|».247. 21. It&tjmij. 2. IfjldgfErster allgeminer deutscher Mohuuugskongreß.Frankfurt a. M., 18. Oktober.Die Sitzung am Dienstag begann mit derBesprechung des preußischen Wohnungsgesetz-Entwurfs.Referent Reichstags-Abgeordnetcr Jäger erörterte dieeinzelnen Bestimmungen des Entwurfs. Der Entwurf ist allerdingsein großer Vorteil, aber eine grundsätzliche Hebung der Wohnungs-Verhältnisse wird er allein nicht herbeiführen. Wohl sichert erMindestansprüche an die Wohn- und Schlafräume, gibt wichtigesozialpolitische Winke für die Aufteilung des Bodens, die Be-bauungspläne, die Bauordnungen und die gemeindliche Steuer-Politik, aber er hat kein Mittel, gerade auf dem letztgenannten Ge-biete die Gemeinden zu veranlassen, gegen die Sonderinteressen derGrund- und Hausbesitzer zu handeln. Daß neben dem Entwurfdas preußische Kommunalwahlrccht bestehen bleibt, ist dergrößte Fehler. Sozialpolitische Gesichtspunkte größeren Stilsmüssen in die Gemeindeverwaltungen gerade dadurch hineingetragenwerden, daß die Minderbemittelten, um deren Interessen es sichbei der Wohnungsfrage am allermeisten handelt, mehr als bisherzur Verwaltung der Gemeinden herangezogen werden. An zweiwichtigen Punkten geht der Entwurf achtlos vorbei, an der Organi-sation des Baukredits für die Bedürfnisse der minderbemitteltenKlassen und an der Bodenfrage. Kommt das Gesetz, wie dringendzu wünschen ist,, zustande, so wird die gesetzliche Wohnungsaufsicht,wenn sie nicht Schein und Trug werden soll, vermöge der Mindest-ansprüche an die Wohnungs- und Schlafräume und an die Familien-Wohnungen, viele überfüllte Wohnungen leerer. Gewiß ist dasGesetz in gewissem Sinne ein Polizeigesctz sSehr wahr!), aber esist nötig, denn die Gemeinden haben bisher nichts getan.(Leb-hafter Widerspruch.) Die Wohnungsaufsicht wird auf ein totesGleise geraten, wenn das Bedürfnis zur Vermehrung des Bauesvon Kleinwohnungen und Kleinhäusern nicht schnell befriedigt wird.Möglichst bald nach Inkrafttreten des Gesetzes mutz die Gesetz-gcbung auch dem Bau von Wohnungen für die Minderbemitteltennähertreten. Zwei große Ursachen der Wohnungsnot liegen darin,daß das Privatkapital höchst ungern sich der Herstellung von Klein-Häusern für die Minderbemittelten zuwendet und daß die Grund-besitzer in der Regel den Boden erst dann abgeben, wenn der höchst-mögliche Preis erreicht ist. Die Wohnungsfrage umfaßt drei großeGebiete: 1. Wohnungspolizei Wohnungsaufsicht und Wohnungs-pflege; 2. Aufteilung des Bodens und Bau der Wohnungen;3. Bodenpolitik. Diese drei Gebiete lassen sich nicht trennen. DerStaat muß auch dafür sorgen, daß Wohnungen für Minderbemitteltein genügendem Maße und zu solchen Preisen vorhanden sind, welcheder wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit dieser Klasse entsprechen.Die Konsequenz des Entwurfes ist daher auch die Sorge für billigenBaukredit und billiges Land. Für die Bodenpolitik kommt be-sonders in Betracht ein kräftiges Enteignungsrccht mit Zonen-enteignung und Zonenumlctzung, die Besteuerung des Bodens nachdem gemeinen Wert und die Besteuerung des unverdienten Wert-zuwachses.(Lebhafter Beifall.)Es wird die gemeinsame Debatte über das gestrigeReferat von Dr. Sinzheimer und über das Referat vonDr. Jäger eröffnet.Oberbaurat Prof. Baumeister- Karlsruhe empfiehlt dieEinführung einer Reichs-Bauordnung.