Die wirkliche Stiaimung� Wie der Crewaltstreich gewirkt hat
Die Berichte, die den„Deutschlandberichten der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands " aus allen Teilen des Reiches über den Eindruck der Annektion Oesterreichs zugegangen sind, geben ein einheitliches Bild. Zunächst in allen Teilen der Bevölkerung ungeheuere Ueberraschung, dann sofort Bestürzung und Furcht, selbst in nationalsozialistischen Kreisen. Ueberall fürchtet man internationale Verwicklungen. Angesichts der sichtbar werdenden Teilmobilisie- rungsmassnahmen geht überall die Kriegsfurcht um. In gedrückter Stimmung, mit Zittern und Zagen, sieht das Volk zu. Dann erfolgt die hefürch- tefe Reaktion des Auslandes nicht. Die Abkehr Englands vom Dritten Reich , die politische und moralische Ein- busse, die das Dritte Reich durch den Gewaltstreich erlitten hat, wird dem Volke nicht sichtbar. Nun erst bricht der hemmungslose Rausch und Jubel der Nazianhänger hervor, und zu ihnen gesellt sich jener Teil des Bürgertums, der aus grenzenloser Angst nun ins andere Extrem verfällt und sich nun spreizt:„Wir sind stark, wir können alles!" So ist die Folge eine tiefe Depression in allen demokratischen Kreisen Deutschlands — während der objektive Beobachter von aussen an diesen Stimmungsschwankungen erkennt, wie wenig fest der Kitt des nationalen Rausches ist, und wie leicht das Volk bei einem offenbaren Misserfolg ganz anders reagieren kann. Wir lassen zunächst einen Bericht aus Ostsachsen folgen: „Das Vorgehen Hitlers gegen Oesterreich kam uns allen überraschend. So wie die Dinge sich entwickelt haben, so überstürzend kann niemand im Dritten Reich denken und sich mit neuen Tatsachen abfinden. Die Bevölkerung war deswegen vorerst bestürzt und fast fassungslos. Sie ging in die angesetzten Naziversammhingen, um zu hören, was geschehen war und was weiter die Entwicklung bringen könnte. Alle Städte und Orfschaften in Sachsen waren in„grossem Flaggenschmuck". In den Betrieben wurde am Montag und Dienstag nach den Vorgängen nichts erwähnt, die Leute haben sich damit abgefunden, dass Hitlers Aktionen sich programmässig abwickeln und ereifern sich nun nicht mehr weiter. Wer auch nur ein abfälliges Wort oder Urteil über die Dinge fallen lassen würde, der käme bestimmt wegen Landesverrat vor das Volksgericht. Deshalb schweigen die Leute überhaupt, das ist aber das bestimmteste Zeichen, dass unter der Arbeiterschaft kein hundertprozentiges Einverständnis mit der Räuberpolitik des Hillerdeutschlands vorhanden ist. Lediglich am Sonnabend morgen, bei Bekanntwerden der Okkuppation Oesterreichs herrschte unter den Arbeitern eine sehr erregte Stirn. mung, weil man bestimmt mit einem Kriegsausbruch rechnete." Aus Schlesien wird gemeldet; „In Görlitz und den grösseren Städten Niederschlesiens herrschte über die Dinge in Oesterreich die allergrösste Aufregung unter der Bevölkerung. Man wollte einfach nicht glauben, dass sich die„Gleichschaltung" Oesterreichs so glatt und ohne Blut- vergiessen vollzogen habe. Die Ursache dieses Misstrauens war, dass im Görlitzer Bezirk, auch in anderen Bezirken, wie Kohlfurt, Kottbus , Breslau , Oppeln , seit dem 4. März grosse Truppenzusammenziehungen stattgefunden hatten. U. a. wurden ausgesuchte SS- und SA -Leute zu besonderen Stürmen zusammengestellt, die am 8. März in Breslau gesammelt und erneut auf den Führer vereidigt wurden. In der Ansprache bei der Vereidigung betonte der Oberste SAF, dass ein jeder Einzelne nunmehr mit seinem Leben für den Führer einzustehen habe.
