aufgehoben werden sollen, wenn der Generalgonverneur erklärt, d ah die Verhältnisse sie nrcht mehr erforderlich machen.— Auf diese Thronrede hat der Vor- sitzende des Adelsstandes, Landmarschall Linder< früher ein Hand- langer Bobrikoffs) mit nichts anderem geantwortet, als daß er dem Monarchen die„herzlichsten Glückwünsche des Adels über dte Geburt des Thronfolgers zu Füßen legte". Fast der ganze Adelsstand erklärte jedoch, daß er sich dieser A n t Wort nicht anschließen könne,— Am würdigsten war die Autwort des Priesterstandes, dessen Wortführer Erzbischof Johansson unter anderem sagte:„Das finnische Volk kennt seine Pflicht gegen den Herrscher und das Kaiserreich, aber die Rechts- ordnung, die im Laufe der Jahrhunderte der EntWickelung des finnischen Volkes Schutz gegeben hat, ist eine Lebensbedingung für seine Zukunft."— Die Antworten, die der Bürgerstaitd und der Bauernstand auf die Thronrede erteilten, sind ziemlich bedeutungslos. Die eine erschöpft sich in Ergebenheits- und Treugelöbnissen für den Zaren und die andere beginnt mit einem Glückwunsch zur Geburt des Thronfolgers.— Bolksdemonftration in Petersburg . Petersburg, 11. Dezember. Heute mittag sammelte sich auf dem Newski- Prospekt eine große Volksmenge an, die Demonsttattonen zu veranstalten versuchte. Hund>erte be- rittener Schutzleute hielten die„Ordnung" auf- recht. Eine Anzahl von Verhaftungen, meist von Sttldenten, wurde vorgenommen.— Ueber die heuttgen Kundgebungen auf dem Ncwski-Prospekt wird amtlich gemeldet: Heute nachmittag fanden auf Dem Newski- Prospekt zwischen der Polizeibrücke und der Sadowaiastraße bei großem Zusammenlauf des Publikums Ruhestörungen statt, an welchen hauptsächlich Studierende, etwa 1000 an der Zahl, teilnahmen. ES wurden unter Gesang zehn rote Fahnen mit regierungsfeindlichen Aufschriften entfaltet. Durch die Maßnahmen: der Polizei und Gendarmerie gelang es indes, die Menge bald zn zerstreuen, worauf auch die Fahnen wieder entfernt und die Trä ger der- selben, sowie mehrere Personen, welche der Polizei Widerstand leisteten, verhaftet wurden. Die Polizei war hierbei gunötigt, zur Waffe zu greifen, doch sind keine erheblichen Verletzungen vor- gekommen. Um S Uhr nachmittags war die Ruhe wieder her- gestellt.—__ parlamcntarircbca. Zum Reichs- Justizamt haben für die zweite Lesuttg deS Etats die Deutsche und die Freisinnige Volkspartei folgende Resolution eingebracht: Der Reichstag wolle beschließen, den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, dafür zu sorgen: 1. daß die Gegenieitigkeit gemäß§§ 102 und 103 des ReichS- StrafgesetzbuchS a) nur nach ordnungsmäßig veröffenl lichten und genehmigten Staatsverträgen sArtikel 11 der Deutsähcn Reichs- Verfassung) und b) nur solchen Staaten gewährt wird, welche nach ihrer eigenen inneren Verfassung und ihren sonstigen Rechts- einrichtungen eine«Verbürgung" der Gegenseitigkeit ini Sinne der erwähnten Bestimmungen gewährleisten können, 2. daß über die Auslieferung fremder Staatsangehörigen nur Staaisvcrträge gemäß Arttkel 11 dar Reichs- verfaffmrg zwischen dem Deutschen Reiche und den auswärtigen Regierungen abgeschlossen werden. 3. daß die bisher zwischen einzelnen Bundesstaaten und auS- wältigen Regierungen über die Auslieferung abgeschlossenen Ver- träge alsbald gekündigt werden. Die Vernichtung der Port Arthur- Flotte. London . 10. Dezember.(Eig. Ber.) Wie die Ratten in einem engen Loche sind die ru> fischen schiffe eines nach dem andiWen von den Japanern abgemurkst worden. Die Flotte repräsentierte einen Ge- samtwert von mindestens 300 Millionen Mark. Ein st» schmäh- l i ch e s Ende hat noch kein« Flotte genommen. Die chin esische Flotte wurde im Jahre 1894/95 in der Bucht von Korea in einer See- s ch l a ch t vernichtet. Die spanische Flotte unter Ccirvcra ist im Sommer 1393 bei Sanjago de Euba in einem Verzwaiflungs- kämpfe gegen die Amerikaner umgekommen. Nur die r u s s i- scheu Seeleute verstanden es, sich mit, Schmach zu bedecken. Jedoch wäre es verfehlt, diesen einzig dastehenden Selbstmord «wer Flotte, die ursprünglich der des Gegners ebenbürtig war, der Korruption oder der Dekadenz Rußlands zuzuschreiben. Die Ursache ist vielmehr zu suchen in der Unkenntnis der Russen in Fragen der Seepolitik. Und diese Unkenntnis ist dem gesamten sozialen Zustande Rußlands geschuldet. Eine Flotte ist st in Kriegs- spielzeug, fondern die Folge des S e e h a n d e l s, die Folge be- deutender maritimer Interessen. Die Flotte ist die Waffe von Handels- und Seevölkern. Fehlt diese materielle Grundlage, so kann sich die See- und Flottenpolitik nicht entwickeln. Man Darf getrost sagen, daß Flottenpolttik großbürgerliche Politik ist. D» shalb sind, beiläufig bemerkt, die Junker gegen die„gräßliche Fllstte". Auch die englischen Tories waren einst gegen Flottenpolitik. Und woher soll sich in Rußland eine großbürgerliche Politik nehraen, lvenn Industrie und Handel noch gefesselt und geknebelt in den Windeln liegen? Die Russen sind noch immer überzeugt, daß die Armee ihre Hauptwaffe ist. Deshalb wurde ihr pacifisches Geschwcider den belagerten Soldaten geopfert. Die Matrosen wurden dort in die Armee eingereiht, die Marinegeschütze zur Armierung der' Forts verwendet. In Londoner Marinekreisen hat man vom jetzigen Admiral Viren, der auf Withöft und Uchtomsky folgte, eine sehr holst Meinung. Man hält ihn für ein Genie, während man Togo für c Inen kluge», vorsichtigen und gewissenhaften Seemann hält. Man ist hier über- zeugt, daß Viren mit seiner noch vor einer Woche existieriraden Flotte den Japanern bedeutende Verluste hätte beibringen könnon, wodurch die Aufgabe Roschdjestwenskys erleichtert worden wäre. Allein die Russen sahen vor allem Stösscl und opferten ihm alles, obwohl er ohne die Seeherrschaft früher oder später der Vermchiurig anHeim- fallen wird.— Tokio. 11. Dezember, nachmittags.(Meldung des Zieuterschcn Bureaus.) Die Beschießung der Flotte in Port Arthur dauert immer noch an. Die„Sebastopol" blieb außerhalb des Hafens vor Anker, kehrt aber möglicherweise bei Nacht in den Hafen zr.rück hinter die äußere Sperre, durch welche sie gegen Torpedoangrif se geschützt wird. Das stürmische Wetter verhindert di-> Verwcv.dung von Torpedobooten. Fachmänner schliefen daraus, daß die Schiffe vor dem Sinken stark übcrlagen, und daß man versuchte, hie„(Zeoastopol" zu retten, daß die Schiffe nicht durch die Russen selbst versenkt wurden. Die meisten der gesunkenen Schiffe zeigen mit der Spitze nach Norden, sie wurden auf der Backbordscitc getroffeng man schließt daraus, daß sich die Schiffe nach �teuerbordseite neigten, daß die japanischen Granaten im Innern der Schlf>e krepierten, llttn sicher zu sein, daß die Schiffe unbrauchbar sind, werden weitere Granaten hineingeworfen. Ueber den Ve:.'bleib der russischen Zerstörer ist man im Zweifel. Die japanische Artillerie beschießt jeden Winkel des Hafens. Der Bec bachtungs- Posten der Flotte meldet, daß viele Schlepper und kleine Schiffe sich dicht an die Hospitalschiffe drängen, als wenn sie dadurch den Schutz des Roten Kreuzes erlangen wollten. Es wurde in Vorschlag ge- bracht, General Stössel auf die Folgen eines derartigen"Verfahrens aufmerksam zu machen. Die Japaner sind indessen bemüht, die Hospitalschiffe zu schonen. Tokio , 12. Dezember. Eine offizielle Mitteilung der Belage- rungsarmcc von Port Arthur sagt: 1 russische Linienschiffe, 2 Kreuzer, 1 Kanonenboot und 1 Minenschisf sind vollkomrien kampfunfähig gemacht worden: eine weitere Beschießung der Schiffe ist un- nötig: jelzt wird die Stadt beschossen und ihr schwerer Schaden zu- »eftigt. Mordprozetz Berger. Vor dem Schwurgericht des Landgerichts I begann heute die Verhandlung gegen den des Mordes an der kleinen Lucie Berlin beschuldigten Händler bczw. Gelegenheitsarbeiter Theodor B e r g e r. Der Andrang des Publikums ist außerordentlich stark. Zuhörer- räum und Logen sind dicht besetzt. Der Angeklagte, der gefesselt durch zwei Schutzleute und den Gerichtsdiener in den Saal geführt wird, sieht blaß und übernächtigt aus. Den Porsitz führt Land- gcrichtsrat v. P o ch h a m e r, die Anklage vertritt Staatsanwalt- schaftsrat Lindow , die Verteidigung führt Rechtsanwalt Bahn. Bei Beginn der Verhandlung ist auch Landgerichtspräsident Braun anwesend. Da die Verhandlung mehrere Tage in Anspruch nehmen wird, werden zwei Ersatzgeschworene ausgelost. Die Zahl der vor- geladenen Zeugen geht über 100 hinaus: es befinden sich darunter solche aus Breslau und Dresden , mehrere kleine Spielimeradinnen der ermorderten Lucie Berlin, die Eltern« der letzteren, die Schwestern des Angeklagten, ferner die unverehelichte Liebetruth, eine ansehnliche, sorgfältig gekleidete Person, die einen schwarzen Hund, der auch eine stumme Rolle in der Beweisaufnahme spielen soll, an der Leine in den Saal führt, die Kriminalkommissare Nasse, Wehn und Wannovius, der Untersuchungsrichter, Landrichter M a ß m a n n. Als Sachverständige sind geladen: Medizinalrat Dr. Leppmann, Prof. Dr. Straßmann, Gerichtsarzt Dr. Hoffmann, Gerichtsarzt Dr. Schulz, Gerichtschemster Dr. I e s e r i ch.— Vor dem Zeugentisch steht ein großer Reisekorb, auf diesem der kleine, der Liebetruth abhanden gekommene Korb, in dem nach der Annahme der Anklagebehörde die Leichenteile des ermordeten Mädchens durch den Mörder weggeschafft sein sollen. Die Zeugen werden von dem Vorsitzenden eindringlichst über die Be- deutung und Heiligkeit des Eides unterrichtet und dringend ermahnt, nur das auszusagen, was sie selbst gehört und gesehen haben, und nicht das nachzusprechen, was in einer solchen Sache unkon- trolliert von Mund zu Ohr getragen zu werden pflegt. Durch den Eröffnungsbeschluß wird B e r g e r beschuldigt, am Donnerstag, den 9. Juni, mittags nach 1 Uhr, sich an der damals 8jährigen Lucie Berlin unsittlich vergangen und das Kind ermordet zu haben. Ort der Handlung war das Haus Ackerstlaße 130. Die Personalien des Angeklagten stellt der Vorsitzende folgender- maßen fest: Bcrgcr ist am 26. Mai 1369 zu Quedlinburg geboren, evangelisch und nicht Soldat gewesen. Er hat mehrere Vorstrafen erlitten. Als junger Mann von 17 Jahren ist er im Jahre 1886 vom Schöffengericht wegen Erregung öffentlichen Aergernisses durch Vornahme einer unzüchtigen Handlung auf offener Straße zu 2 Wochen Gefängnis verurteilt worden. Im Jahre 1887 folgte eine Strafe von 2 Monaten Gefängnis wegen Kuppelei. Er hatte die im Dezember 1872 geborene, damals also noch nicht 15 Jahre alte Johanna Liebetruth zur Gewerbsunzucht angehalten und ihr Dienste auf der Straße geleistet. Dann folgen im Jahre 1388 zwei Strafen wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt, eine Strafe wegen Körperverletzung mittels eines Messers, eine Strafe wegen desselben Vergehens zu 114 Jahren Gefängnis, nochmals eine Strafe wegen Körperverletzung daran reihen sich lleinere Strafen wegen Unterschlagung, Hausfriedenbruchs und Beleidigung. In voriger Woche ist er von der Strafkammer wegen Kuppelei zu 6 Monaten Gefängnis verurteilt worden. 0» Die Vernehmung beginnt damit, daß der Vorsitzende noch- mals näher auf die persönlichen Verhältnisse des Angeklagten ein» geht, insbesondere wie er die Liebetruth kennen lernte. Der Vater des Angeklagten, welcher Bürstenbinder war, wechselte wiederholt seinen Wohnort. Im Jahre 1886 kam er nach Berlin und nahm hier oauernden Wohnsitz. Berger fflJIte das Handwerk seines Vaters. lernen, bezeigte jedoch dazu wenig Lust. Er arbeitete mal hier, mal da, in allen möglichen Handwerkszweigen. Im Sommer 1887 lernte er die damals 14jährige Licbelruth kennen. Vors.: War Ihnen etwas näheres über den Charakter und über das sonstige Leben der Liebetruth bekannt?— Angekl.: Die Liebetruth war mir von Kollegen als ein leichtsinniges Mädchen bekannt. Gleich am ersten Abend unseres Bekanntseins kam es zu einem intimen Verkehr. Präs.: Sie werden durch die Anklage eines Sittlichkcits- Verbrechens an der kleinen Lucie Berlin und der Ermordung der- selben beschuldigt. Ort der Tat soll das Haus Ackerstratze 130 sein. Sie werden zugeben müssen, daß Sie zu dem Ort der Tat in naher Beziehung stehen, denn dort hat die Liebetruth gewohnt und Sie haben, nachdem Sie 18 Tage aus der Haft entlassen waren, bei ihr gewohnt. Um die hier fragliche Zeit war die Liebetruth als eine unter sittenpolizeilicher Kontrolle stehende Person in Haft und Sie waren allein in der Wohnung.— Angekl.(sehr bestimmt): Ich bin unschuldig! Es ist in der Wohnung nichts passiert und ich habe mit der Tat nichts zu tun.— Vors.: Vom 8. Juni bis zum Sonnabend, den 'l. Juni, hatte die Liebetruth eine Haftstrafc in der Barnimstraße zu verbüßen.— Angekl.: Ich habe sie selbst des Morgens hin- begleitet.— Vors.: Von diesem Tage an hatten Sie also die alleinige Verfügung über ihre Wohnung?— Angekl.: Jawohl, ich habe vom 9. zum 10. und vom 10. zum 11. Juni dort genächtigt. — Vors.: Die Wohnung bestand aus zwei Räumen, einci: ein- sensterigen Küche und einer kleinen zwcifensterigen Stube. Die Wohnungstür lag nur etwa einen guten Mcterschritt von der Tür zu der Wohnung des Berlinschen Ehepaares entfernt, also auf einem Korridor. Haben Sie die Lucie Berlin gekannt?— Angekl.: Ich habe sie ein einziges Mal gesehen.— Präs.: Sie haben bisher angegeben, daß Sic am 9. Juni in der Zeit von 1— 3 Uhr zu Hause waren, daß Sie dann einmal den Hund herunter- gebracht haben und darauf bis zum Abend die Wohnung nicht ver- lassen haben.— Angekl.: Ich bleibe dabei, daß die Lucie in dieser Zeit nicht in der Liebetruthschen Wohnung war.— Vors.: Erzählen Sic dock einmal, waZ sie von dem Zeitpunkte an, naHVcm sie die Liebetruth nach der Barnimstraßc begleitet hatten«, angefangen haben.— Angekl.: Ich ging die Neue Königstraße entlang und '.am schließlich nach den Linden. Hier traf ich den Zeugen Albert Klein, mit welchem ich mehrere Lokale besuchte. Später trafen wir in der Passage zwischen Linden und Friedrichstratze eine unter Sittcnkontrollc stehende Artistin, mit welcher wir sodann das Linden» Cafe besuchten. Klein ersuchte mich, ihm den Schlüssel zu der Liebe- truthschen Wohnung auf einige Zeit zu überlassen, da er sie mit der Artistin« aufsuchen wollte. Ich willigte ein; wir fuhren zusammen mit der Elettrischen bis zum Gartenplatz und gingen nach der Acker- straße. Hier übergab ich dem Klein den Schlüssel, mit dem das Paar hinaufging. Ich wartete auf der Straße, nach einiger Zeit law Klein allein wieder herunter. Da er mir mitteilte, daß die Artistin sehr schmutzige Wäsche habe und wahrscheinlich sich von der Liebetruth reine Wäsche aneignen würde, ging ich selbst hinauf und begleitete das Mädchen herunter. Die Seiler hatte dies bemerkt, und beobachtete diesen Vorgang ge- nau, um ihn wahrscheinlich der Liebetruth später wiederzuerzählen. Die Artistin ging nunmehr von uns weg und ich ging mit Klein nach dem Lokal„Zur goldenen Kugel" in der Elsasserstraße.— Vors.: Hier sollen vielfach Zuhälter verkehren; sind Si'e in diesem Lokal sehr gut bekannt. Wie lange verweisen Sie dort?— Angekl.: Wie lange wir in der„Kugel" waren, wird ja wohl der Zeuge Sander wissen. Mit ihm bin ich dann die Fricdrichstraße weiter gegangen, wir sind noch in mehreren Kneipen gewesen und ich habe mit mehreren der geladenen Zeugen die ganze Nacht hindurch ge- kneipt. In ziemlich angetrunkenem Zustande bin ich am 9. Juni morgens noch in eine Schlägerei verwickelt worden und bin zwischen 11 und 12 Uhr wieder in die Liebetruthsche Wohnung gekommen. — Präs.: Dann ist Ihre Schwester Frau Walter zu Ihnen ge- kommen und da sie nun übermüdet und hungrig waren, soll Frau Walter Ihnen etwas zum Essen eingekauft haben. Wissen Sie, wann Ihre Schwester wieder von Ihnen weggegangen ist?— Angekl.: Ich nehme an, gegen 1 Uhr. Genau kann ich es aber nicht sagen. — Präs.: Kann es nicht vor 1 Uhr gewesen sein?— Singe lt.: Ich weiß es nicht.— Präs.: Was haben Sie dann gemacht, als Sie gegessen hatten?— Angekl.: Ich habe mich niedergelegt und geschlafen.' Gegen 3 Uhr hat der Hund etwas angeschlagen und dadurch wurde ich wach. Ich ging dann aus der Wohnung, um den Hund zum zweiten Male herunterzulassen. Da standen mehrere Frauen auf dem Podest, die mich hindurch ließen und mich gesehen haben. Als ich den Hund wieder zurückgebracht hatte, legte ich mich schlafen und schlief bis gegen 8 Uhr. Dann zog ich mich an, wusch mich und ging mit dem Hunde aus, um frische Luft zu schnappen. Unterwegs traf ich ein Mädchen, welches ich mit in die Wohnung nahm. Sie kam mit mir, obgleich ich keinen Pfennig Geld hatte. Sie blieb bis gegen 3 Uhr morgens bei mir. Sie klagte nur, daß sie in großer Not sei und ihre Wirtin ihr ihre Sachen zurück- behalten hätte. Das Mädchen war mir völlig unbekannt. Es war keine Erwerbsdirne, sondern ein Mädchen, welches gelegentlich einmal mit Männern mitging. Als sie mir ihre Not geklagt hatte, tat mir dies sehr leid und ich gab ihr einen der Liebetruth gehörigen Korb, den sie auch annahm.— Präs.: Sie wissen, daß die. Zlnklage- behörde ein ganz besonderes Gewicht auf diesen Korb legt.— Der Angeklagte erzählt dann, wie er am 19. Juni in der Wohnung der Liebetruth von dem Morde erfahren, dann verschiedene Lokale be- sucht habe und am 11. Juni mit der Liebetruth wegen chcs fehlenden Korbes in Streit geraten sei. Endlich habe die Liebetruth von ihm verlangt, daß er sie heiraten solle.— Präs.: Sie waren doch 17 Jahre lang ohne Verheiratung mit der Liebetruth fertig ge- worden, wie kommt es denn, daß die Liebetruth nun gerade so ernst- Haft auf die Heirat bestand?— Angekl.: Sie wollte die ganzen 17 Jahre lang heiraten, aber ich wollte nicht. Sie drohte mir immer mit einer Slnzeige und wollte mich ins Gefängnis bringen wegen Kuppelei. Als ich dann aber am 12. März hier freigesprochen wurde, hat sie mich erwartet und ich habe mich wieder mit ihr vereinigt. Aber es war doch kein Vertrag mit uns und sie drohte mir immer wieder, mich wegen einer kleinen Unterschlagung anzuzeigen. Als sie schließlich in die Haft mutzte und am 11. Juni wieder heraus- kam, hat sie gleich zu anderen Personen gesagt, daß ich sie unter allen Umständen heiraten und bis Montag das Aufgebot bestellen müßte: sonst wüßte ich ja, was mir bevorstände. Diesem fort- gesetzten Andrängen habe ich schließlich nachgegeben und mich dazu verstanden� das Aufgebot zu bestellen.— Präs.: Sie bestreiten also alle Schlußfolgerungen, die darauf hinauslaufen, daß Sie, um das Stillschweigen der Liebetruth in dieser Mordsache sich zu sichern, sich zu der Bestellung des Aufgebotes bequemt haben.— Angeklagter: Ich habe mit dem Morde nichts zu tun.— Präs.: Es spielt auch ein Mann mit einem Strohhut in dieser Sache eine gewisse Rolle. Sie bestreiten aber, daß Sie zu jener Zeit einen weißen Strohhut besessen haben?— Angekl.: Jawohl.— Präs.: Es ist noch zu erwähnen, daß der Korb am 11. Juni an der Krön- Prinzenbrücke aufgefunden worden ist.— Angekl.: Nach meiner Ansicht kann dies unmöglich der Korb der Liebetruth sein.— Präs.: In dem Korb wurden genau solche Tintenflecke festgestellt, wie im Liebetruthschen Korb, es wurden weiter Spuren von Menschenblut und Wollhärchen, von dem Unterrocke des Mädchens herrührend, gefunden.— Angekl.: Ich kann mir dies nicht erklären, ich kann nicht glauben, daß es sich um den Liebetruthschen Korb handelt.— Präs.: Sie wollen ja auch behaupten, daß die Lucie Berlin gar nicht im Hause Ackerstraße 139 ermordet worden ist und Ihr Ver» teidigcr hat nach dieser Richtung hin Beweise angetreten, wonach das Kind mit einem Manne, der ihr Bonbons gekauft, weggegangen sein soll. Dem gegenüber behauptet die Anklagebchörde, daß die Lucie Berlin so plötzlich verschwunden sei, daß sie unbedingt im Hause verschwunden sein müsse. Die Anllagcbehörde behauptet ferner, daß alle übrigen Bewohner des Hauses um die kritische Zeit nicht allein in ihrer Wohnung waren, und daß Sie die einzige Person sind, die alle in in der Liebetruthschen Wohnung war.— Angekl.: Ich habe das Kind richt ermordet. Nach einer Mittagspause wird mit der Beweisaufnahme be- gönnen. In einem Falle, der urstsr Lht&schiuß der Oeffentlichleit verhandelt wird, handelt es sich um einen Mann, der auf dem Hofe des Hauses Ackerstraße 123 sich auf seinen Wunsch von den dort spielenden kleinen Mädchen unsittlich hat berühren lassen. Er hat den Mädchen dafür 55 Pf. bezahlt und die Kinder haben sich für das Geld Näschereien gekauft. Hierauf vertagt der Vorsitzende die Verhandlung auf Dienstag 914 Uhr. Um 3 Uhr begaben sich der Gerichtshof, die Geschworenen, der Staatsanwalt und der Verteidiger zur Besichtigung des Tatortes nach der Ackerstratze 130. Dort hatte sich schon die Kunde„Der Mörder Berger kommt I" wie ein Lauffeuer verbeitet. Die Straße war derartig mit Menschen besetzt, daß ein größeres Schutzmannsaufgebot zur Absperrung herangezogen werden mußte. Jede ankommende Droschke wurde von den Neugierigen förmlich belagert. Nach Ankunft des Richter- kollegiums und der Geschworenen mußten die Anwesenden zunächst auf dem großen Hofe des Grundstückes auf den Angeklagten warten. Endlich langte dieser in einer geschlossenen Droschke an: neben dem Kutscher saß ein Kriminalbeamter, ein zweiter saß neben dem An- geklagten. Das Publikum drängte dichter zusammen, die sämtlichen Fcnffter der umliegenden Häuser waren mit Neugierigen besetzt. Der Angeklagte wurde gefesselt von zwei Beamten nach dem Hof geführt, von hier begaben sich die Anwesenden nach der Wohnung der Liebe- truth. Das Grundstück Slckerstratze 130 ist eine riesige Mietskaserne, die sich eines ungewöhnlich starken Reichtums an Kindern der MietS- leute erfreut. Als Berger mit aschfahlem Gesicht über den Hof ge» führt wurde, sahen mit verängstigten Gesichtern etwa 30 Kinder nach, die in den Flurtüren Kopf an Kopf standen. Auf ausgetretenen Holztreppen in einem niedrigen Flur des Ouergebäudes ging eS nach der im zweiten Stockwerk gelegenen Wohnung der Liebettuth und der Familie Berlin . Auf einem schmalen Treppenflur befinden sich nicht weniger als 5 Korridortüren; links liegt die Tür zur Liebe- truthschen Wohnung. Von hier sind es etwa 2«schritte zur Wohnung der Berlinschen Familie. Die Liebetruthsche Wohnung besteht aus zwei niedrigen Räumen: aus einer schmalen Küche gelangt man durch eine Tür nach dem zweifenstrigen Wohnzimmer. Die beiden Fenster liegen nach dem Keilichschen Fabrikgrundstück hinaus. Ein Einblick in das Zimmer ist von hier aus nicht möglich. Neben der Ein- gangStür von der Küche aus steht ein Bett, auf welchem eine kleine Decke mit der Aufschrift„Angenehme Ruhe" lag. Hinter dem Bett, dicht an der Wand, hat jener onnnöse Korb gestanden, der später aus dem Wasser aufgefischt wurde. In dem Zimmer herrschte eine geniale Unordnung. Der noch immer geschlossene Berger wurde beim Betreten des Zimmers noch um eine Nüance blasser, er bewahrte aber sonst seine Ruhe wie in der Verhandlung. Der Vorsitzende des Gerichtshofes, Landgerichtsrat v. Pochhammer wies die Geschworenen auf ver- schiedene Einzelheiten hin, die im Laufe der Verhandlung noch in Frage kommen werden. Als nach Schluß der Besichtigung der An- gellagte wieder aus der Wohnung herausgeführt wurde, ereignete sich in dem halbdunkler» Korridor eine dramatische Szene, die auf die Anwesenden erschütternd wirkte. Aus der Berlinschen Wohnung stürzte plötzlich mit wutverzerrtem Gesicht der Vater der ermordeten Lucie B. heraus uud wollte Berger zu Leibe gehen. Wäre nicht sofort ein Kriminalbeamter dazwischen gesprungen, so würde sich der unglückliche Vater wahrscheinlich an Ort und Stelle für den Verlust seines Kindes gerächt haben. In höchster Erregung spie Berlin vor Berger aus und rief ihm wütend zu:„Du Lump, Du elender Kindesmörder, mein ganzes Glück, meine Lucie hast Du mir geraubt! Du arbeitsscheuer Schurke!" Auch die übrigen Haus- bewohner ergingen sich in lauten Verwünschungen über den Au- geklagten. Bei jedem neuen Schimpfwort zuckte Berger sichtlich zu- sammcn. Mi» zusammengepreßten Lippen und kreidebleich wurde er die Treppe hinabgefiibri. während die Mutter des ermordeten Kindes gellende«schreie ausstieß. Berger bestteg wieder die Droschke. langsam leerte sich der Hof, aber lange noch hörte man die Ver- wimschungen des bedauernswerten Vaters durch den dunklen Flur schallen.
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