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Krieg den Zarenschergen. Odessa , 17. August. In ein Eisenbcihndcpot wurde eine BomBe geschleudert, wodurch ein Inspektor und vier Polizisten auf der Stelle getötet wurden. Einem Kasscnboten wurden auf offener Straße 16000 Rubel geraubt. Zwei verwundete Anarchisten sind der Tat verdächtig verhaftet worden. Odessa , 17. August. In Plozk, wo gestern durch eine Bombe fünf Polizeiageuten getötet wurden, sind auf ein verabredetes Zeichen alle Polizciagenten, die sich auf der Straße befanden, getötet oder verletzt worden. Odessa , 17. August. General Kaulbars, der fortgesetzt Droh- briefe erhält, hat beschlossen, seine Wohnung nicht mehr zu ver- lassen. Straßenbahuerstreik in Riga . Riga , 17. August. Die Bediensteten der hiesigen Straßenbahn sind wegen wirtschaftlicher Forderungen in den Ausstand getreten. Brandschatzungen. Frankfurt a. M., 17. August. DieFrankfurter Zeitung " nicldet aus Odessa : Aus dem hiesigen Bahnhofe überfielen gestern sieben Anarchisten den Eisenbahnkassicrer und nahmen ihm 5500' Rubel weg. Sie flüchteten dann und warfen unter die sie verfolgenden Polizisten eine Bombe, durch die ein Polizist getötet und ein anderer verwundet wurde. Es gelang jedoch, drei der Anarchisten zu verhaften. Odessa , 17. August. Eine ans acht Mann bestehende Räuber- bände überfiel auf offener Straße den Eisenbahnbcamten Suchanow , raubte ihm mehrere Tausend Rubel. Verfolgt, warf die Bande mehrer Bomben, welche glücklicherweise nicht explodierten. Sie gab dann mehrere Revolverschüsse ab, wodurch zwei Personen verletzt wurden, worauf mehrere Räuber festgenommen und einer getötet wurde. Im übrigen herrscht in Odessa seit einigen Tagen völlige Ruhe. Kostroma , 16. August. (Von einem besonderen Korrespondenten.) Gestern abend überfiel zehn Werst von hier eine Bande junger Bauern mehrere Sommerwohnungen. Während einige Besitzer sich mit Geld loskauften, wurde die Wohnung eines anderen verwüstet und die Frau des Inhabers mißhandelt. Die deutschen Bewohner der Stadt ziehen fort. Den Henkern entkommen. Petersburg, 17. August. Meldung der Petersburger Telegraphen- Agentur.) Das Ministerium des Innern erhielt die Nachricht, daß heute vormittag in einer Entfernung von 227 Werst von Petersburg auf der Warschauer Eisenbahn der von der Regierung der Schweiz wegen Teilnahme an dem Naubüberfalle aus die Mos- kauer Kreditgesellschaft ausgelieferte Bjelenzow sich aus dem Fenster des von Warschau kommenden Zuges hinausstürzte. Einer der ihn bewachenden Gendarmen sprang sofort nach. Trotzdem Bjelenzow sich starke Verletzungen zugezogen hatte, gelang es ihm, sich in den Wald zu flüchten. Soldaten durchsuchen ge- meinsam mit den Bauern den Wald. Ein Verlust der Revolution. Helsingfors , 19. August. lMeldung der Petersburger Telegraphen- Agentur.) Der hiesige Generalgouverneur erhielt von dem Gouver- neur von Wasa die Mitteilung, daß in der vergangenen Nacht von der Polizei und von Zollbeamten 20 Werst von Nikolaistad am Meeresufer 180 Gewehre und 24000 Patronen beschlagnahmt worden seien. Die Agrarbewegung. Die Agrarbewegung i» Zeirtral-Rußland hatte im Sommer 1906 eine neue Gestalt angenommen. In zahlreichen Gebieten sind stranim durchgeführte weite Strecken umfassende ländliche Streiks ausgebrochen. Die gesamte Bauernbevölkerung eines Bezirks forderte genau festgesetzte sehr hohe Löhne für die Land- arbeiter. Streikbrecher wurden gewaltsam entfernt und die Groß- grundbesitzer blieben auf dem Trockenen. Der ursprüngliche Zweck der Streiks bestand meistens darin, den Großgrundbesitzern die Weiterführung der Wirtschaft ganz unmöglich zu machen und da- durch auf friedliche Weise ohne Exzesse die Bodenreform zu erzwingen. An vielen Orten wurde von den Gutsbesitzern Militär zu Hülfe gerufen; es geschahen mehrmals Zusammenstöße mit Bauern; in einigen Gegenden, wie in mehreren Kreisen des Gouvernements Woronesch , ging die friedliche Agrarbewegung in eine gewaltsame über, Hcrrenhöfe wurden eingeäschert. Im großen und ganzen gelang es nicht, den passiven Widerstand der streikenden Bauernbcvölkerung zu brechen. Mit großer Besorgnis wurde von den Großgrundbesitzern der Zeit der Erntearbeiten entgegengesehen; würde das Korn auf den Herren- gütern ungemäht zugrunde gehen oder würden Bauern es sich gewaltsam aneignen? Das letztere ist mehrmals tatsächlich ein- getroffen. Die Streikbewegung aber nahm meistens eine neue Gestalt an: es wurden zwischen Gutsbesitzern und Bauern Ein- Verständnisse erzielt und solche Löhne für die Landarbeiter fest- gestellt, welche die früheren un, das Dreifache überstiegen, aber für die Herren nicht unerschwinglich waren. Eine der Gegenden, wo die Streikbewegung am strammsten Vor sich ging, war der Kreis Koslow sGouvernement Tambow). Die liberale Moskauer ZeitungSwobodnaja Shisn" Nr. 10 bringt ausführliche Angaben über den Verlauf der Erntearbeiten im Kreise Koslow. Die organisierte Streikbewegung hatte die Machthabenden mehr erschreckt, als die früheren Elementarausbrüche der Volks- leidenschaften. Militär wurde in die Dörfer geschickt, einflußreiche Bauern auf den Gemeindeversammlungen verhaftet usw. Es blieb aber alles ohne Erfolg. Der ursprüngliche Zweck, nämlich das Ver- jagen der Herren durch den Streik, wurde zwar nicht erreicht; als Ergebnis der Bewegung wurde aber ein sehr hoher Gewinn für die Bauernschaft erzielt. Der Lohn für die Arbeiter auf einer Des- jätine hatte früher 5 Rubel betragen, durch den Streik wurde er bis 15 Rubel erhöht. Der Tageslohn stieg von 50 Kop. bis 1 Rub. 10 Kop. für die Männer, und von 30 Kop. bis 60 Kop. ftir die Frauen. Für die Batraks sGesinde) stieg der Lohn von 60 Rubel jährlich bis 15 Rubel monarlich(mit Beköstigung seitens des Herrn). Bei der Durch- führung des Streiks ist nicht alles einwandfrei geschehen; zwischen verschiedenen Dörfern sind Zwistigkeiten ausgebrochen, und die Frage, wer aus diesem oder jenem Gute arbeiten solle, wurde bis- weilen durch Schlägereien entschieden; innerhalb der einzelnen Dörfer wurde gestritten, wer die Arbeiten übernehmen solle; bisweilen wurden die Arbeiten von den Bauern in der Reihenfolge ausgeführt, die reichsten Bauern(die früher nie Lohnarbeiten übernommen hatten) beteiligten sich auch an den gegenwärtig so vorteilhaften Arbeiten, die ärmeren jdie früher beständig bei den Gutsherren gearbeitet hatten) fühlten sich beeinträchtigt; die Herren benutzte» diese Zwistigkeiten, um die Löhne herabzusetzen. Im ganzen aber verlief die Bewegung in begeisterter Stimmung und mit über­raschendem Erfolg. So weit dieSwobodnaja Shisn". Die Hungersnot. Aus der Provinz gehen den Petersburger Blättern fast täglich Nachrichten zu, daß die Bauern hungern, erlranken und unter furcht- baren Qualen sterben. Die kasanische Filiale des Komitees der kaiserlichen Freien ökonomischen Gesellschast hat einer Mitteilung des Dwadzaty Wek" zufolge jede Hoffnung aufgegeben, die Genehmigung zur Eröffnung von Spcisehallen zu erhalten und hat sich daher dazu entschlossen, der Bevölkerung die Verpflegung in Naturalien nach dem Maßstabe auszuhändigen, daß der Auswand pro Esser monatlich 1 Rubel 20 Kopeken<2,50) beträgt. Die Bauern des Gouvernements Jsamatra zogen in früheren Mißerntejahren stets nach dem benachbarten Uralgebiet, indes sind dort die Löhne so stark gefallen, daß sich der