JOURNAL ANTIHITLERIEN
Journal social-democrate destine aux refugies de langue allemande
Wochenblatt NOUVEL"EN AVANT!" Hebdomadaire en langue allemande Redaktion und Verlag: 30, Rue des Ecoles, Paris -5. Telephone: Odeon 42-58
Nr. 333. SONNTAG, 5. November 1939
Aus dem Inhalt: Soll Deutschland bolschewistisch werden? Prix: ITrs. l,SO
Eine Niederlage Hitlers Amerikaiiisclie Hilfe für üie B�emokratieift
Kurz nach dem grossen diplomatischen Erfolg, den England und Frank reich mit dem Abschluss des türkischen Vertrages erzielt haben, haben sie einen neuen Erfolg zu verzeichnen: der ame rikanische Senat hat am 27. Oktober mit der unerwartet grossen Mehrheit von 63 gegen 30 Stimmen das neue Neutralitätsgesetz angenommen, das in wochenlangen heissen Debatten hart umstritten worden war. Der Kampf ging im wesentlichen um eine Bestimmung: Um die Aufhebung des Verbots der Waffenausfuhr. Die Neutralitätsgesetzgebung der Ver einigten Staaten ist noch jungen Datums. Das erste eigentliche Neutralitäls- Sesetz kam im August 1935 nach Beginn des abessinischen Kriegszustandes zustande. Es enthielt im wesentlichen Unr das Verbot, Waffen und Munition un Kriegführende zu verkaufen. Im Frühjahr 1937, nach Ausbruch des spa- uischen Bürgerkrieges, kam es zu dem tus jetzt geltenden Neutralitätsgeselz. öas Gesetz hielt das Waffenausfuhrver- tot bei, untersagte die Gewährung von Anleihen oder Krediten an Kriegführende und fügte die„Cash and carry"- Flausel hinzu. Diese besagt, dass Während eines Krieges alle zur Ausfuhr in ein kriegführendes Land be- stimmten amerikanischen Waren bar bezahlt sein müssen, bevor sie das Gebiet der Vereinigten Staaten verlassen dürfen; sie dürfen fexmer nicht von ameri kanischen Schiffen befördert werden, ändern müssen von den Schiffen der kriegführenden von den amerikanischen ffäfen abgeholt und nach ihrem Lande franspoi'tiert werden. Dieses Beföi'de- rungsverbot durch amerikanische Schiffe soll verhindern, dass amerikanische Schiffe auf hoher See von einer kriegführenden Macht angehalten oder versenkt werden und die Vereinigten Stau fen dann vielleicht zur Intervention gezwungen würden. So wie es war, war das Gesetz eine Benachteiligung Englands. Das Verbot der Waffenlieferung beraubte es eines Svescntlichcn Vorteils, den ihm der Besitz der Seeherrschaft gegenüber Deutschland verleiht. Es benachteiligt aber auch alle kleinen Staaten, die gar nicht in der Lage sind, ihren Kriegsbedarf an Waffen und •funition selbst herzustellen; sie sind emem Angreifer wehrlos ausgeliefert, Sobald ihnen die Möglichkeit genommen Nyird, auch im Krieg Waffen und Muni- f'on zu erhalten. Von Anfang hatte Roosevelt eingesehen, dass das Waffenausfuhrverbot die kriegstendenzen Hitlers verstärkt. Die f-eberlegenheit, die sich Deutschland in dem von ihm gewählten Zeitpunkt des kriegsüberfalls etwa in der Luftwaffe Erschafft hätte, könnte um so länger �Udauern, je unmöglicher es Frankreich ünd England gemacht würde, die ame rikanische Rüstungsindustrie zur Dek- küng ihres Bedarfs heranzuziehen. Mit ■'Osserordentlicher Energie und Zähigkeit suchte deshalb Roosevelt eine Aen- derung des Gesetzes durchzusetzen. In einer Botschaft zu Beginn dieses Jahres erklärte er dem Kongress:„Wir haben |ke Erfahrung gemacht, dass unsere •"eutralitätsgesetze sich in ungleicher
und unbilliger Weise auswirken, dass sie sogar einem Angreifer die Hilfe leisten, die sie seinem Opfer entziehen". Roosevelt , der sich zum Unterschied von vielen anderen Staatsmännern über Hitlers Kriegswillen nie getäuscht hatte, wollte vor allem Deutschland warnen, das er kurz vorher in öffentlicher Rede als potentiellen Angreifer bezeichnet hatte. Er wollte deshalb eine Neufassung des Neutralitätsgesetzes, die dem Präsidenten die Befugnis gibt, bei Ausbruch eines Konflikts ein bestimmtes Land als Angreifer zu bezeichnen. Diesem Angreifer würden dann alle Hilfsquellen der Vereinigten Staaten gesperrt werden. Bei der Abneigung des Senats, die Machtbefugnisse des Präsidenten zu erweitern, war die Durchsetzung einer solchen Bestimmung wenig aussichtsreich. Deshalb konzentrierte Roosevelt
seine Bemühungen auf die Beseitigung des Waffenausfuhrverbotes. Aber auch diese Bemühungen scheiterten im Juli dieses Jahres an dem Widerstand des Senats. Es war eine sehr gemischte Gesellschaft von Isolationisten, die jede Einmischung der Vereinigten Staaten in europäische Angelegenheiten ablehnen, von unbedingten Pazifisten, aber auch von Leuten, die der Hitlerpropaganda unterlagen, die sich Roosevelt entgegenstellten. Vor allem aber waren es die Gegner seiner Sozial- und Wirtschaftspolitik, die dem verhassten Präsidenten eine Niederlage beibringen wollen. Sie höhnten über seine Kriegsbefürchtungen und erklärten sie als künstliche Mache, um Panik zu erzeugen, in der Roosevelt seine zweite Neuwahl durchsetzen wolle. Das Waffenausfuhrverbot blieb bestehen, und die Nationalsozialisten jubel
ten über die Niederlage ihres Feindes Nr. 1. Roosevelt Hess sich nicht einschüchtern. Er kündigte schon damals die Einberufung einer ausserordentlichen Kon- gressitzung im Fall eines Kriegsausbruchs an und diesmal hat er die bisherigen Widerstände überwinden können. Dazu hat freilich auch Hitler nicht wenig heigetragen. Der Ueberfall auf Po len , die infame Kriegsführung, die Torpedierung des englischen Passagierschiffes Athenia, bei der so viele Amerikaner ums Leben kamen, haben in den Verei nigten Staaten eine Stimmung erzeugt, die den Isolationisten und ihx-en Gefolgsleuten einen weiteren Widerstand nicht ratsam erscheinen Hess. Dazu kam noch die merkwürdige Angelegenheit der „City of Flint", des amerikanischen Transpox-tschiffes, das ein deutscher
Arbeitsverweigerung; in lassen Am 14. Oktober 1939 berichtet Goerings National-Zcitung von einer Verhandlung vor dem Sondergericht Essen . Es heisst in dem Bericht: „An einem Septembertage verlangten beide zweistündigen Arbcitsurlaub, der aber dringender Arbeiten wegen verweigert werden musste. Zwei Stunden vor Beendigung der Arbeitsschicht legten sie einfach die Arbeit nieder und versuchten, das Werk zu verlassen. Das schlethte Beispiel veranlasste auch verschiedene andere Arbeiter zur Arbeitsniederlegung". Was dann kam, darüber schweigt das Blatt. Mit welchen Mitteln der Streik gebrochen wurde, ist lediglich zu schliessen aus jener Stelle des Prozessberichtes, wo es heisst, dass die Rädelsführer aus der Untersuchungshaft vorgeführt wurden. Sie erhielten je fünf Monate Gefängnis, weil sie die„Schlagkraft des Heeres und die Sicherheit des Volkes gefährdet haben". Die innere Front In einem Aufsatz„Rechenfehler" in der Reichsausgabe der„Frankfurter Zeitung " vom 20. Oktober 1939 wird die Festigkeit der„deutschen inneren Front" versichert. Das deutsche Volk habe sich durch die Erfahrung aus dem Weltkrieg klar gemacht, dass auch in der Heimat vieles weiterlaufen müsse wde bisher, aber offenbar geschehe das jetzt viel bewusster als damals. Männer im wehrfähigen Alter würden jetzt kaum einmal darauf angesprochen, warum sie in der Heimat und nicht an der Front seien. Man wisse genau, dass es eben auch hier wichtige Arbeit gebe, die nicht zurückgestellt werden könne. Offenbar soll dadurch die Hcimkrieger- tätigkeil der SS dem deutschen Volke sympathisch gemacht werden. Besonders entzückt wird darüber der Reichsinnenminister Dr. Frick sein, der sich im Reichstag gegenüber den sozialdemokratischen Frontkämpfern einmal damit entschuldigte, er sei im Weltkrieg eben da gestanden, wo ihn sein König hingestellt habe, nämlich hinter dem warmen Ofen im wohligen Amt. Die„innere Front" scheint aber schon einiger Stützung zu bedürfen. Die„Frank furter Zeitung " spricht nämlich die Mahnung aus, das Bild von der„inneren Front' dürfe nun nicht gerade dazu verleiten, alles
militärisch zu betrachten und mit militärischen Massen zu messen. So sei zwar die Arbeitslenknng ohne Zweifel den Entscheidungen des sog. wirtschaftlichen Generalstabs unterworfen und bis zum letzten den Erfordernissen der Kriegswirtschaft ange- passt worden. Auch könne bei der Besetzung von Arbeitsplätzen der einzelne Mann keineswegs mehr nach seinen Wünschen und Bedürfnissen gefragt werden. Staatssekretär Syrup habe aber mit Recht die Behörden kürzlich ermahnt, sie sollten sich bewusst sein, dass sie eine Verantwortung auch gegenüber den Menschen trügen, dass sie über Menschen und Familienschicksale entschieden. Die Behörden und die Belriebsführer wüssten auch davon zu erzählen, welche unliebsamen Begleiterscheinungen es mitunter habe, wenn ein Mensch nicht auf dem Platze stehen könne, den er nach seiner Eignung am besten ausfüllen würde. Wenn man bedenkt, mit welcher Vorsicht in den Zeitungen des Dritten Reiches an vorhandene Misstände gerührt werden darf, kann man sich ungefähr vorstellen, welches Mass von Unzufriedenheit durch die behördliche„Lenkung des Arbeitseinsatzes" d. h. durch die Zwangsbewirtschaftung von Menschen entstanden sein muss, wenn ein leibhaftiger Staatssekretär Syrup sich veranlasst sieht, die behördlichen Zwangsmassnahmen zu versüssen und Beschwichtigungsformeln zu murmeln. Vereorgrungrsnttio In ihren Reichsausgaben vom 17. und 20. Oktober 1939 behandelt die„Frankfurter Zeitung " die deutsche Versorgungslage nach Einführung der Zwangswirtschaft. Im ersten Aufsatz wird gerühmt, Deutschland habe im Gegensatz zu den anderen kriegführenden Ländern unmittelbar an das bereits Vorhandene anknüpfen können und bleibe auf einer Linie, die allen Beteiligten bereits seit Jahren vertraut sei(1). Die bürokratische Regelung im Verteilungsapparat funktioniere ganz ausgezeichnet. Das hätten ausländische Besucher in den ersten Kriegswochen wieder mit Erstaunen festgestellt. Deutschland habe heute einen sehr hohen Grad der Selbstversorgung erreicht. Die Kohle werde für den Export von gröss- ter Bedeutung werden,„weil sich vielleicht nicht alle Besonderheiten auf dem Gebiete der Fertigwarenerzeugung" würden aufrechterhalten lassen.
Im Gegensatz zu diesem Lob auf den „ausgezeichneten Verteilungsapparat" steht einigermassen die bewegte Klage einer Hausfrau in der Ausgabe vom 20. Oktober 1939, in der etwas aus der Schule geplaudert wird. Die Aermste wollte im Vorbeigehen die leere Milchflasche im Laden abgeben— er war aber geschlossen. Sie wollte eine feuerfeste Glasschale besorgen, allein an der Ladentüre stand:„Verkauf nur von 10— 1 Uhr und von 4— 6 Uhr". Die geplagte Hausfrau muss nun ihre Pläne für das Abendessen der Familie wieder ändern — offenbar wegen der Glasschale— aber sie tröstet sich damit, dass der Geschäftsinhaber und seine junge Frau eben jetzt so viel zu tun haben,„wo manche Lieferungsschwierigkeit besteht". Ein wenig ärgerlich wagt sie aber doch zu sein. Und sie wünscht sogar eine grössere Einheitlichkeit der Geschäftszeiten, weil das„die allgemeine Bereitschaft, unvermeidliche Einschränkungen und Umstellungen gern auf sich zu nehmen, nur fördern könnte". In der gleichen Nummer vom- 20. Oktober 1939 wird rühmend hervorgehoben, dass man in der Lebffnsmittelverteilung seit Kriegsbeginn schon die dritte Etappe des Kartensystems zurückgelegt habe. Noch vor Abschluss des zweiten Kriegsmonats werde das Verteilungssystem seine endgültige Form angenommen haben. Dies sei für jeden Staatsbürger ein sicheres Zeugnis dafür, dass er gut umsorgt sei.„Sollte etwa jemand daraus", so heisst es dann wörtlich, „dass sich in den ersten Wochen des Krieges in dem Kartensystem einiges geändert hat, schliessen wollen, die verantwortlichen Stellen seien eben doch nicht vorbereitet gewesen", so sei das ein gröblicher Irrtum. Man habe zwar auch eine Kartoffelkarte bekommen,„während im Ernste niemand daran dachte,' bei der Aufeinanderfolge mehrerer guter Kartoffelernten auch noch hier zu rationieren." An der inneren Front Deutschlands seien somit alle Vo- raussstzungen für eine dauerhafte Festigkeit gegeben, das sei der grosse Unterschied zu der Lage von 1914. Nun, so dauerfest scheint die Kartoffelkarte und die erste„Etappe" der Lebensmittelversorgung gerade nicht gewesen zu sein. Man hat fast den Verdacht, die „Frankfurter Zeitung " wagt sich über die Bürokratie und die herrschende Unordnung ein wenig lustig zu machen.