüsst, der behauptete, beim Bau des Pa­villons tätig gewesen zu sein. Dieser andere Deutsche stellte sich als Führer zur Verfü­gung und halte es sehr eilig, zu erfahren, wo der Angestellte beschäftigt sei, was für französische Bekannte er habe usw. Da der Angestellte perfekt französisch spricht, brauchte er den Führer nicht und konnte sich der aufdringlichen Begleitung entzie­hen. Umso erstaunter war er, als er nach seiner Rückkehr aus Paris den Besuch eines Gestapobeamten erhielt, der sich nach sei­nem Umgang mit Emigranten erkundigte. Er sei beobachtet worden, als er diePari­ser Tageszeitung" gelesen habe. Der Mann, der in einem kriegswichtigen Betrieb ange­stellt war, erhielt nach der Pariser Reise die Kündigung." Das Bedienungspersonal in den Deut­ schen Gaststätten wird von der Gestapo zur Angeberei gezwungen und erhält für