eingewanderte Einzelarbeiter wohl er« nähren, nichts aber für seine Familie ersparen kann. Hierzu tritt noch die Frage der Ernähmng des Viehes, für das kein Futter vor­handen ist. Der Korrespondent des Blattes hat eine Bauernhütte in einem hungernden Dorfe aufgesucht, in welcher er einen Greis und eine Frau vorfand, die vier Tage nichts genossen hatten. Sie klagten darüber, daß ihnen die Gaumen schwellen und der Leib, aber der Tod sich noch nicht einstellen will. Als man ein Stück Weißbrot vor den Greis hinlegte, wollte er seinen Augen...cht trauen, daß er wirkliches' Brot vor sich sehe, und noch weniger glauben, daß er das Brot essen dürfe. Als man auch der Frau das Brot reichte und sie den Versuch machte, es zu essen, stellte sich heraus, daß der Skorbut schon zu weit bei ihr vorgeschritten war. Sie konnte vor starken Schmerzen nichts mehr essen, aber ihr Blick hastete mit wahnsinniger Gier aus den Eßsachen. Zahlreiche verlumpte halb bekleidete Bauern streifen an den Ufern der Wolga umher und suchen nach Arbeit. Eine derartige Gruppe von Bauern aus Ssimbusk hatte sich nach Astrachan durch- geschlagen und beschloß, da sie keinen anderen' Ausweg vor sich sah, ihre Frauen in den örtlichen öffentlichen Häusern zu 20 Rubel <42 M.) Pro Frau zuversetzen". Dieses entsetzliche Geschäft schlössen sie schriftlich ab und verpflichteten sich zu einem Reugeld, wenn sie aus irgend welchen Gründen von ihrer Aknmchung zurücktreten sollten. D>e Depeschen der offiziellen russischen Agentur bringen neue Nachrichten von der wachsenden Not; im Süden, in den Gouvernements Jeknterinoslaw, Poltnwa und anderen beginnt das bereits geschnittene Getreide auf dein Felde zu faulen, da auhaltenoe Regengüsse jede Ermearbeit unterbinden, ebenso auch in anderen Gouvernements. Damit verschlechtert sich die Lage der Hunger- rayons um ein weiteres. politilcbe Ocberftcbt Berlin, den 17. August. Die Verantwortlichen des Vertuschungssystems. Das Organ des Herrn Erzberger, das Stuttgarter Deutsche V o l k s b l a t t", veröffentlicht in seiner Dienstagsnummer einen Artikel, dessen Spitzen sich ganz un- verkennbar gegen sehr hochbeamtete Personen richten. In diesem Artikel wird ausgeführt, dasBerliner Tageblatt" hätte vor einigen Tagen auch darauf hingewiesen, daß P o e p l a u schon vor längerer Zeit und besonders in einer Eingabe vom 22. November 1904 den Herrn Reichskanzler auf die einer Abhülfe dringend bedürftige il Mißstände innerhalb der Kolonialverwal- tung hingewiesen habe. Das sei richtig. Denn in der genannten Anzeige des damaligen Geheimen Sekretariats- assistcnten an den Herrn Reichskanzler heiße es nach zuvoriger Anführung sehr schwerwiegender Tatsachen wörtlich: Als Angehöriger des Deutschen Reiches halte ick mich nicht nur für berechtigt, sondern sogar direkt für verpflichtet, Eurer Exzellenz, als dem verantwortlichen Reichskanzler, Vorstehendes und erforderlichenfalls weiteres anzuzeigen, da die beregten Handlungen und Unterlassungen instfern gemeingefährlichen Verbrechen gleich zu achten sind, als sie Gut und Leben unserer Landsleute gefährden und bereits schwer geschädigt haben. Das deutsche Volk hat seine Angehörigen und sein Vermögen zu besseren Zwecken nötig, als daß es beides der Selbstsucht und den Berbrecherlaunen einzelner zum Teil von Rcgierungs- beamten direkt protegierter, unehrenhafter Beamten opfert. Der Wunsch Friedrichs des Großen in seinem politischen Testament für Preußen, daß letzteres stets mit Gerechtigkeit, Wei shcit und Nachdruck regiert werde, daß es durch die Milde der Gesetze der gesegnetste, mit Rücksicht auf die Finanzen der am besten ver- waltete und durch ein Heer, das nur nach Ehre und