Nr 244 BEILAGE
NEUER VORWÄRTS
20. Februar 1938
Ja, die Lawine kam in Seliuss
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Vor Deiiiizls: tlaliren:«tolzer Februar 1&48
Im nächsten Jahr, am 14. Juli 1939, wird Frankreich das hundertfünfzigjährige Jubiläum seiner Grossen Revolution feiern. Wir aber haben allen Anlass, schon in diesem Jahre uns des neunzigsten Gedenktags der Februarrevolution von 1848 zu erinnern, weil sie die erste war, die sich auf Deutsch land unmittelbar übertrug. Die Ver- ständnislosigkeit, mit der das deutsche Volk der Grossen Revolution gegenüberstand, ermöglichte erst die dynastische Intervention und wurde so zur anfänglichen Ursache der Kriege, die bis zum Sturze Napoleons Europa erschütterten. Die Julirevolution von 1830 blieb auf der anderen Seite des Rheins ohne Wirkung. Erst beim dritten Schrei des gallischen Hahns begann Deutschland zu erwachen und sich den Schlaf aus den Augen zu reiben. Als am 24. Februar 1818 der Bürgerkrieg Louis Philipp stürzte, waren alle wachen Geister von einer Vorah- nung des Kommenden erfüllt. Eine grosse Versammlung deutscher Emigranten in Paris beriet die— von Marx bekämpfte— Idee, ein Expedi- honskorps auszurüsten, um die Revo lution über die Grenze zu tragen.„Ja, die Lawine kam in Schuss", jubelte Ferdinand Freiligrath und prophetisch wies er ihr die Bahn: Sie rollt, sie springt. O Lombardei. bald fühlst auch du ihr Wälzen. 1 ngnrn und Polen macht sie frei, Durch Deutschland dröhnen wird ihr Schrei, t nd kein Bunnstrahl kann sie schmelzen. Glückliche Prophezeiung! Drei Wochen später ist Meilernich auf der b lacht. Auf dem Schlossplatz in Ber- bn zieht Friedrich Wilhelm IV. vor den Toten des 18. März seinen Hut. So ist die französische Februarrevo- hition für uns Deutsche ein trostreiches und ermutigendes Kapitel der Ge- sohichte. Wir waren im Sozialen lange den Franzosen voran, im Politischen aber leider immer hinter ihnen, und darum können wir noch mancherlei Non ihnen lernen. Rekapitulieren wir nur ein paar Da- 'c* aus dem Schulbuch: Erste französische Republik; 1792—1804, zweite von 1818-1852, dritte von 1870 bis beule. Alle republikanischen Perioden Frankreichs sind zunächst von bluti- Klassenkämpfen erfüllt. Verelen- dete Massen, vom politischen Druck befreit, aber durch die Revoluliouswir- len zunächst in tiefere Not gestossen, ■cvoltieren. Sie versuchen die neuen politischen Formen mit einem sozia- � Inhalt zu füllen, der sie sprengen droht. Die zweite Republik mündete Schon nach zehn Monaten in die Dik- '"dur, Wej[ sje von Klassenkämpfen '�rissen war. Als wir im Jahre 1918 d'e erste deutsche Republik errichtc- ten. hofften wir ein Gebilde geschaffen /a haben, das es mit der dritten fran zösischen Republik an Lebensdauer �ürde aufnehmen können. Erst später Warden wir dessen gewahr, dass wir � der Schule der Revolution höchstens ''ftun Ji angelangt waren, aber nicht Jeim C. Es ist aber gar keine Frage, !'l8s wir das Alphabet weiter buchsta- ''eren werden und dabei werden uns ächf nur unsere eigenen Erfahrun- zugute kommen, sondern auch die ' Franzosen . Ror Kampf gegen das Bürgerkönigs-
tum war zunächst weniger ein Kampf für die Republik als für das allgemeine gleiche Wahlrecht. Sein Erfolg war, dass an die Stelle von zweihunderttausend Privilegierten neun Millionen erwachsene Männer traten, die das Parlament zu wählen hatten. Das allgemeine gleiche Wahlrecht wirkte aber keineswegs zugunsten derer, denen das Volk seine Eroberung verdankte. Zu den Wahlmisserfolgen, die sich. die Sozialisten und linken Republikaner holten, trug zweifellos in starkem Masse das Experiment der Nationalwerkstätten bei, mit dem man das Recht auf Arbeit zu verwirklichen versuchte. Dieser Versuch konnte nichts anderes als ein dilettantisches Unternehmen sein, weil es ein Gebiet betrat, auf dem noch alle Erfahrungen fehlten. Auf die Stimmung der Bauern und Kleinbürger hat es aber ähnlich gewirkt wie die Arbeitslosenversicherung der deutschen Republik auf die gleichen sozialen Schichten, und von vielen Arbeitern wurde es vorerst noch gar nicht recht verstanden. So fielen die Wahlen zur Kammer schlecht aus. Und die Strassenschlachl vom 21. Juni vollendete das Verhängnis. Bei der Präsidentenwahl am 10. Dezember 1848— wer denkt da nicht an das Duell Hindenhurg— Hitler?— war die Linke schon so geschwächt,
dass sie praktisch ausgeschaltet war: gegen den Junischlächter General Ca- vaignac stand, der Putschist und Abenteuerer Louis Bonaparte , der den Bauern Steuerfreiheit und Brechung der Zinsknechtschaft versprochen hatte, ein Mann den kein zünftiger Politiker ernst nahm. Aber dieser Bonaparte siegte über Cavaignac mit sechsfacher Uebermacht. Auch die Arbeiter stimmten für ihn. Sie entschieden damit gegen den Unterdrücker von gestern für den Despoten von morgen. Sehr bald nach dem„glorreichen Februar" war die demokratische Revolution und der Sozialismus in ganz Europa so gründlich geschlagen, dass fast niemand mehr an ihre Auferstehung glaubte. Und sicher fehlte es bei dieser Niederlage auch nicht an„eigenem Verschulden". Mau kann den französischen Arbeitern vorwerfen, dass sie sich, nachdem der politische Druck von ihnen genommen war, zu sehr beeilt hätten, die Gunst der politischen Lage zur Besserung ihrer elenden sozialen Verhältnisse auszunutzen, oder aber auch, dass sie auf halbem Wege stehen geblieben seien. Man kann von den Sozialisten sagen, dass sie mit geringer Erfahrung gewagte Experimente unternommen und damit den Sozialismus kompromittiert haben, oder aber auch, dass sie zu wenig konsequent, zu wenig prinzipiell und zu leichtgläubig gegenüber den Bür gerlichen
gewesen sind. Aber was hilft es, die Weltgeschichte zu schulmeistern! Politische Ereignisse, zumal Kriege und Revolutionen, sind noch immer vorwiegend Naturvorgänge, die von menschlichen Verstandeskräften nur unzureichend kontrolliert und be- einflusst werden. Kein Wunder, dass die Erfahrungen der Geschichte besonnene Arbeiterführer am Segen der Gewalt zweifeln gelehrt haben. Immer mehr ist bis in die Reihen der Kommunisten hinein die Ueberzeugung Gemeingut geworden, dass auch die sogenannte„formale" oder bürgerliche Demokratie eine gewonnene Position im proletarischen Klassenkampf ist, die nicht preisgegeben und nicht leichtfertig gefährdet werden darf. Wo aber brutale Gewalt jede Aussicht auf friedlichen Aufstieg versperrt hat, bleibt nichts anderes übrig, als der Appell an jene Elcmentarkräfte, die seit 1789 in Frankreich und anderwärts oft zurückgeschlagen, aber immer wieder vordringen, die Kräfte des Despotismus siegreich überwanden. Sie werden sich auch in Deutschland wieder erheben und das Werk vollenden, das in den Jahren 1848 und 1918 begonnen worden ist, den Bau einer Demokratie, die den Weg zu einer Neuordnung der Wirtschaft und Gesellschaft im Geiste des Sozialismus frei macht. F. St.
Dn� Dtoraliselie Krieg�iiotential
An demselben 4. Februar, an dem in Berlin die Krise der Reichswehr zur Entladung kam, spielte sich, in Prag ein ganz anders gearteter, wenig beachteter Vorgang ab. Zu einem Publikum, das vorwiegend aus sozialdemokratisch gesinnten Deutschen der Tschechoslowakei bestand, sprach in deutscher Sprache der Oberst im Generalstab Moravee, ein Militärfachmann von europäischem Ruf, über das Thema„Verteidigung eines kleinen Staates". Obwohl die Vorgänge in Deutschland mit keinem Wort berührt wurden, stellt der Vortrag in seinem positiven Inhalt eine vernichtende Kritik des gegenwärtigen deut- schen Systems dar. Oberst Moravee führte u. a. aus: „Ich glaube nicht an einen isolierten Krieg auf dem europäischen Festlande. Dieser Glaube hat Oesterreich-Ungarn irregeführt, als es im Jahre 1914 Serbien überfiel, in der Annahme, dass Russland und Frank reich vor Deutschland zurückschrecken werden, das versprach, die österreichische „Strafexpedition" mit seinem Schwerte zu schützen und so den Konflikt auf eine Grossmacht zu beschränken, welche vor den Augen des durch die deutschen Kriegsrüstungen in Angst versetzten Europas einem kleinen Staat die Kehle zuschnüren wollte. Der künftige Krieg wird ein Krieg grosser Koalitionen sein. Die Verpflichtung der Staatsmänner kleiner Staaten wird dabei sein, ihr Land in den Block einzugliedern, welcher siegen wird. Und siegen werden diejenigen, die ideell und wirtschaftlich die Stärkeren sein werden. Kriege ähneln nämlich ein wenig dem Fieber, das nur ein gesunder Organismus und ein gesundes Herz erträgt. Ein geniales Hirn mit schwachem Herzen überlebt das Fieber eines Krieges nicht. Der geniale Hannibal endete durch Selbstmord als Geächteter in der Verbannung, der geniale Napoleon ging auf einer verlassenen Insel mitten im Ozean zugrunde, der geniale Karl XII. verliert in einem türkischen Asyl den Verstand, nachdem er von Peter dem Grossen hei Poltawa besiegt worden
ist. Hervorragende Köpfe, aber schwache Herzen. Das Zusammenwirken der Führung und der Werte, welche im Kriege verteidigt werden, ergibt das, was wir das moralische Kriegspotential nennen können. Es ist dies das Zusammenwirken der Ideen, für die wir uns schlagen, mit den Fähigkeiten derer, die uns führen. Je mächtiger die Idee ist, desto stärker flammt in jedem Bürger die Opferwilligkeit auf und desto grösser ist daher auch das moralische Kriegspotential. Das grösste moralische Potential ist die Idee, für welche jedes Glied der Gesamtheit bereit ist. das Leben einzusetzen. Zu der Idee, um die gekämpft wird, muss sich eine möglichst grosse Zahl der Glieder des kriegführenden Kollektivs bekennen. In der Strategie genügt es nicht, die Hochöfen, die Ausbeute an Kohlen und Erz, die Naphfhauuellen und die wehrfähigen Männer zu zählen. Es muss auch darauf gesehen werden, in wessen Diensten diese Kraft steht und was sie dem Menschen von morgen verheisst: Fesseln oder Freiheil, Hunger oder Wohlstand, Müssig gang oder Arbeit. Die Entwicklung zeigt, dass mit dem Fortschritt der Zivilisation und der humanitären Ideen bei den unterworfenen und zurückgebliebenen Nationen die Sehnsucht nach Freiheit und das Be- wusstsein vom Werte der Freiheit wächst, wie wir oben in China sehen. Eine gute Strategie bedarf einer Politik, welche allen Völkern die Hand reicht, eine antiimperialistische Politik, eine Politik, welche den eigenen Staat in das grosse Kollektivum der Friedensfreunde, das Kol- lektivum der Gefährdeten einreiht. Eine gute Strategie Bedarf einer Politik, welche die heutige verworrene Welt vor allem wirtschaftlich und sozial reorganisieren hilft. Der Kampf um Brot und Arbeit, der Kampf für die Freiheit der Unterdrückten das sind Faktoren, die einmal auch strategisch ausgezeichnete Früchte fragen werden. Wenn wir nicht bloss uns verteidigen, können wir mit der Hilfe derer rechnen, deren Rechte wir durch unseren Widerstand unterstützen. Dass Frankreich nach dem Sturz Napoleons HI. zum politischen Erbe der grossen Revolution zurückkehrte, erwarb ihm die Sympathie der ganzen fortschrittlichen Welt. Der Krieg muss also strategisch gut vor
bereitet werden, indem wir eine gute Innenpolitik treiben, damit für die Ehre, unser Bürger zu sein, freudig und stolz das Leben eingesetzt werden kann. Wir bereiten ihn vor, indem wir eine gute Aussenpo- litik treiben, die der Welt unsere kulturelle Reife zeigt, unseren Sinn für Gerechtigkeit und gesunde Entwicklung der Menschheit. Auch wenn heute irgendeine Grossmacht die Rolle Oesterreichs nach der französi schen Revolution spielen wollte, wenn es ihr gelänge, eine neue heilige Allianz gegen den Fortschritt zu stiften, wird das nur eine Episode von einigen Jahren sein. Sie wird die Partie verspielen, wie das Oesterreich Metternichs sie verspielt hat. Auch den Metternich des 20. Jahrhunderts erwartet die Verbannung. Die Strategie eines kleinen Staates kann nicht dort ihre Kraft schöpfen, wo alle Ideen elektrisiert werden. Die Strategie eines kleinen Staates muss sich der Sonne zuwenden, die über allen gleich leuchtet, der Sonne der Gerechtigkeit und Freiheit, die keine bevorzugten oder minderwertigen Völker, keine Unterschiede der Rasse kennt, sondern einzig und allein Brüderlichkeit bei gleichen Rechten und Freiheiten. Ein kleiner Staat, welcher gross ist in der internationalen und in der inneren Politik, gibt seinem Soldaten, der seine Sicherheit verteidigen soll, grosse Güter in die Hand. Mit ihnen lässt sich kämpffen auf Leben und Tod. Mit ihnen kann man, wenn sich die Elemente vorübergehend gegen uns verschwören, zurückweichen, aber niemals kapitulieren." Der Vortrag lässt ahnen, mit welchen überlegenen moralischen Mitteln der Krieg gegen das Dritte Reich geführt werden wird, wenn seine Beherrscher wirklich toll genug sein sollten, es darauf ankommen zu lassen. Die Opposition in der deutschen Armeeführung erklärt sich ja zum grössten Teil aus dem Wissen, dass Hitler ein moralisch und materiell zugrunde gerichtetes Deutschland in einen Krieg gegen übermächtige Feinde zu führen droht und dass unter der Hakenkreuzfahne Siege nicht zu gewinnen sind.