JOURNAL ANTIHITLERIEN
Journal social-democrate destine aux refugies de langue allemande
Wochenblatt NOUVEL"EN AVANT!" Hebdornadaire en langue allemande Redaktion und Verlag: 50, Rue des Ecoles, Paris -5. Telephone: Odeon 42-58
Nr. 336. SONNTAG, 26. November 1939
Aus dem Inhalt.: Eine Reise in Deutschland Der Kampf degen die Neutralen Hakenkreuz über Polen l*ri<:(rrs. l.*>o
Das Hitlersystem ist umklammert, sein Schicksal ist besiegelt. Es schreckt vor grossen militärischen Unternehmungen gegen seine wohlgerüsteten Gegner zurück. Dafür hat sich seine Brutalität gegen die Schwachen und Wehrlosen entfesselt. Die Todesopfer fallen nicht an der Front, Gefangene werden nicht auf dem Schlachtfelde gemacht, sondern im Innern Deutschlands und in den unterjochten Ländern. Allmählich hebt sich der Schleier, der den innerdeutschen Terror seit Kriegsbeginn bedeckt hat. Viele Tausende von Oppositionellen, darunter viele bekannte Sozialdemokraten, füllen die Konzentrationslager. Seit dem Münchner Attentat sind Massenverhaftungen und Erschies- sungen vorrgenommen worden. In Mün chen allein sind 5000 Personen verhaftet worden, allnächtlich wird iiiL Ge fängnis Stadelheim erschossen. Blut fliesst in Strömen an der inneren Front. In Polen spielt sich eine furchtbare Volkstragödie ab, ein ungeheueres Verbrechen, dem gegenüber die Niederhaltung Belgiens im Weltkriege, die Füsi- 'ierungen, die Deportationen der belgischen Arbeiter verblassen. Der Massentötung von polnischen Zivilisten, Frauen Und Kindern, während der Eroberung, folgt der systematische Vernichtungsfeldzug gegen das polnische Volk durch üie Eroberer nach. Man kann die Blut- 0pfer des polnischen Volkes nicht wählen und nicht schätzen. Man kann sie lur voll Grauen ahnen. Erkennbar ist, 'uit welcher systematischen Grausamkeit <las polnische Volk aus seinen Städten Und von seinem Boden vertrieben wird. Das Schicksal der Bevölkerung von Städten wie Warschau , Posen und Lodz ist grauenvoll. Das sind keine Begleiterscheinungen des Krieges, das ist ein vorgefassler, systematischer Ausrot- tüngsfeldzug gegen ein Volk. In der Tschechoslowakei rast der Terror. Das Hitlersystem weiss, dass am Ende des Krieges die Herrschaft der Eroberer zu Ende, das tschechische Volk Nieder frei sein wird. Die T Schechen bissen es auch. Sie wissen aber auch, üass sie nicht gegen die schwerbewaffneten Besatzungstruppen kämpfen können, 'üe begnügen sich mit friedlichen De- •nonstrationen ihres nationalen Unab- bängigkeitswillens. Eben deshalb hat das System den blutigen Terror gegen sie entfesselt. Seit dem 28. Oktober, dem tschechoslowakischen Nationalfeiertag, verhaftet und mordet die Gestapo . In •len letzten Tagen ist ein wilder Ausbruch der Barbarei und des Vernichtungswillens erfolgt. Die schwerbewaffneten Banden Hinimlers sind über di» Zivilbevölkerung hergefallen. Massen- Verhaftungen von Studenten und Pro- tessoren, zwölf Erschiessungen von Studenten und Polizeioffizieren zeigen, wo- rauf der Terror abzielt— auf die Lnl- �auptung der tschechischen Intelligenz. Auch das ist ein systematisch vorbedachter Terrorfeldzug, bestimmt, das tsche- cbische Volk zu schwächen und auf 'ange Zeit hinaus zu schädigen. Dazu Kriegsrecht in Prag und Umgebung, viele Mausende Verhaftungen in wenigen lagen— das ist der brutale, verbrecheri-
gegen ein ganzes
sehe Massenterror Volk. Wir wissen, dass diese Barbarei ein Zeichen der Schwäche ist. Sie zeigt, auf wie schwankendem Boden das Hitlersystem in Deutschland steht, und auf wie unsicherem Grunde seine Eroberungen ruhen. Aber wir können uns bei dieser Erkenntnis nicht beruhigen. Wir sehen diese Verbrechen des Systems mit Entsetzen. Wir sehen, welche Empörung und welches Grauen sie in der ganzen Welt hervorrufen. Aber das Grauen, das uns überkommt, hat eine besondere Note. Wir denken an den Tag nach der Niederlage des Hitlersystems, und wir fragen uns: In welcher Lage wird das deutsche Volk nach so ungeheuren Verbrechen seiner jetzigen Regierung dann sein? Wir hoffen auf die Kräfte des Friedens und der Vernunft im deutschen
Volke, auf die gleichen Kräfte und auf die Kraft der Versöhnung bei allen Völkern. Wir wissen ohnehin, dass das deutsche Volk einen schweren Beitrag für die Herstellung eines dauernden Friedens wird leisten müssen, wir sehen darin eine moralische Verpflichtung des deutschen Volkes. Aber wir denken mit Grauen an das ungeheuere Schwergewicht, das die Verbrechen des Systems für den Tag danach haben werden, wir wissen wohl, dass der Hass, den es sät, verhängnisvoll werden kann. Wenn nach dem Kriege Polen und die Tschechoslowakei wieder hergestellt werden— wird es dann noch eine deut sche Minderheit in Polen geben, wie wird das Zusammenleben von Tschechen und Deutschen sein? Werden dann die Kräfte der Versöhnung ohnmächtig sein gegenüber einem übermächtigen Schrei
mach Vergeltung? Hitler hat den Frieden zerstört, er hat das deutsche Volk in den Krieg gelrieben— seine Verbrechen im Kriege bedrohen den künftigen Frieden, bedrohen das deutsche Volk auch für die Zeit nach dem Sturze Hit lers . Das polnische und das tschechische Volk können heute in ihrem tiefsten Martyrium voll Zuversicht auf den Tag der Befreiung hoffen— das deutsche Volk aber geht einer schweren Zukunft entgegen. Das ungeheuere Verbrechen Hillers wird noch lange nachwirken, im Inneren Deutschlands wie im Verhältnis des deutschen Volkes zu anderen Völkern. In der Hand des deutschen Volkes selbst liegt es, dass der Weg zu wahrem Frieden, der Weg zur Versöhnung nicht versperrt wird. C. G.
Ein Volk, flow wartet llerielit über eine Refoe in Reufscliland
Eine Reisende aus einem neutralen Lande, die kürzlich Deutschland besucht hat, gibt uns den folgenden Bericht über die Stimmung in bürgerlichen Kreisen: „Ich habe meine alte Heimat nicht mehr wiedererkannt, weder die Städte, die mir einmal vertraut waren, noch die Menschen, die mir nahestanden. Das war nicht mehr Deutschland für mich, sondern ein fremdes und fast geheimnisvolles Land, mit einer Physiognomie, die verzerrt war von Unrast, 'Unsicherheit und Angst, ohne dass ich im" 'stände wäre, eine genaue Definition dieser Erscheinungen zu geben. Von der alten österreichisch-schlesischen Grenze bis nach Breslau hatte ich eine viel- stündige Verspätung. Es war in den Tagen, als sehr viele Truppen von Osten nach .Westen mit Geschützen und Fouragen ge- iworfen wurden. Auf jeder kleinen Station Imussten wir lange warten, um Militärzüge jpassieren zu lassen. Von fröhlicher Solda - jtenstimmung habe ich nirgendwo etwas zu sehen oder zu hören bekommen. In ziem- llich verwahrlosten Uniformen drängte man sich auf den Bahnsteigen und versuchte an den Büffets etwas zu kaufen. Alles hatte anscheinend Hunger und Durst. Aber noch tiefer als die Soldaten beeindruckten mich meine Mitreisenden. Zwei Bäuerinnen mit Kopftüchern, ein junger Mann, der sich in Breslau zu stellen halte und eine städtisch gekleidete Frau in tiefer Trauer mit einem Kinde waren in meinem Abteil. Ich versuchte das stundenlange Schweigen meiner Mitreisenden durch einige gegen Polen gerichtete Bemerkungen zu brechen. Nur die (beiden Bäuerinnen stimmten mit einem apathischen Kopfnicken zu. Als ich dem Kinde ein paar mitgebrachte Bonbons schenkte, sagte die Mutter:„So etwas gibt es bei uns nicht mehr." Man hatte offensichtlich Furcht davor, mir, der aus dem Auslände kommenden Reisenden, auch nur ein einziges Wort zu sagen, das die wahren Empfindungen verraten könnte. Und dies war die entscheidende und die eindrucksvollste Beobachtung, die ich dann später in schlesischen und sächsischen Städten, kleinen und grossen gemacht habe. Selbst meine Verwandten verschlossen sich bei aller Wiedersehensfreude lange vor mir, wobei allerdings nicht immer zu erkennen war, ob bei dieser Zurückhaltung die Furcht vor möglichen Unannehmlichkeiten oder eine in jahrelanger Schweigsamkeit
(gezüchtete geistig-seelische Stumpfheit vorherrschte. Dies gilt vor allem für gedemütigte und gequälte Juden. Ein entfernter Verwandter von mir, Arzt in einer kleinen schlesischen Stadt, war ins Konzentrations lager Buchenwald gekommen und wurde dort derart misshandelt, dass er wenige I Wochen nach seiner Entlassung starb. Immer wieder versuchte ich Einzelheiten zu | erfahren, aber ich erreichte nicht mehr, als eine Schilderung der äusseren Umstände