edlem Ruhme strebt, allezeit der am besten verteidigte Staat sein möge usw.: Dieser Wunsch gilt jetzt selbstverständlich auch für das Deutsche Reich . Um diesen Wunsch des deutschen Volkes aber zu erfüllen, ist, wie Eurbr Exzellenz wohl nicht zweifelhaft sein wird, in der Koloninlverwaltnng eine Reformation an Haupt und Gliedern, d. h. in der Kolonialabteilung hier wie in den Schutzgebietsverwnltungen erforderlich. Es ist in dieser Zeit allgemeiner Unzufriedenheit und Gärung doppelt notwendig, daß Eure Exzellenz mit den erwiesenen unfähigen und selbst verbrecherischen Elementen im Beamtenkorps aufräumen. In- dem ich von einem bisher schlecht unterrichteten Reichskanzler an einen besser zu unterrichtenden Reichskanzler appelliere, rufe ich: victsaut canceUarius ne quid detrimenti res publica capiat!"... Auf diese Eingabe des durch seine amtliche Information über die koloniale Mißwirtschaft authentisch informierten Beamten erfolgte so versichert das Organ des Herrn Erz- berger nichts. Es sei denn, daß man den Versuch gemacht habe, diesen Beamten für geistesgestört zu erklären! DasDeutsche V o l k s b l a t t" schreibt nämlich weiter: Ein jeder, zumal derjenige, welcher Beamtenberhältnisse kennt, wird bei einer solchen ungewöhnlichen und ein- dringlichsten Vorstellung des Geheimen Sekretariats- assistenten Poeplau an seinen höchsten Dienstvorgesetzten, den Reichskanzler, berechtigterwcise fragen, was der Reichskanzler hiernach getan hat. Die Antwort ist leider die, daß der Reichs- kanzler auf diese Vorstellung des Poeplau, wie auf frühere nicht weniger dringende Vorstellungen desselben nichts vcranlaßte: weder gegen die von Poeplau schwer beschuldigten namhaft ge- wachten hochstehenden Beamten, noch gegen den so überaus schwere Anschuldigungen erhebenden Poeplau. Bemerkt sei hier- bei, daß die Erklärung des verstorbenen Staatssekretärs v. Richt- Hofen im Reichstage am 14. Dezember 1905, daßdie größte Wahrscheinlichkeit dafür bestand, daß Poeplau an Querulantcnwahnfinn litt, und daß der erste Arzt, der Poeplau für die vom Auswärtigen Amte beabsichtigte zwangsweise Pensionierung untersucht hatte, in der Tat seinen Geisteszustand für nicht normal erklärt hat" den amtlich feststehenden Tatsachen direkt widerspricht. Denn wie aus den Poeplau selbst zugestellten amtlichen Protokollen hervorgeht, ist weder von der Behörde bei Poeplau Querulantenwahnsinn vermutet, geschweige als wahr- scheinlich angenommen, noch jemals von dem betreffenden Arzt der Geisteszustand Poeplaus für nicht normal erklärt worden. Der betreffende Arzt hat vielmehr von vornherein und zwar schriftlich und an EidcSstatt dahin sich geäußert, daßeine Störung der Geistestätigkeit bei Poeplau nicht vorhanden ist". Erst als am 28. Januar 1905 Dr. Müller- Sagau, welchem als Reichstagsabgeordneten, d. h. als einem nach der Reichs- Verfassung berufenen Vertreter des deutschen Volkes und Kon- trolleur der Verwaltung Poeplau sich anvertraut und von seinen vielen unbeachtet gelassenen Vorstellungen an den Reichskanzler Kenntnis gegeben hatte, letzteren mit Bezug auf die Bcschuldi- gungen Poeplaus persönlich interpellierte, da versprach der Reichskanzler dem Abgcorneten eine sofortige Untersuchung der von Poeplau zur Sprache ge- brachten Mißstände. Tatsächlich beauftragte der Reichs- kanzler den Chef der Reichskanzlei v. Loebelldrissimc mit Feststellung des Sachverhaltes und weiterem Vortrag in dieser Angelegenheit". Das Ergebnis der Feststellung des Sach- Verhalts und des, wie man annehmen mutz, stattgcfundenen Vortrages v. Loebell beim Reichskanzler war nun aber man denke hierbei an die im Reichstage wie in der letzten Zeit durch die Presse