— OberbürgermeisterWagner- Ulm ist der Ansicht, daß die Gemeinden die Haupt-träger der Wohnungspolitik sein müssen; sie seien moralisch ver-pflichtet, der Wohnungsnot zu steuern. Vorbedingung für dieSchaffung von Wohnungen sei allerdings eine entsprechende Boden-Politik, und diese könnte nur von den Gemeinden betrieben werden.Die Stadt Ulm sei bestrebt gewesen, den Grund und Boden in ihreHände zu bekommen, sie besitze jetzt mehr als zwei Drittel der Ge-markung der Stadt und habe auch schon in den Vororten Geländeerworben.(Bravo!) In 12 Jahren habe die Stadt etwa löl) Ge-bände erstellt, die mit einer Anzahlung von 10 Proz. verkauftwurden. In jedem dieser Häuser wohne nur eine Familie. Unddabei sitzen fast lauter Hausbesitzer in der Gemeindevertretung. Esgebe also unter den Hausbesitzern auch weiße Raben.(LebhafterBeifall).Fabrikant Barth- München preist die Vorzüge der Bau-genossenschaften, spricht aber die Befürchtung aus, daß es demEinfluß der Haus- und Grundbesitzer gelingen könnte, den Staatzu einem ähnlichen Vorgehen gegen die Genossenschaften wie gegendie Konsumvereine zu veranlassen.Prof. Lujo Brentano- München(mit Beifall empfangen)geht auf die Wohnungspolitik Englands ein. Man habe dortMillionen geopfert, aber den Arbeitern damit keine Wohltat er-wiesen, denn sie wurden wie gehetztes Wild von einer überfülltenWohnung in die andere getrieben. Man habe eben verabsäumt,für diejenigen, die durch die Wohnungsinspektionen aus denWohnungen vertrieben wurden, Unterkunftsräume zu schaffen.Endlich sei man zur Gründung von Ledigenheimen übergegangen,und diese hätten sich glänzend bewährt. Auch in Mailand habe mandamit gute Erfolge erzielt. Redner gibt eine anschauliche Schilderungdes Ledigenheims in Mailand. Es sei Aufgabe der Gemeinden,sich auf diesem Gebiet zu betätigen und entweder selbst zu bauenoder doch eine Zinsgarautie zu übernehmen.(Lebhafter Beifall.)Oberbürgermeister Werner- Kottbus gibt zu, daß die Selbst-vcrwaltungskörpcr, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bisher nochnichts zur Jnaugurierung einer Wohnungspolitik getan haben. DieUrsache hierfür liege in der Entwickelung der deutschen Städte,die seit je mit Aufgaben überlastet waren, die große Summen er-forderlich machten; er erinnere nur an Wasserleitung und Kanali-sation. Von schlechtem Willen der Städte könne also nicht die Redefein.(Beifall.) Im Gegenteil, die Städte hätten Licht und Lustin die entlegensten Winkel gebracht. Nicht auf die Institution selbstIcmme es an, sondern auf den Geist, von dem sie beherrscht wird;deshalb dürfe man nicht in der Weise, wie es geschehen, das Haus-besitzerprivileg verurteilen.(Sehr wahr!) Den Gedanken derReichs-Bauordnung akzeptiere er nur, soweit sie sich auf das U n-c r l ä ß l i ch e beschränkt. Aber wie stehe es mit der finanziellenBeteiligung des Reiches? Er halte nichts von den Behörden, dieihr Wohlwollen immer nur in schönen Worten dokumentieren.(Sehr gut!) Der preußische Staat rühme sich jetzt einer.Tat",er habe einen Entwurf veröffentlicht. Im Jahre 1850 habe derStaat das gesamte von den Gemeinden in Erbpacht vergebene Landin Privateigentum verwandelt, und seine Aufsicht habe nicht ver-hindert, daß die Gemeinden weiter Land veräußerten und Gas-werke, Elektrizitätswerke und dergleichen der Privatindustrie auS-lieferten. Ja. die Regierung habe sich in solchen Fällen sogar sehrfreundlich zu den Gesellschaften gestellt.