Diese Stürme, insgesamt 8000 Mann, sind nach dem Bezirk Nassau gekommen und von da nach Oesterreich . Heute ist nun die ganze Sache wieder einmal glatt erledigt und die Meinung unserer Genossen und Freunde geht dahin, dass dies in Oester reich eine gut vorbereitete Sache, verbunden mit Hoch- und Landesverrat heute sehr geachteter politischen Persönlichkeiten, gewesen ist. Wir staunen, dass diesen Hitlerdiplomaten alles, aber auch alles durchgeht. Wir sind alle der Meinung, die wir hier im Grenzgebiet wohnen, dass die Uhr der Tschechoslovakei bald aufgehört hat zu schlagen, sie ist das nächste Ueber- fallgebiet, das sind die 3 Millionen Rest- deutschen, die das Hitlersystem noch nicht verschluckt hat." Aus Baden: „Eine ungeheure Ueberraschung brachte der 11. und 12. März für die gesamte Bevölkerung. Man ahnte zwar etwas, es lag etwas in der Luft, aber erst in der Nacht vom 11. auf den 12. erfuhr man Näheres. Der erste Eindruck war allerorts; Jetzt gibt es etwas! Nicht nur unsere früheren Genossen, sondern viele, die nicht eingefleischte Nazis sind, erwarteten ein Einschreifen Englands und Frankreichs . Ueberall, in Mannheim , Karlsruhe . Bruch sal , Heidelberg usw. wurde dieser Meinung Ausdruck gegeben bis tief in rechtsstehende Kreise hinein. Die eingefleischten Nazis und die löprozentigen Mitläufer jubilieren und nehmen den Mund übervoll. Das Stillschweigen von Frankreich und England, wie der ganzen Welt wirkt sich jet/l in Deutschland als eine ungeheure Strrkung des Kriegswillens aus. Das Volk ist in seinem nationalsozialistischen Teil in den Wahn hineingeraten, sich alles erlauben zu dürfen. Die ganze Welt hätte Angst vor ihnen. Am 13. März wurde in einer Wirtschaft auch über die Stellung der Schweizer Zeitungen diskutiert. Da meinte ein Amtswalter der Nazis, der mit dabei sass:„Die sollen jetzt nur ruhig sein, sonst machen wir es mit ihnen, wie wir es mit Oesterreich gemacht haben". Dass die Tschechoslovakei die nächste Beute sein wird, ist die Allgemeinauffas- sung des Volkes, ganz gleich, welcher politischer Ansicht über das System." Von Rhein und Ruhr: Hitlers ungehemmter Verstoss hat in der Bevölkerung an Rhein und Ruhr viel mehr Verblüffung als Jubel im ersten Augenblick ausgelöst. Mit dem Einsetzen der starken deutschen Agitation gegen Schuschniggs Abstimmung und der schnell folgenden hochoffiziellen Drohungen, mit der Abschiedsrede Schuschniggs vor dem Wiener Radio und der Machtübernahme durch j Seyss-Inquart , dem Ruf nach der deutschen Armee, den Mitteilungen von den ersten Grenzübertritten durch deutsche Truppen;
— und durch die sich überall herumsprechenden Mobnisierungsmassnahraen bei den aktiven Truppen in allen westdeutschen Garnisonen, stieg in der gesamten hiesigen Bevölkerung an Rhein und Ruhr die Spannung, eine beklemmende Angst stieg auf. Kein Jubel! Wo es zu einer unbesorgten Freude über die deutschen Siegesmeldungen aus Oesterreich kam, handelte es sich um unbesorgte jüngste Nazijugend in organisierten Kundgebungen. Auch die älteren Nazis waren viel mehr erschreckt als freudetrunken, weil auch bei ihnen das Gefühl folgender schrecklicher Ereignisse vorherrschte. Panikgespräche über plötzliche Luftbombardements, Abschätzungen der gegenseitigen Kräfte, der Bruch der Achse Berlin— Rom, das Jammern von Müttern um ihre Söhne beim Heer, nervöse Ratschläge über Schutzmassnahmen bei Luftangriffen seitens alter Frontsoldaten usw. usw. erfüllten die ängstlichen Stunden in Westdeutschland. Als aber das Echo ausblieb, als feststand, dass sowohl Frankreich wie England auch diesmal Hitler unbeschränkt gewähren Messen, kam bei nationalen Bürgerlichen ein Nationalstolz auf, man wurde auf seine Armee kindlich stolz, fand, dass Hitler ein Teufelskerl sei, der geradezu Europa kommandiere und der nun auch vor der Tschechoslovakei nicht Halt machen werde. Diese Kreise fanden nun, dass Frankreich doch tatsächlich ein jämmerlicher Haufen von Zerrissenheit und jüdischer Feigheit sei, England aber sich im Geheimen mit Hitler über seinen Sprung nach