bekannt gewordenen Kolonialspandalel das, daß lediglich gegen Poeplau wegen Verletzung der Amtsverschwicgen- heit das Disziplinarverfahren auf Dienstentlassung eingeleitet wurde, weil er von den nunmehr bekannt gewordenen, wie von anderen, von der Behörde nicht beseitigten Mißständen dem Ab- geordneten Dr. Müller- Sagan und, wie sich herausstellte, auch dem Abgeordneten R o e r c n deshalb Kenntnis gegeben hatte, damit diese: den Reichskanzler zu der erforderlichen Remedur veranlaßtenl" Man ist ja durch die Kolonialskandale an starken Tabak gewöhnt worden aber diese Enthüllungen eröffnen denn doch den Einblick in ein Vertuschungssystem, wie man es kaum Mite für möglich halten follent Auffallenderweise hat bis fetzt dieg r o ß e" Zentrums- presse diesen Kapitalfall totgeschwiegen! Und dabei klagt dieselbe Presse darüber, daß die Kolonialverwaltung nur den kleinen Sündenböcken zu Leibe gehell Zum Breslauer Blutbadprozeh schreibt dieBreslaner Volkswacht": Jetzt haben wir die Anklageschrist gelesen, haben auf 76 Groß- folioseiten die vom Staatsanwalt und von Firleermittelten" Er« gebnisse derBeweisaufnahme" der Vonmtersuchung studiert, haben mit wachsendem Erstaunen nach Argumenten gesucht, die die An- geklagten als Verbrecher, als Ansrührer, als Terroristen, als ja als was denn noch? erscheinen lassen konnten. Alles umsonst. Das Ergebnis einer 17 wöchentlichen Untersuchung ist so mager wie Podbielskis Fell dick ist. Alles war ein grauer Spuk. Ein häßlicher Traum. Ein daher- schleichendes Gespenst. Ein Roman das Ganze. Zu dieser Anschauung kommt, wer Geduld dazu hat, das den 43 noch übrig gebliebenen Angeklagten soeben zugegangene 76 Seiten lange Elaborat des Staatsanwaltes und des Herrn Firle zu studieren. Wir hatten die Geduld. Wir, die wir jenen denkwürdigen Abend am Striegauerplatz selbst mit erlebt, die wir die Blutspuren noch an unseren Stiefeln sehen, die wir die verlorenen Revolverkngeln der gegen Wehrlosekämpfenden" Polizisten noch bei uns tragen wir haben mit Eifer studiert, wie die Antlagebehvrde jenes Nieder- stechen und Niederschlagen braver Arbeiter, Frauen und Kinder be- wertet. Es war nur ein Roman. Was da die Zeitungen von Taten der Polizisten gemeldet alles nicht wahr I Was die Hunderte von Angenzeugen der empörten Oeffentlichkeit mitgeteilt alles nicht wahr I Was uns die zerstochenen Opfer und Flüchtlinge selbst er- zählt alles nicht wahr! Ja, was wir selbst auf den blutenden Körpern der Opfer als Spuren von Säbelhieben gesehen, was uns damals das Blut in den Adern erstarren ließ, was wir in den Opcrationszimmern der Acrzte und Krankenhäuser mit eigenen Augen erblickt-- alles, alles nicht wahrt Ein Roman, nichts weiter I Ein grausames Phantasiegcmälde... So erzählt uns die Anklageschrift. Ach: Das befreiende Ge- lächter ganz Deutschlands möchten wir hören, wenn wir das Elaborat hier abdruckten! Wie werden die Graf Pfeil , Präsident Bienko s tutti quanti dem Staatsanwalt gratulieren, daß das Gesetz uns hindert, das zu tun I Und doch: wie töricht von ihnen I Bleibt doch den Verfassern des Dokuments nur eineGalgenfrist", nur eine kleine Ewigkeit". In wenigen Wochen wird das grelle Licht der öffentlichen Gerichtsverhandlung die letzten Schleier zerreißen und der aufhorchenden Welt zeigen, was die finsteren Schreibstuben der Firle und Hensel bisher als großes, nicht einmal den Verteidigern der Angeklagten zugängliches Geheimnis gehütet, gehegt und gepflegt.... Von dem köstlichenErgebnis der Ermittelungen" dürfen wir leider nichts mitteilen. Dagegen ist es mindestens ebenso inter- essant, zu erfahren, was alles nicht in der Anklageschrift steht. Kein Wort davon, wer dem Viewald