(Lebhafter Beifall.) DerStaat mißbrauche sein Aufsichtsrecht. Jeder Bürgermeister, dereinen Nacken hat. müsse sich dem widersetzen.(Lebhafte Zu-stimmung.)' Schaffen wir erst mal eine Selbstverwaltung! Aufden wichtigsten Gebieten haben wir sie ja überhaupt noch nicht.(Sehr richtig!) Das Zwangs-Eingemeindungsrecht stehe nur aufdem Papier, die Gesetze würden auf dem Wege der Verwaltungs-praxis rückwärts revidiert. Sehr notwendig sei eine Erweiterungdes Enteignungsrechtes der Gemeinden.(Sehr richtig!) DasProzeßverfahren in Enteignungssachcn bedürfe dringend einerAenderung. Redner geht nunmehr zu einer Kritik des preußischenWohnungsgesetz-Entwurfs über und bemängelt namentlich, daß angroße und kleine Gemeinden verschiedene Mindestanforderungenbezüglich der Wohnungsordnungen gestellt werden. Auf dem Landesei eine Wohnungsaufsicht ebenso nötig wie in der Stadt. Gesternhätten sich hier in Frankfurt die Vertreter von 5v preußischenStädten mit 10 000 bis 50 000 Einwohnern auf folgende Resolutiongeeinigt:„Die anläßlich des ersten allgemeinen deutschenWohnungskongresses in Frankfurt a. M. aus allen Teilendes Jotnets"der preußischen Monarchie versammelten Vertreter von 50 Städtenmit 10 bis 50 000 Einwohnern begrüßen den Versuch der preußischenStaatsregierung, die Wohnungsfrage auf gesetzlichem Wege ihrerLösung näher zu bringen, mit Freuden, erachten aber den veröffent-lichten Entwurf eines Wohnrmgsgesetzes in wichtigen Punkten nochfür so abänderungsbedürftig, daß sie dessen! Annahme nicht empfehlenkönnen, und behalten sich die Begründung dieser Stellungnahme derStaatsregierung gegenüber vor."Die Redezeit wird auf fünf Minuten beschränkt.Paul K a m p s f m e y e r- Berlin übt Kritik an der„skrupel-losen Bodcnwucherpolitik", die der preußische Staat nach dem Urteildes Ober-Bürgermeisters Zweigert getrieben habe. Der Gesetz-entwurf sei schlecht und der preußische Landtag lverde ihn voraus-sichtlich noch verschlechtern. Der Gesetzentwurf mache vor den„Herren mit den geflickten Strohdächern" Halt. Unsere Einrichtungenin Preußen seien vermodert(Unruhe), sie müßten umgewandeltwerden. Wie einst in England, so müßte heute auch bei uns derRuf erschallen: Die Massen gegen die Klassen! Derjenige, derdiesen Ruf erhebe, werde allerdings nicht neben dem Grafen Bülowsitzen.(Ruf: Neben Singer!)Ober-Bürgermeistvr Körte- Königsberg nimmt die Selbst-Verwaltungskörper gegen den Vorwurf der Untätigkeit auf deinGebiete der Wohnungspolitik in Schutz. Die Selbstverwaltung seinichts Ueberlebtes; wo ein gesunder Gemeinsinn lebe und wo einezielbewußte Leitung vorhanden sei, da werde stets das Wohl derGesamtheit über dem des Einzelnen stehen, und da könne auch voneiner unheilvollen Wirkung des Hausbesitzerprivilegs keine Rede sein.(Sehr wahr!) Heute hindert die Regierung vielfach die Gemeinden, eine gesunde Bodenpolitik zu treiben.(Beifall.)Frau Dr. Lily Braun-Berlin bemängelt die Vorschriftendes Gesetzentwurfs über die Wohirräume für Dienstboten. Der vor-geschriebene Luftraum sei geringer als der für Gefangene.(Hört!hört!) Die Bestimmung bedeute eine Sanktionierung der Hängeböden.Die Dienschoten müßten einen Raum haben, wo sie sich nach desTages Müh und Lasten aufhalten können. Die Wohnungsinspckriondürfe nicht von dem preußischen Biädchen für Alles, der Polizei.sondern müsse von Hygiemkern und Frauen ausgeübt werden.