Oesterreich vorher geeinigt habe. Chamberlain wurde ein Nationalheld der deutschen Nationalisten. In unseren Arbeiterkreisen ist tiefe Niedergeschlagenheit die erste Folge gewesen. In den Städten waren amtliche Jubelkundgebungen organisiert. Sie waren alle sehr schlecht besucht. Ausser den geschlossenen Formationen von HJ , BdM. SS, SA usw. war ziviles Publikum fast nicht erschienen. In einem Ort von CO 000 Einwohner waren auf dem Marktplatz bei der Siegesfeier gut gerechnet 1200 Menschen. So war es auch im Verhältnis in den Gross- slädten. In den Betrieben herrschte kalter Aerger. Aus Rheinland-Westfalen: „Die Stimmung, die durch die neuen Ereignisse ausgelöst wurde, ist schwer zu beschreiben. Eines nur ist vorerst sicher: Das Ansehen Hitlers ist im Reiche ungeheuer gesteigert worden. Und da man im Innern ohnmächtig zusehen muss, wie die wahnsinnigste Gewalt jede oppositionelle Stimme niederhält, blickt man nach draussen und wundert sich nur über eines: Dass die Welt nicht sieht, wohin sie kommen wird, nachdem sie Hitler tausendfach und restlos alles tun lässt, was er in seinem ..Mein Kampf " angekündigt hat. Dieselbe Welt, die der untergegangenen ersten deut schen Republik die Daumenschrauben an-l
gesetzt und beim geringsten Verstoss gegen die Verträge sofort mit den schärfsten Repressalien und Konsequenzen gedroht hat! Kein Wunder, wenn da manchen, der bis jetzt unerschütterlich fest und hoffnungsvoll blieb, der Fatalismus ergreift. Hitlers innerpolitische Macht beruht seit Jahren nur auf seinen aussenpolitischen Erfolgen, das sieht jeder Mensch in Deutschland , der sich bemüht, klar zu sein. Immer wenn die innerpolitische Unruhe am höchsten gestiegen war, kam ein sogenannter aussen- politischer Grosserfolg. Und je mehr die Spannungen st.egen im Reiche, um so gros. ser wurde das Wagnis, das Hitler einging. Oesterreich isi unter diesem Gesichtspunkt gesehen, der bisher grösste Erfolg Hitlers . Von jetzt ab gibt es wahrscheinlich keine irgendwie nennenswerte Opposition mehr gegen neue Abenteuer. Das Land ist jetzt völlig darauf vorbereitet, dass der„Führer" alles kann, wenn er will." Vom Niederrhein : Von der Entwicklung völlig überrascht, standen die Menschen am ganzen Samstag in den Strassen und warteten auf immer neue Nachrichten aus Oesterreich und aus der Welt. Natürlich gab man dem deutschen Volke nur das, was es nach Meinung der jetzigen Meister haben durfte. Aber man war trotz alledem sehr gespannt auf die Reaktion in der Welt, weil jeder instinktiv fühlte, dass hier etwas geschah, was eventuell schwere ausscnpolifische Folgen haben konnte. Viele waren natürlich mit ihrer Bewunderung für den Führer sofort zur Hand und die eingefleischten Nazis konnten sich nicht genug tun in ihrer Bewunderung für Hitler. Aber es gab und es gibt auch heute noch Leute, die da sagen:„Wenn das nur gut geht". Vorläufig hat erst mal wieder der Nationalsozialismus stimmungmässlgen Auftrieb. „Hitler ist unüberwindlich, niemand kann ihn mehr aufhalten auf seinem Wege" da« ist allgemeine Meinung und oft hört man, warum die Republik sich zum Beispiel nicht auch einfach über alle Bestimmungen der Friedensverträge hinweggesetzt habe. Das ist das Bedenklichste an der ganzen Entwicklung, dass jetzt auch an sich vernünftige Leute wankend werden in ihren Grundauffassungen von der Völkerverständigung. Hitler demonstriert der Welt, dass man nur die grosse Klappe zu haben braucht und die nötige FrechheTt, dass man nur Angst einzuflössen braucht und alle Welt hält still. Natürlich bleibt bei ruhigem Nachdenken von all diesen Erwägungen nichts übrig. Dass aber überhaupt unter ruhigen und politischen Menschen solche Gedanken auftauchen können, spricht für den beispiellosen Eindruck, den alles das macht, was Hitler durch sein Draufgängertum zu erreichen vermag." Diese Berichte, von denen wir einige Auszüge gegeben haben, werden ganz ausführlich in den„Deutschland-Berichten" der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands veröffentlicht werden
Hinderten« 09 Prozent Wer Walilterror zum IO. April Aus Gleiwitz wird uns berichtet: Nach Berichten, die aus dem gesamten Industriegebiet hier vorliegen, befürchten die Naziorganisationen, dass die Begeisterung trotz der Annexion Oesterreichs nicht ausreicht, um dem System die gewünschte lOOprozentige Zustimmung zu bringen. Die Werksverwaltungen sind unter der Leitung der Kreisleitungen der Arbeitsfront eingesetzt worden, um den Belegschaften darzulegen, welche Bedeutung der Entscheidung vom 10. April vor der Weltöffentlichkeit zukommt. Der Führer erwartet, dass mindestens 99 Prozent der Stimmen für ihn aufgebracht werden. Und so durchzieht eine Welle von Belegschaftsversammlungcn und öffentlichen Versammlungen die Naziorganisationen. Es müssen mindestens 99 Prozent aus den Wahlurnen herausgebracht werden, dafür sind die„Wahlleitungen" ihren vorgesetzten Instanzen verantwortlich. Man hat den Blockwaltern, den Amtsleitern und den Politischen Leitern beigebracht, dass sie für die erforderlichen 99 Prozent verantwortlich sind. Die Blockwalter haben bereits mit der„Erforschung der Stimmung" begonnen. Familie um Familie wird aufgesucht und darüber befragt, wieviel Flugblätter sie zur Verteilung übernehmen wolle, es wird nachgefragt, welche Familie man im Bereich des Blockwarts als
noch nicht ganz für den Führer gewonnen annehmen könne, welchen Bekannten aus der nächsten Umgebung oder Freund man zu ihr schicken könne, damit sie sich noch besinnt und für den Führer die Stimme abgibt. Es sind schon heute Listen hergestellt von Leuten, die man bei der letzten Wahl erst in den Nachmittagsstunden zur Wahl herangeholt hat. Diese Leute werden schon nach dem 1. April aufgesucht, um ihnen begreiflich zu machen, dass sie als die ersten bei der Wahl erwünscht sind, würde man sie wirklich wieder heranholen müs-j sen, so sei das ein Beweis, dass sie immer! noch nicht begriffen haben, dass wir im neuen Deutschland leben! Es ist für die Stimmung im Nazilager he. merkenswert, dass die Blockwalter, in der Mehrzahl alte Kämpfer, ihren Leitungen keinen Hehl daraus machen, dass die Stimmung durchaus nicht so ist, dass man mit 100 Prozent rechnen könne. In einer Glei- witzer Tagung der Amtsleitcr sagte einer der Teilnehmer frei und offen, mit Oester reich ist uns nicht geholfen, die Leute erwarten Lohnerhöhung, die wenigstens die Preissteigerung ausgleicht. Es wird sowohl aus Beuthen -OS, als auch aus Hindenburg von den Nazifunktionären übereinstimmend der Kreisleitung der Arbeitsfront berichtet, dass der Anschluss Oesterreichs an Deutschland bei den breiten Arbeifermassen gar keine Begeisterung ausgelöst habe, denn man sehe doch, dass
selbst die SA nicht vollzählig bei den veranstalteten Kundgebungen vertreten war, Ein Hindenburger Verlrauensrat stellt fest, dass in einem Werk der weiterverarbeitenden Industrie von einer Belegschaft von etwa 1000 Menschen zur Kundgebung der Werksverwaltung für die Wahlen höchstens 60 bis 80 Mann vertreten waren und nicht einmal alle SA-Leute, die in diesem Betrieb untergebracht sind. Aus der Umgebung von Beuthen erzählt einer der Vertrauensräte. dass die Kumpels überhaupt nicht zur Be- legschaftsversammlungen bleiben, denn sie hätten ja Ueberschichten zu verfahren und wollten doch auch frei sein, um ihren Garten zu bearbeiten, sonst hätten sie im Sommer überhaupt nichts zu fressen. Die Kreisleiter Mulz-Beuthen und Jonas-Hjnden- burg. sowie Ring-Gleiwitz versuchen vergeblich. diese Stimmung zu bekämpfen. Sie sagen, das höre sich ja an, als wenn die Marxisten von 1932 sprechen würden. Die Amtsleiter hätten dafür zu sorgen, das« mindestens 99 Prozent herauskommen oder ..die Kreisleitung müsse feststellen, dass gewisse Elemente in unseren Kreisen sich schon jetzt ausreden wollen, wenn die 100 Prozent nicht erreicht werden." In der Arbeiterschaft und der Geschäftswelt weiss man, dass die Wahlen so gemacht werden, dass 99 Prozent für Hitler erreicht werden. Aber selbst in Nazikreisen lächelt man, wenn von einer freien Abstimmung gesprochen wird. Die 100 Prozent sind heute schon sicher.