die Hand abgehackt hat, kein Wort davon, wer den Arbeiter, der einen alten Greis schützen wollte, niedergestochen, kein Wort davon, wer Fliehende von hinten zerstochen, kein Wort davon, wer die 74 Schritte lange Blutlache ver- schuldet, kein Wort davon, wer den Tod des Arbeiters Bauch herbei- geführt, kein Wort davon, wer auf Frauen und Kinder eingehauen, kein Wort davon, wer gedroht, dem Kinde, das eine Mutter an der Posenerstraße auf dem Arme trug, den Kopf abhacken zu wollen. kein Wort davon, wie Polizisten blindlings in die fliehenden Massen gehauen, kein Wort davon, daß lange, lange Stunden vor dem Krawall" ungezählte Polizisten durch ihr Bewachen der Arbeits- willigen die Menge gereizt, kein Wort davon, daß lange vor dem 19. April die Säbel geschliffen und die Revolver angeschafft worden waren, kein Wort davon, was auf der Polizeiwache die Ursache jenes entsetzlichen Schreiens war, das noch heute Hunderten in den Ohren gellt, kein Wort davon, daß sogar Arbeitswillige, Beamte und bürger- liche Blätter die alleinige Schuld an der furchtbaren Schlacht der Polizei zugeschoben, kein Wort davon, daß sogar die, die zur Ruhe mahnten, grausam mißhandelt wurden kurzum: Das W e s e n t- l i ch st e an der ganzen Affäre existiert für den Staatsanwalt nicht l Dafür aber führt er eine stattliche Kolonne von 113 Zeugen, meist Polizisten und Arbeitswillige, auf, die bezeugen sollen unter Anrufung Gottes des Allmächtigen und Allwissenden, daß Grausames am 19. April begangen worden ist und gerochen werden muß an den Opfern des Blutbades I... Der Prozeß wird einen kolossalen Umfang annehmen. Von der Verteidigung dürften noch mindestens 100150 Entlastungs- zeugen geladen werden, die die Wahrheit unverhüllt und rücksichtslos zu sagen bereit sind und hoffentlich dazu bei- tragen werden, das Spinngewebe staatsanwaltlicher Anklagelunst radikal zu zerreißen und den Urhebern desRomanS" ihre Doku- mente in Fetzen zerrissen zu Füßen zu legen. Und dann werden wir weiter sehen." »» Oeutfckes Reick. Wird Pod gegangen werden?! In Wilhelmshöhe findet heute eine Konferenz Wil­helms II. mit Bülow statt. Unmittelbar vor dieser Konferenz tauchte nun die Behauptung auf, daß das Schicksal Pod- bielskis bereits entschieden sei. DasR e i ch" wollte wissen, daß der Kaiser Herrn v. Podbielski auf- geforderthabe.seinenAb schiedeinzureichen. Auch die Antwort Podbielskis weiß es bereits mitzuteilen. Diese Nachricht erhielt dadurch eine gewisse Bestätigung, daß auch die agrarischeD t s ch e. T a g e s z t g." ankündigte, daß Herr v. Podbielskiin den nächsten Tagen" sein Rück- trittsgesuch einreichen werde. Ja, dieses Blatt nannte bereits zwei Kandidaten für den vakanten Posten, und zwar den früheren Leiter der Reichskanzlei, jetzigen Unterstaatssekretär im Landwirtschaftsministerium, Herrn v. Conrad, und den Grafen Schwerin- Läwitz, den Präsidenten des preußischen Landwirtschaftsrates. Der erste wäre dann der Kandidat des Reichskanzlers, der zweite der Kandidat der Agrarier. Demgegenüber meldete das zuweilen halboffiziöse Scherl- blatt: Eine Reihe hiesiger Parteiblätter hat gestern abend die Nachricht verbreitet, der Kaiser habe den Landwirtschaftsminister von Podbielski aufgefordert, sein Entlassungsgesuch einzureichen. Demgegenüber ermächtigt uns der auf seinem Gute Dalmin weilende Herr Minister, mitzuteilen, daß ihm bis zur Stunde weder von einer solchen Auf- forderung Seiner Majestät etwas bekannt sei, noch daß er sein Abschiedsgesuch eingereicht habe." Danach wäre die erwähnte Nachricht Vorläufig als eine der EntWickelung der Dinge vorauseilende Kombination zu betrachten, die in der Gespanntheit der Lage ihre Erklärung findrt.