Hagens gestrige Ausführungen völlig in ihr Gegenteil verdrehtund daraus Gelegenheit zu unberechtigter Erwiderung ge-nommen babe.Der Abgeordnete Heckscher(frs. Vg.) interpellierte denStaatssekretär darüber, wie er sich zu der Handhabung desGesetzes bezüglich der Auswahl der Schöffen und Geschworenenverhalte.(Bekanntlich werden die Arbeiter von dieser Besetzungder Gerichte so gut wie gänzlich ausgeschlossen.) Die Kontro-Verse machte den Staatssekretär, der diese Ausschließung derArbeiter durch seine Haltung begünstigt, nervös. Es sprangen ihmdeshalb einige dienstbeflissene, um die Gunst dex Regierung buhlendeAbgeordnete bei, die behaupteten, die Klagen über die Aus-schlietzung der Arbeiter seien unberechtigt!— Besonders tatsich dabei der sächsische Abgeordnete Amtsrichter Wagnerhervor, der die Ausschließung sozialdemokratisch gesinnterArbeiter als s o l b st v e r st ä n d l i ch hinstellte und in der Artder Reichslügenverbändler gegen die Sozialdemokratie operierte.Gegen dieses zweierlei Recht brutal empfehlende Auftretengingen mit aller Schärfe unsere Genossen Heine, Stadt-Hägen und Singer vor. wobei die sächsische Recht-spreckung einer verdienten Kritik unterzogen wurde.Mit unnötigem Eifer trat der Abg. Müller- Meiningendem Genossen Singer entgegen, der die Haltung des„nationalen" Blocks in dieser die Arbeiter betreffenden Fragefestgenagelt hatte. Als echter Blockredner reklamierte Müller-Meiningen die Vertretung der Arbeiter für seine Parteiund seine Blockfreunde. Es wurde ihm aber von Stadthagennachgewiesen, daß die sozialdemokratische Fraktion schon 1693Anträge gestellt hat. welche die Heranziehung von Arbeiternzu den Schöffengerichten usw. energisch forderten.Zur Verteidigung der Wagnerschen Ausführungen ergriffnoch der Abgeordnete Kreth das Wort, der aber die Debattewieder auf persönliches und parteipolitisches Gebiet zog. Mitdieser Kontroverse schloß die Beratung, in der das»arbeiter-freundliche" Gewand des Blocks arg zerschlissen wurde.Herrenhaus.Das Herrenhaus, das am Mittwoch eine Sitzung, d i e b r i t t ein dieser Session, abhielt, hat seinem alten Rufe, das amschnellsten arbeitende Parlament der Welt zu sein. Ehre gemacht:In knapp einer Stunde verabschiedeten die„geborenen" Gesetzes-geber ein halbes Dutzend Vorlagen, darunter die betreffend die Er-Weiterung des LandeSpolizeibezirks Berlin(Einbeziehung von Wilmers-dorfj. und sie nahmen außerdem noch den Antrag Stolberg aufUnterstiitzung der durch Sperrmaßregeln geschädigten Grundbesitzeran. