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Solschen England unb Deutschland kamen unbewußt die gegenseitige Verstimmung und dak Mißtrauen zwischen Deutschland und Frank- reich. Diese Verworrenheit abzuklären, das ist der erste Schritt zu einer friedlichen Ueberwindmig der obwaltenden Schwierigleiten. Denn jedem Grund zu einem Konflikt, wenn er einzeln dasteht und genan ins Auge gefaßt wird, kann da um so leichter abgeholfen werden. Wenn also Frankreich zu erkennen gibt, daß es eine andere Absicht als die des Friedens überhaupt nicht gehegt, daß es ebensowenig einer feindlichen Politik Deutschlands gegen England die Hände bieten will, wenn es den Willen ausspricht, sein Einverständnis zwar ehrlich aufrecht zu er- halten, ohne aber je eine gewaltige oder hinterlistige Koalition daraus werden zu laffen, so hat es, soweit dies in seiner Macht lag, dazu beigetragen, die Verworrenheit und die Zweideutigkeit der Lage abzuklären, aus der eine Kriegsgefahr entstehen konnte. Dem internationalen Proletariat, das der gesamten Mensch- heit ein Warner und Wecker werden soll, obliegt nun die Pflicht, eine entscheidende Wirkung zu gunsten des Frie- d e n s auszuüben. Jeder Konflikt, durch den Deutschland , England und Frankreich , oder auch nur �zwei dieser Mächte an­einander gerieten. wäre ein Unglück für die ganze Menschheit. Alle drei sind sie ja notwendige Faktoren der Kultur. Unsere politische und parlamentarische Freiheit, unsere zivilrechtliche Freiheit, unsere religiöse Freiheit, unsere Wissen- schaft, unsere Philosophie, unsere sozialistische Lehre: es läßt sich gar nicht sagen, welche von diesen Errungenschaften, die wir ent- weder schon im Befitze haben oder noch erhoffen, unbedroht bliebe durch den blutigen Ausbruch eines Kampfes zwischen diesen drei Völkern. Es ist ganz unabsehbar, welcher Teil der von altersher vererbten Güter der Menschheit ungefährdet bliebe, nicht nur durch die Vernichtung, ja durch die Schwächung eines einzigen dieser drei großen Völker. Gewiß können diese Völker ihre geniale Veranlagung zu etwas Besserem gebrauchen, als daß sie in der Welt Mächte des Hasses und der Zerstörung entsesseln. Ein Kampf, wo England und Deutschland mit Kanonenkugeln um den Weltmarkt streiten, würde alle Leiden und die ganze Tragik der napoleonischen Zeit wieder heraufbeschwören. Wer hätte den Mut ein solches Weltunglück herbeizurufen? Und sollte es möglich sein, daß dieser böse Traum nicht von uns wiche? Als vor mehr als hundert Jahren sich der Riesenkampf ent« spann zwischen England und dem revolutionären Frankreich , das sich allzu ftüh zu einem napoleonischen Frankreich umgestalten sollte, da waren so zahlreiche und verworrene Mächte mit einander zur Entfesselung des Krieges verschworen, daß es wahrscheinlich nicht im Bereich menschlicher Berechnung lag, den Krieg zu verhindern. Es waren nicht nur ökonomische und koloniale Gegenstände, wodurch beide Völker aneinander gerieten. Verschärft und erweitert wurde der Konflikt dadurch, daß alle Mächte der Zwietracht, die in der damaligen Welt geschäftig waren, bei diesem Kampfe mitwirkten. Frankreich verteidigte gegen die alte Welt seine revolutionäre Freiheit. England verteidigte gegen die Demokratie die politischen Sonderrechte der führenden Klassen. Es waren ge- wissermaßen, wie bei Saint-Just geschrieben steht, mehrere Geivitter, die an demselben Himmel wctterleuchteten. Oder vielmehr, der Krieg zwischen England und Frankreich war selbst das Hauptgewitter, das nun durch die von allen Winden herbeigetriebenen Gewitterwolken genährt wurde und von allen Wettern der erschütterten Menschheit anschwoll. Gegen diese allgemeine Entfesselung aller Stürme gab es aber keine organisierte Macht, die den Frieden gebieten konnte. Zwar in der ersten Zeit ihrer Unschuld und ihrer ungetrübten Hoffnungen hatte die Revolution selbst einen ewigen Weltfrieden herbeigesehnt. Bald aber war sie selbst, durch eine furchtbare und paradoxe Umkehrung aller Verhältnisse, zu einer kriegerischen Macht geworden. Nur durch den Krieg hatte sie der schleichenden Verräterei des Königshauses ein Ende machen können, da dieselbe auf diese Weise offen zu Tage treten mußte. Nicht bloß um sich des An« griffes der alten Welt zu erwehren, sondern um ihre eigene Un- sicherheit loszuwerden, hatte die Revolution den Krieg entfesselt. Nun sie aber selbst als kriegsschwangere Gewitterwolke einHerzog, wie hätte sie die überall entbrennenden Blitzstrahlen löschen können? Bei aller Heftigkeit des ökonomischen Konkurrenzkampfes, bei aller Gefährlichkeit des kolonialen Wettbewerbes, so wird doch heutzutage der Konflikt unter den Völkern nicht noch verschärst durch einen politischen und sozialen Antegonismus. Trotz aller nebensächlichen Unterschiede der Regierung, nehmen sie doch insgesamt Teil an einer und derselhen EntWickelung. Es gibt kein Volk mehr, das gegen ein anderes als der Träger eines grundverschiedenen politischen und sozialen Systems auftreten dürfte. U eberall, wennauch in ungleichem Tempo, so doch in der- selben Rich tung, setzt sich die demokratische Or- ganisation in Bewegung, ist das Proletariat im Vrmarsch begriffen. Käme es heutzutage zu einem Zu- sammenstoß zwischen Deutschland und Frankreich und England, xs wäre unmöglich dieJdee zn bestimmen, um die in einem der« arttgen Konflikte gekämpft würde. Es ist aber kein Verstoß gegen den hifti.-'schen Materialismus, es heißt ihm vielmehr seine wahre Bedei mg beilegen, wenn ich behaupte, daß die Gegensätze der«anomischen Interessen, damit sie sich in ihrer ganzen Tragweite entwickeln, und mit ihrer ganzen Heftigkeit entfesseln können, sich vor sich selbst und vor der Welt als geistige Gegensätze geberden müssen. Eine solche Verhüllung ist heutzutage unmöglich. Wer heut- zutage England und Deutschland anemander zu hetzen versuchte, der potttiscke CUbcvficbt. Berlin , den 8. Juli. Die Internationale der Reaktion. Fürst B ü l o w bemühte sich, den Schildbürgerstreich gegen die sozialistische Friedenskundgebung durch die Behauptung zu begründen, daß die deutsche Sozialdemokratie unpatriotisch sei und die Reise Jaurös' zu ihren unnationalen Zwecken ausbeuten wolle. Es ist die Schablone der Reaktton, unter Verwechselung ihrer Herrschaftsinteressen mit dem Wohle des Vaterlandes die Oppositionspartei des eigenen Landes als vaterlandslos" auszuschreien und zugleich die Oppositions- Partei des anderen Landes als patriottsch zu rühmen. So verbraucht die Schablone ist, so ist es doch gerade im gegenwärttgen Augenblicke erheiternd, ein wenig zu hören, wie die französische Reakttonspresse über den I a u r ö s denkt, den Bülow belobt, den er aber trotz seiner Vorzüge in Berlin nicht sprechen läßt wegen des ab­scheulichen UnPatriotismus der deutschen Sozialisten, die ihn geladen haben. Einige Beispiele: Autoritö" vom 25. Juni d. I. zittert in einem Arttkel über den deutsch -französischen Konflikt einige Aus- führungen desVorwärts" zum Marakkostreik und fügt hinzu: In den Wandelgängen der Kammer besprach Herr Jaurös diesen Arttkel mit Lebhaftigkeit und war erstaunt, daß nicht die gesamte Panser Presse ihn beachtet und bekannt gegeben habe. Das ist die Sicherung des Friedens, sagte er: die Sozialisten werden die Diplomatte verpflichten, den Frieden zu erhalten. Darauf ist nur die eine Antwort zu geben: trotz der inter - essierten Behauptungen des Herrn JauröS. ja trotz des Artikels desVorwärts". an dem Tage, wo ein Krieg durch Deutsch - land, sei es an England, sei es an Frankreich , erklärt würde, würden die deutschen Sozialisten, sehr chauvinistisch wie sie sind(tres Chauvins), ihre Pflicht gegen den Feind des Vater- landes verrichten...,_ DerVorwärts" ist gewiß em sehr einflußreiches Organ; gleichwohl sind seine Ausfuhrungen in diesem Falle ohne Wert, müßte sich auch eingestehen und müßte der ganzen Menschheit ein- gestehen, daß einzig und allein durch die Härte des kapitalistischen Konkurrcuzkanipfes der Konflikt herbeigeführt und motiviert wäre. Bei aller Unverschämtheit aber liebt es der Kapitalismus nicht, in dieser seiner Nacktheit aufgedeckt zu werden. Er hat so häufig seine Missetaten hinter ehrlichen Vorwänden verbergen müssen, daß nun kein Feigenblatt am Feigenbaum hängen blieb, das ihm noch Deckung seiner Blöße gewähren könnte. Ueberdies gibt es jetzt zur Ueberwachung kapitalistischer Umtriebe ein internationales Proletariat, das dieselben auf- deckt und unschädlich macht, das als organisierte Friedensmacht auf- treten kann. Diese Macht ist nicht, wie die revolutionäre Demo- kratie von 1792, aus dem Herde eines einzelnen, die anderen über- ragenden Volkslebens entsprungen. Sie ist in allen Völkern zu gleicher Zeit entstanden, je nach dem Maße der ökonomischen Entwickelung. Ihr Schicksal ist auch nicht für Augenblicke an das Schicksal eines einzelnen Volkes gebunden. Sie gehört mit zur Gesamtentwickeluug der Menschheit. Die größte Sünde aber, das verabscheuungswürdigste Verbrechen, das gegen diese Macht begangen werden könnte, beständ darine, daß die verschiedenen nationalen Gruppen des großen internattonalen Völkerbundes gegen einander gehetzt würden. Aber es gibt vielleicht ans der Welt keine Regierung mehr,' die stark genug, vielleicht gibt es keine führende Klasse mehr, die ver- schlagen genug wäre, um ungestraft das Klassengefühl des Welt­proletariats auf eine solche Probe setzen zu dürfen. Das Proletariat ist entschlossen, seine ganze Kraft, seine ganze Energie beisammen zu halten, zum Kampf gegen die soziale Ungerechtigkeit, gegen das Elend, die Unwissenheit, gegen die kapitalistische Bedrückung und die Aus- beutung. Und wie es den Klassenkampf in den großen Frieden des sozialen Eigentums, des kommunistischen Eigentums, aufzulösen bestrebt ist, so will es auch die kapitalistische Anarchie der Produktton in die Harmonie der sozialistischen Produktton auflösen, womit die wirksamste Triebkraft und getvissernraßen das Ferment zu inter - nattonalen Kriegen vernichtet wäre. Das Proletariat ist eine lebendige Kraft; und so will es auch lebenschöpferisch auftreten. Es will nicht mehr, daß die Geschlechter des Menschen den Werken des Todes zum Opfer fallen. Dies festzustellen, Genossen, ist der Sinn unserer heutigen Versammlung. Dies ist der Sinn aller Bestrebungen des Proletariats in allen Weltteilen. Die Befürchtungen, die wir er- lebten, sie werden in allen Ländern ein tatkräftigeres Eingreifen der Arbeiterklasse wachrufen. Ueberall wird die Arbeiterklasse mit ver- doppelten Anstrengungen ihre Kräfte sammeln, ihre Gewerkschasten erweitern und verstärken, ihre politische Wirksamkeit erhöhen und konzentrieren, ihre internationalen, sowohl gewerkschaftlichen wie sozialistischen Kongresse vermehren, auf daß immer enger das Netz der Zusammengehörigkeit der Völker und des Völkerfriedens, das vom Proletariat um die Welt gelegte Gewebe sich ausspinne und fest- knüpfe. Mit gesteigerter Leidenschaftlichkeit lvird es in den Kampf treten zur Eroberung der politischen Macht, zur Er» Weiterung und Verbesserung der demokratischen Einrichtungen, zur Umgestaltung der Berufs- und Klassenheerein Volksmilizen, denen nur noch die Schutz- wache der Unabhängigkeit der Völker obliegt, bis zur gleich- zeitigen Abrüstung aller Nationen. Bei dieser langwierigen, hartnäckigen Arbeit wird die inter - nationale Arbeiterklasse gestärkt und aufrecht erhalten. Endziel ihres mühseligen Ringens ist die völlige Besitzergreifung der politischen Macht, die gründliche Umgestaltung des sozialen Systems, die ihr vorschwebt. Und jede ihrer Leistungen hat nur dadurch ihren Wert, die geringfügigen täglichen Errungenschaften verdienen nur deshalb in Rechnung gezogen zu werden, weil sie als Vorbereitung zu gelten haben auf die vollständige Befreiung der Arbeit ujnd des Menschengeschlechtes. Das Proletariat fühlt in sich die doppelte revolutionäre Kraft der Natur: die Eruptions - und Erosionskraft, die Kraft der Plötz- lich hervorbrechenden Lava, und des langsam fressenden Wassers. Im heutigen Rußland ist es der emporsteigenden Lava vergleichbar; anderswo, der stetigen Meeresflut. Bald wirkt es durch Zusammen- bruch, bald durch allmähliche Abnutzung. Aber alle Teilwirkungen, alle Teilerrungenschaften verbreiten sich von Volk zu Volk. Alle Erschütterungen, die einer Nation widerfahren, greifen um sich und treffen auch die übrigen Nationen. Wer kann heute schon die weit- läuftigen und fernen Erschütterungen voraussehen, die einst die russische Revolution nach sich zieht, an der die Arbeiterklasse so her- vorragenden Anteil hat? Welche weitreichende befreiende Kraft kann nicht von dem republikanischen Frankreich ausgehen, wenn es nun jede vergangene Kastenherrschast, jede kirchliche Bevormundung ab- streift, und die Millionen seiner demokratischen Bauern, die täglich mit selbständigem Denken zu Werke gehen, dem Sozialismus zu ge- Winnen weiß? Ja, der Tag wird kommen! Und wie weittragende Aenderungen für die Befreiung der Arbeit, können entstehen nach der Besitznahme der politischen Macht durch Eure deutsche Sozialdemo- kratie, die in ihrem stetigen, kaum momentan stillstehenden Wachs- tum, wirklich einer großen elementaren, langsam aber unwiderstehlich wirkenden Naturgewalt vergleichbar ist? So ist unser Zusammenwirken ein gemeinsames, und auch unsere Hoffnungen sind gemeinsame. So begründen wir ein inter- nationales Leben der sozialistischen Arbeiterklasse, mächtig genug, um auf die nationalen Gegensätze ordnend zurückzuwirken. So wird da sie nicht der Ausdruck der allgemeinen Ueber- zeugung der sozialistischen Partei Deutschlands sind, sondern allein die Meinung eines Parteiführers. Es ist nicht nöttg, bei dieser Gelegenheit die törichte Ver- schiebung der Frage zu besprechen, welche ebenso wie jüngst bei uns der nationalliberale Herr Bassermann auf dem pfälzischen Parteitage dieAutorits" unternimmt, indem sie die sozialistische Einflußnahme auf Erhaltung des Friedens und Verbesserung der Völkerbeziehungen in die andere Frage verhext, was die Sozialisten im Falle eines Krieges tun können. Wesentlich ist allein, daß das Blatt der monarchistischen Reaktton die deutschen Sozialisten als sehr chauvinistisch erklärt und daß es die ihm unangenehmen Erklärungen desVorwärts" dadurch zu beseitigen sucht, daß es diese Anschauungen, die selbstverständlich Gemeingut der deutschen Sozialdemokratte sind, den französischen Lesern als Meinung eines einzelnen Führers ausgibt. Ganz lvie uns. Ganz die Methode des Herrn Bülow I DerRappel" brachte am 23. Juni d. I. einen Arttkel gegen die ftranzösische Sozialdemokratie unter der charakte- risttschen Ucberschrift:A das la Nation"(Nieder die Nation). In Anknüpfung an Aeußenmgen Hernes über den Patrio - tismus heißt es: DieHumanitv" versucht den schlechten Eindruck des Hernsschen Manifestes zu verdecken, indem sie einen Artikel desVorwärts" zitiert. der zu behaupten scheint, daß die deutschen Sozialisten geneigt wären, zaghafte Forderungen zugunsten des Feindes zu äußern. DerVorwärts" hat drei Wochen Bedenkzeit gebraucht, bis er sich diesen schwachen Einspruch gegen die wider den Weltfrieden gerichtete Agrcssive des Kaisers gestattete. So fälscht der französischeNationalismus" die deutschen Sozialdemokraten inPatrioten" um, genau wie Fürst Bülow es gegen die französische Sozialdemokratte handhabt. Und endlich die P a tri e"(Vaterland) vom 20. Juni bringt folgende klassische Acußerung: Die beiden Schulen. Unsere biederen Sozialiste», an ihrer Spitze Jaurss und Pressensö, haben sich einer ebenso leidenschaftlichen wie unnützen Kampagne fiir den Frieden ergeben. Sie fordern, daß die Prole- auch unser ernstes Wollen der sozialen Gerechtigkeit dem Gedanken des Weltfriedens einen bleibenden Ausdruck geben, der bisher bloß, mit unheimlicher Ironie, wie ein trügerischer Trost uns vorschwebte bei allen Taten des Hasses, des Mordens und Blutvergießens, in die die frühere Menschheit der Rassengcgensätze, der Kastengegensätze, der Klassengegensätze mit Leib und Seele getaucht war. Und wo wäre auf der Welt eine Partei, eine Klasse, die unserem Ideal ein besseres Ideal entgegenzustellen hätte? Wo findet sich ein Mensch, eine Partei, eine Klasse, die die Gesamtverantwortung übernähme für das System der Unsicherheit, der Ungerechtigkeit, und der Barbarei, in dem bisher die Völker versumpften? Wer wagt es zu behaupten, der jetzige Zustand sei das Endziel mensch- sicher Entwickelung? Auch diejenigen, die den Sozialismus am tiefften verabscheuen und verachten, können als denkende Menschen nicht mit der heutigen Gesellschaft sich begnügen. Euer Nietzsche war es vor allem, der die Moral des Sozialismus, als eine minder- wcrtige, abstumpfende Moral verunglimpfte, als eine Herdenmoral, die bloß als die Fortsetzung der demokratischen Herdenmarol und der christlichen Herdenmoral zu gelten habe. Er vor allem hat über die schwächliche Weichlichkeit, über den einschläfernden buddhistischen Seelenzustand gespottet, den die dauernde Gleichheit und der un- auslöschliche Friede in den Menschen fortpflanzen müßten. Ihm aber hat die Einsicht gefehlt, daß in der sozialistischen Organisation des Zusammenlebens und der Gerechtigkeit, jede individuelle Veranlagung in ihrer Weise sich entwickeln kann. Ihm hat die Einsicht gefehlt, daß in der künftigen Menschheit, wo durch das Grundgesetz des Kollektiveigentums alle Zwietracht aus- getobt haben wird, sich der individuellen Freiheit und den individu» ellen Wahlverwandtschaften noch unzählige Möglichkeiten der Be- stätigung auftun werden. Die zur Ruhe gekommene Welt wird eine mannigfaltigere und farbenreichere sein, als die heutige Welt der tobenden Gewalttätigkeit. Der Krieg, ja er ist ein­förmig, er erstickt jede Mannigfaltigkeit. DerRegenbogen des Friedens" in seinem bunten Schimmer hat größeren Farbenreichtum aufzuweisen, als der grelle Gegensatz der finsteren Wolke und des leuchtenden Blitzstrahles im Gewittersturm. Wenn also Nietzsche , um der Welt ein mannigfaltigeres Dasein zu sichern, um den Menschen zu heben, eine neue Aristokratie einführen will, so vergißt er die Frage zu stellen, auf welcher Grundlage in der umgestalteten Gesellschaft diese privilegierte Raubaristokratie ihr Leben fristen könnte. Und doch ist er schließlich des Glaubens nicht, daß in dem engen Kreis geschlossener Nationalitäten die menschliche Jndi- vidualität zu jener reichen Entwickelung gelangen könne, die er fordert. Unablässig hat er wiederholt, daß jene neuen Menschen vor allemgute Europäer" sein müßten; er hat wiederholt ausgedrückt, daß Europa die Einheit anstrebt und anstreben mutz. Wie aber könnte auch ein Nietzsche die Tatsache wegleugnen, daß gerade durch das sozialistische Proletariat die entscheidende Macht hergegeben wird zur künftigen Einigung Europas und der übrigen Weltteile. So mutz auch diese Gruppe der geistigen Elite, welche den Sozialismus anfeindet, schließlich zu seinen Gunsten ein unwill- kürliches Zeugnis ablegen. Es ist kein leichtes, den Sozialismus zu bctvältigen oder ihn zu überwinden. Alles höchst reden de in die Zukunft blickende Denken gerät schließlich in den Luft ström soziali(tisch er Gedankengänge. Auch denjenigen, die behaupten, der Krieg sei eine notwendige und strenge Bildungsschule der Menschheit, fehlt nachgerade der Boden unter den Füßen. Ganze Generationen sterben jetzt ab in der un- ruhigen Erwartung des Krieges, ohne daß sie die rauhe Zucht deS Krieges durchgemacht hätten. Große Zusarnmenstöße sind, alles in allem, zu selten und ungewiß geworden, als daß sie noch eine er- zie herische Kraft besäßen. Der Militarismus ist, in langen Zeiträumen, kaum noch mehr als eine riesige Bureaukratie, der vielleicht noch gewisse technische Fertigkeiten innewohnen, während ihre moralische Spannkraft sich abnutzt in dem Zwitter- zustand eines halben Krieges und eines halben Friedens; und doch weiß sie nicht, ob sie den Krieg oder nur noch den Leichnam des Krieges auf den Schultern schleppt. Die Wahrscheinlichicil der be- vorstehenden Gefahren, die Gewißheit der jeden Augenblick er- forderlichen Opfer, die Vertrautheit mit dem freudig aufgenommenen Tod, aus der die Tugenden des Kriegsmannes entstanden, sie können nicht mehr wie einst in unserer bureaukratischen Militärverwaltung, die Quellen des sittlichen Leben, verjüngen. Wie ein fauler Sumpf nur noch vom täuschenden Widerschein glühroten Wolkenschimmers belebt, so schlummert auch die Barbarei unseres bewaffneten Friedens in dämmerndem Dahinbrüten. Wenn also der internationale Sozialismus sich organisiert zum Zweck der Sicherung des Völkerfriedens durch die Abschaffung der kapitalistischen Vorrechte und durch die Befreiung der Arbeit, so bedeutet das nicht nur ein Ringen gegen Unrecht und Gewalt- tätigkeit. Es ist dies auch ein Kampf mit der Zweideutigkeit und den Widersprüchen, die auf die Dauer das geistige Leben der Völker untergraben. Zu diesem großen Werk der sozialen und geistigen Revolution kann das deutsche und französische Proletariat ungemein viel durch seine Einigung und gemeinsames Eingreifen beitrager». Hoch und klar leuchtet uns also unsere Pflicht. Wir haben immer mehr zu sorgen für die Verbreitung unserer Idee, wir haben immer mehr Kräfte zu erwecken, und zn sammeln, und zu ordnen; und dann haben wir den Kampf durchzutämpfen bis zum endlichen Sieg der internationalen Sozialdemokratie, aus dem ein dauernder Zustand der Gerechtigkeit und des Friedens hervorgehen wird! tarier Deutschlands auch ihrerseits sich erheben, um ihren festen Willen zu bekunden, daß der Friede erhalten wird. Nun, wenn wir denVorwärts" lesen, das offizielle Organ von zwei(!) Millionen teutonischer Sozialisten, so finden wir darin keine Zeile, die auf eine solche Meinung schließenläßt. Das kommt daher'es wäre kindisch, es zu leugnen: die deutschen Sozialisten sind alle sehr chauvinistisch, und in dem Augen- blick, wo das deutsche Vaterland ihre Hülse anrufen lvird, werden sie sich bereit erklären, dem Ruf des Kaisers mit Enthusiasmus zu folgen. Dies ist es, was unsere Sozialisten stets verschweigen, unsere Sozialisten, welche die rinzigen sind, die daS Gefühl der Vaterlandslosigkeit nähren. Man darf getrost gestehen, daß die Zeitungen der fran- zösischen Reaktton und des französischen Chauvinismus an unsinnigen Wahrheitswidrigkeiten nicht zurückstehen hinter ihren deutschen Gesinnungsverwandten in der Presse und im Reichskanzlerpalais. Hüben und drüben dasselbe Manöver. In Frankreich schmäht man die französischen Sozialisten als Vaterlandslose und läßt diese Vaterlandslosigkeit um so abscheulicher er- scheinen, indem sie in Gegensatz gesetzt wird zu dem patriottfchen Eifer und der Kriegsbereitschaft, die man den deutschen Sozialisten anlügt. Warum sollen es unsere B ü l o w s besser machen? Es könnte jemand meinen: Doch Bülow ist Kanzler des Reichs und hat die Aufgabe, sich ein wenig um die Wahrheit der politischen Bestrebungen des internattonalen Sozialismus zu bemühen, was von Zeitungen, wie sie zittert wurden, nicht gerade gefordert werden muß. Der Kanzler des Deutschen Reichs zieht jedoch vor, an Staatsmannskunst mit Blättern vom Werte desRappel" und derPatrie" zu rivalisicreu. Es bestätigt sich, daß Fürst Bülow , soweit Frankreich in Betracht kommt, die Arbeit der deutschhetzerischcn Nattonalisten betrieben hat. Die reaktionären Blätter, wie diePatrie". aber. auch derTenrps" und andere, die in Jaures den wachsenden Sozialismus hassen, nutzen die Bülowsche Note eifrig jürdenChauvinismus aus. Sie bemühen sich, die sozia-