( Sehrwahr!) Die Frauen hätten am meisten unter dem Wohnungselendzu leiden. Zu wirklichen Reformen auf dem Gebiete der Woh-nungspolitik werde man nur durch Beseitigung des preußischen Wahl-Unrechtes(Oho!) kommen. Das allgemeine Wahlrecht müsse auchden Frauen zugestanden werden.(Beifall und Widerspruch.)Frau Henriette Fürth weist auf das Mißverhältnis zwischenMietshöhe, Einkommen und Kindern hin. Kinderreiche Familienkönnten nicht Aur schwer Wohnung finden, sie müßten diese auchteurer bezahlen. 25— 30 Proz. des Einkommens müßten oft fürMiete ausgegeben werden.(Lebhafter Widerspruch der Vertreter derHausbesitzervercine.) Rednerin weist ferner auf die Gefahren desSckflafgängerwesens hin. Auf iveitcre Fragen einzugehen, ist ihrnicht möglich, da ihre Redezeit abgelaufen ist.Arbeitersekretär Bohrens- Berlin wünscht beamtete Woh-nungsinspektoren, sowie Wohnungsordnungen auch für das flacheLand.(Beifall.)Ober-Bürgermeister Dr. L e u tz e- Barmen gibt zu, daß dieGemeinden bisher auf dem Gebiete des Wohnungswesens noch nichtviel geleistet haben, aber man dürfe nicht vergessen, welche Opferdie Gemeinden auf anderen Gebieten der öffentlichen Wohlfahrts-pflege und auf dem des Schulwesens haben bringen müssen. DieVorwürfe gegen die Hausbesitzer halte er für unbegründet.(Beifall.)Professor K i n d e r m a n n- Heidelberg hält eine Bekämpfungdes Wohnungselends nur für möglich durch ein Zusammenwirkendes Reichs, der Einzelstaatcn und Kommunen auf der einen, derBauunternehmer und Baugenossenschaften aus der anderen Seite.Frl. L ü d c r s- Berlin und Frau E d i n g e r- Frankfurt a. M.wünswep die Hinzuziehung von Frauen zur Wohnungsinspektion.Hierauf wird die Debatte geschlossen.In seinem Schlußwort bezeichnetDr. S i n z h e i in e r die Ausführungen des Ober-Bürger-meisters Werner, daß die.Kommunen mit anderen sozialpolitischenAufgaben überlastet seien, als faule Ausrede. Es erhebt sichein ohrenbetäubender Lärm, der wohl fünf Minuten andauert.Man hört neben fortgesetzten Schlußrufen Rufe wie„Unverschämt-heitl",„Frechheit!",„«kandal!" Erst als der Referent die Ter-sammlung wegen seiner„Entgleisung" um Entschuldigung gebetenhat, kann er seine Rede zu Ende führen. Als er von„vermodertenKommunalkörpern" spricht, setzt der Lärm von neuem ein. Rednerspricht zum Schluß die Hoffnung aus, daß die Bewegung zugunstender Wohnungsreform nicht eher ruhen wird, als bis das Reich seinePflicht erfüllt hat.(Lebhafter Beifall.)Es folgt der dritte und letzte Hauptgegenstand: Wohnungs-erstellung und Kapitalbeschaffung.Landrat a. D. Dr. Heydlv eiller- Denzerheide bei Emserstattet das zusammenfassende Hauptreferat. Der gewerbliche so-wohl als der gemeinnützige Wohnungsbau haben dem Bedürfnis nachWohnungen nicht Genüge getan. Die Wohnungsreform muß daherunter Ausschaltung der ungesunden Unternehmung und der Speku-lation den Begriff der Gemeinnützigkeit und damit der Unterstützungs-berechtigung durch die Allgemeinheit auf die gewerblich« Bauunter-nehmung ausdehnen. Zur Beschaffung der Kapitalien empfiehltRedner nach dem Muster von Hessen-Darmstadt privilegierte Hypo-thekenbankcn, etwa für den Umfang einer preußischen Provinz.Im Anschluß hieran wurden einige wichtige Rcformversuche und-Projekte in Einzeldarstellungen erörtert. Landesrat Dr. Lieb-recht- Hannover sprach über die Landesversicherungs-an st alten und das Reich svorgehen, Generalsekretär Dr.Grunenberg- Düsseldorf über städtische Baubankenund Gcmeindegarantie für die zweite Hypothek,Regierungsrat Dr. Seidel- Wiesbaden über gemeinnützigeBau- und Hypothekenbanken auf Grundlage derSelb st hülfe, Landesrat P a s s a r g e- Königsberg i. Pr. überdie Förderung des Baues von Landarbeiter woh-nungen durch die LandesversicherungsanstaltOstpreußen. Die Forderung von L i c b r e ch t geht daraufhinaus, daß die Einrichtung der Landesversichcrungsanstalten zuMittelpunkten des Klcinwohnungsbaues werden soll, und zwar solldurch Sieichsgcsetz den Landesversichcrungsanstalten diese Aufgabe zurPflicht gemacht werden. Das Geld hätte daS Reich zu beschaffen.indem es den Versicherungsanstalten Reichsanleihescheine in naturaleiht mit der Bestimmung, alljährlich einen der gesetzlichen Tilgungs-quote der Reichsschulden cntspvechcnden Teil in natura zurückzu-liefern, inzwisck�n aber die zur Verzinsung der geliehenen Papiereerforderlichen Summen an das Reich abzuliefern.Mit Rücksicht auf eine gestern gefallene Bemerkung erklärtDirektor Dr. S a r a z i n vom Reichsversicherungsamt, daß eine Eni-schcidung, wonach Darlehen mif Erbbaurecht nicht als mündelsicheranzusehen seien, niemals ergangen ist. Stur in einem konkreten Fallesei die Miindelsicherheit als nicht vorhanden angesehen w»rden.Wegen der vorgerückten Zeit nimmt der Kongreß heute von einerDiskussion über die Referate, die sich auf die Frage der Kapital-bcschaffung beziehen, Abstand. Diejenigen Teilnehmer, die sich hier-für interessieren, finden sich am Mittwoch zu einer Sonderbesprechungzusammen.Mit der Einberufung eines zweiten Kongresses wird der Vor-stand des Organisationsausschusses im Verbindung mit dem Ausschußdes Vereins Rcichswohngesetz beauftragt.Den Abschluß des Kongresses bildete eine öffentliche Volks-Versammlung. Es sprachen Dr. Franz Oppenheimer- Berlinund Prof. Dr. Reißer- Frankfurt a. M. über Wohnungsfrageund Volkskrankheiten, I. Gonser- Berlin über Woynungsstageund Alkoholismus, Pater Dalmatius und Pfarrer Dr. N a u-mann über Wohnungsfrage und Familie.� Donnerstag, 20. Oktober 1904.Der Falschmünzer- Prozeß.Nach Eröffnung der Sitzung durch Landgerichts-DirektorK a n z o w wird über die Fälschungen der Zinsscheine derSchlesischen landschaftlichen Pfandbriefe ver-handelt. Der Angeklagte Lache hatte zur Herstellung der letzterenfür sich und seine Geliebte Martha Stegemann, die er am 27. Mai1903 aus Breslau hatte kommen lassen, in R i x d o r f in derHermannstratze eine kleine Wohnung gemietet. Er schaffte sich eineBostonhanddruckpresse an, bestellte die Holzklischecs zu den herzu-stellenden Zinsscheinen bei einem Thlographen in Berlin, nach diesenHolzklischees ließ er eine Messingplatte bei einem Graveur gravierenund guillochieren. Die Anklagebehörde verdächtigt Blattner, dieserGraveur zu sein, Lache und Gelhaus bestreiten dies und behaupten,daß„Müller in der Oranienstraße" und„Baudouin, Prinzen-straße" die Teilnehmer bei diesem neuen Falschmünzer-Unternehmengewesen seien. Lache hat dann am 27. oder 23. April 1903 mit demDruck begonnen. Er zeigte bald darauf dem Gelhaus ein dickesPaket Papier, welches in der Mitte mit dem Klischee bedruckt war,auf dem sich die Buchstaben l. R. E. C. T. auf Untergrund befinöcn.Zur Vollendung dieser falschen Zinsscheine ist es nicht mehr ge-kommen, da am 4. Mai 1903 die Verhaftung der Angeklagten er-folgte. Bei der Haussuchung in der Lacheschcn Wohnung wurdenaußer dem gesamten Druckmaterial 1163 Blatt bereits bedrucktenPapiers, zu je 4 Coupons ä 45 M., vorgefunden. Würden diefalschen Coupons zur Verausgabung gelangt sein, so würden dieFälscher einen Gewinn von 209 340 M. eingeheimst haben. Lachebestreitet die Richtigkeit dieser Berechnung. Er meint, er hätte janicht bloß ZinSscheine mit 45 M., sondern auch mit 90 M. undhöheren Summen bedrucken können und dann wäre der Erlös nochweit größer gewesen. DieDruckerei in Rixborfhaben Lache und Gelhaus aus den Erträgnissen des Raubzuges derzweiten Periode eingerichtet. Aus diesem Raubzuge haben sie 3000bis 4000 M. bar heimgebracht, obgleich sie auf ihren Reisen sehrgut gelebt haben. Wie Lache behauptet, wollte Gelhaus in dieserDruckerei eigentlich Hundertmarkscheine herstellen, Lache ließ sichaber nicht drein reden und ging an die Couponfälschcrei. Es sollauch beabsichtigt gewesen sein, nach den Schlesischen Pfandbriefenan die Fälschung der Zinsscheine der Deutschen Reichsanlcihe heran»zugehen.Ueber die Herstellung und die technische Ausführung der Couponsder Schlesischen Pfandbriefe gibt der Oberinspektor der Reichs»druckerei, Herr Zinke, eine eingehende Darstellung, während welcherdie Oeffentlichkeit ausgeschlossen wird. Nach diesem Gutachten sinddie Fälscher mit großer Schlauheit und Raffiniertheit vorgegangen.Bei Gelegenheit seines Gutachtens streift der Sachverständige auchdie Herstellung der Hundertmarkscheine und des Papiers zu diesenund erwähnt, daß das Papier in einer einzigen bestimmten Fabrikhergestellt wird und dieses Papier patentiert ist und von keinerFabrik nachgemacht werden darf. Es gebe aber doch Fabriken, dieein ähnliches Fascrpapicr zu Briefumschlägen usw. herstellen. DerVorsitzende fragt, ob etwa in Süddcutschland eine solche Fabrikbesteht und kommt bei dieser Gelegenheit nochmals darauf zurück,was Lache eigentlich in Hellbronn gewollt habe. Lache gibt hierzueine lange, etwas konfuse Geschichte zum besten, die wieder umden Hauptpunkt herumgeht. Die Geschichte, in welcher ein BruderLachcs vorkommt, der Kantinenwirt sein und eine Villa habensoll, klingt anfänglich etwas unglaubwürdig und phantastisch, esstellt sich aber heraus, daß Lache wirklich einen Bruder in Hagenauhat, der Kantinenwirt ist. Bei den weiteren Erörterungen über denAusenthalt in Hcilbronn verschnappt sich Lache und erklärt, sehrwohl zu wissen, daß bei.Heilbronn die Papierfabrik in Spechthausenist, die solches Papier, wie es der Sachverständige erwähnte,fabriziert.Ehe in der Verhandlung fortgefahren wird, stellt der Ver-teidiger des G e l h a u s, Rechtsanwalt Guttmann, den An-trag, eine ganze Anzahl von Personen aus Posen, Paderborn usw.vorzuladen. Diese sollen bekunden, daß Gelhaus schon von Jugendan ein äußerst nervöser, sonderbarer Mensch gewesen sei. Anderesollen bezeugen, daß er beispielsweise anarchistische und sozial-demokratische Zettel verteilt und in einem Falle ein ganzes Dorfdamit überschwemmt hat, ohne daß er selbst Anarchist oder Sozial-demokrat ist. Der Gerichtshof beschließt, zu Freitag acht Personenüber das angeregte Thema als Zeugen