zuhäufig beim Kleinhändler„ausverkauft" sind. Auf mich, die ich aus einem Lande mit Nahrungsmittelüberfluss kam, haben die„praktischen Winke für die deutsche Hausfrau", die die Ortssender jeden Morgen empfahlen, einen besonders starken Eindruck gemacht. An einem Montag wurde von der Sprecherin als sättigendes, wenn auch gänzlich fettloses Hauptgericht für den Mittagstisch eine Braunbiersuppe angeraten, ein Gemisch von Bier, einem viertel Liter
seines Todes. Nicht nur die Angst, dass man Milch, einer Prise Zucker und einer Prise womöglich zuviel sagen könnte, lähmte die Salz. Dabei wurde empfohlen, das Gericht Zungen. Ich bemerkte zu meinem Erstau- 1 möglichst so, wie es vom Feuer kommt, zu nen, dass neben diesem Bangesein das essen,„weil bei Abkühlung die Milch leicht Trommelfeuer der Propaganda gegen das gerinnt". Am gleichen Tage sollte der Abend- Ausland, das an allem und nun auch am tisch bestellt werden mit Kartoffeln, Kriege schuld sei, das Weltbild vieler stark Aepfel -Meerrettichaufstrich und Möhren- beherrschte. Manche lehnten sogar ab, quark. Kurz darauf wurden Waschmittel mich überhaupt anzuhören; schon dies er- zum Seifenersatz angepriesen: Kartoff el-
schien ihnen gefährlich.
schalenwasser für feinere Wollsachen, Schlemmkreide zum Waschen von Fenstern und Türen, ein Aufguss von Efeublättern für jede Wäscheart. Der Clou aller Waschmittel aber waren Aufgüsse von geriebenen Kastanien, wobei besonders empfohlen wurde, die Schale mitzureiben. Diese Rezepte lassen erkennen, wie es um Deutschland zu Beginn des dritten Kriegsmonats steht, und ich habe mich
Das Leben in den Strassen von Breslau , Leipzig und Dresden erschien mir sehr verändert. Der Autoverkehr ist sichtbar eingeschränkt; er wird beherrscht von den Wagen der Offiziere und der höheren Chargen der SS und der SA , die anscheinend ungeheuer beschäftigt sind. Die Passanten sind wie von einer geheimen Hetze gejagt, gewundert, dass die nationalsozialistische abgesehen von der Jugend, die sich wenig Propaganda derartige Ansagen durchgehen Sorgen macht. Besieht man die Auslagen Jässt. Man muss die Engelsgeduld oder bes- der Geschäfte, so scheint nach alles ,,da"|Ser die Abstumpfung der deutschen Frauen zu sein. Aber die bunten Schachteln, die in bewundern, die sich solche Wundermittel den Schaufenstern der Kolonial warenge- mit erbittertem Ernst anpreisen lassen. Ich Schäfte, der Konfitürenläden, der Zigarren- habe wiederholt versucht, offene Meinungsgeschäfte usw. verlockend ausliegen, äusserungen herauszufordern, und die Frage sind grösstenteils nur Atrappen. Die hüb-! der Sc/mW an diesen Zuständen zur Diskus- schcn Kleider, Anzüge und Schuhe, die man sion zu stellen. Zuletzt bleibt immer wieder mit Preisangaben von stattlicher Höhe die Stimmung des ohnmächtigen Treibenlas- sieht, gibt es meist nur gegen Bezugschein.' Sens übrig;„Was können wir tun? Es ist Frei kaufen kann man eigentlich nur noch ff, en heute so, und jeder muss sich helfen, ausgesprochene Luxusartikel, geschliffenes i„ie er kann." Glas, kunstgewerbliche Bijouterien, Bilderl Dieses Sichtreibenlassen, verbunden mit und Figuren aller Art. Aber alles, was aus der Hoffnung, dass„die andern" etwas tun, Leder hergestellt ist, gehört bereits zu den(damit sich die Zustände bald ändern— das Raritäten.(ist das charakteristische Merkmal der vor- Hauptgesprächsthema ist, wie ich es herrschenden Stimmung. Dabei muss man selbst in sogenannten gebildeten Familien die Einschränkung machen, dass man mit vermeintlichen„höheren" Interessen selbst bei alten Freunden nie das Gefühl hat, beobachtet habe, das Essen — ein Problem dass sie vollkommen offen und wahrhaftig voller Martyrien, besonders für die ältere 1 reden. Ist es nur die Angst, sich mit dem Frau, die sich immer auf der Jagd nach Le-| Bekenntnis seiner wahren Meinung miss- bensmitteln befindet. Das gilt auch für die liebia zu machen. Misstrauen mir ge- durch Karten rationierten Waren, die all- genüber als„Ausländer", oder sind