vorzuladen.Nach kurzer Mittagspause wird dann nochmals die Erörterungüber denGeisteszustand des Lacheund die Frage, ob dieser simuliere, aufgenommen. Es wird zu-nächst Prof. Bonhoeffer- Breslau als Zeuge und Sach-verständiger vernommen. Er war früher Gefängnisarzt, ist jetztDirektor der psychiatrischen Klinik und Univcrsitätsprofcssor inBreslau. Lache ist 1 Jahr und 4 Monate bei dem Zeugen inBehandlung gewesen. Lache war aus dem Zuchthause in Neustrelitzdorthin überwiesen worden und es bestanden Zweifel, ob er nichtsimuliere. Der Sachverständige ist auf Grund seiner umfassendenBeobachtungen und der eingehenden Kranlengeschichte zu der lieber-zeugung gekommen, daß Lache während des Aufenthaltes in derBrcslauer Anstalt nicht simuliert hat, Ivenn auch die Er-regung, die er anfänglich zeigte, etwas übertrieben schien. DasKrankhcitsbild, welches Lache damals darbot, war das der pro-gressivcn Wahnbildung, und in der ganzen langen Zeit derBeobachtung ist kein einziger Punkt festgehalten worden, wo Lache„aus der Rolle gefallen" wäre. Die charakteristischen körperlichenErscheinungen liefen auch immer den psychischen parallel. Die Tat-fache, daß Lache in sehr raffinierter Weise aus der Provinzial-Irrenanstalt Brieg ausgebrochen ist und dann in sehr sinnreicher,ausgeklügelter Weise Münzfälschungen begangen hat, würden denSachverständigen, wie dieser betont, in seiner Diagnose nichtwankend machen. Er bleibt dabei, daß das damalige Krankhcitsbildein solches war, daß bei Lache die freie Willcnsbestimmung imSinne des 8 51 St.-G.-B. ausgeschlossen schien. Ans eine Fragedes Verteidigers Rechtsanwalts Z a u ck e bejaht der Sachverständigedie Möglichkeit, daß die Umstände, unter denen Lache nach seinemEntweichen ans der Irrenanstalt lebte, die Gefahr, jeden Augenbliifergriffen zu werden, das Damoklesschwert der 8 Jahre Zuchthaus,welches über ihm schwebte usw., die Krankheit des Lache weiterbefördert hat.— An das Gutachten des Sachverständigen schließtsich eine große Anzahl Fragen und Vorhalte seitens des VorsitzendenLandgerichts-Dircktors K a n z o w, des Ersten Staatsanwalts Dr.C r e t s ch m a r, des Rechtsanwalts Z a u ck c, des McdizinalratsDr. Leppmann, des Gcrichtsarztes Dr. S t ö r m e r und desMcdizinalrats Dr. Mittenzweig. Der Sachverständige Prof.Bonhoeffer bleibt bei seiner Ueberzeugung stehen, daßLache damals schwerkrankund eine Simulation ausgeschlossen war. Die Beobachtungen vonLaien können bei chronischer Paranoia nicht maßgebend sein.—Präs.: Nun, Lache, kennen Sie denn diesen Herrn?— Lache:Ja, aber er sieht schlechter aus wie früher!(Heiterkeit.)—Präs.:Hat der Herr Sie denn nicht immer gut behandelt?— Lache:Ja, wissen Sie, ich Hab mal bei ihm im Zimmer gestanden unterder Lampe, wir haben uns ganz ruhig unterhalten und da ist erdann plötzlich mit einem Messer auf meinen Hals losgekommen.(Heiterkeit.) Da habe ich natürlich gesagt: ich danket und binweggegangen. Ich werde überhaupt in der Folge gar nichts mehrsagen I— Medizinalrat Dr. Mittenzweig: Ich möchte demAngeklagten die Frage vorlegen, ob er nicht manchmal bewußtübertrieben hat?— Präs.: Sie hören, Lache: Haben Sie nichtmanchmal geschwindelt?— Lache(in dem Brustton vollster Ueber-zeugung): O, fürchterlich habe ich geschwindelt!(Große Heiter-.feit.), Wenn man mich zu Geständnissen pressen wollte, habe ich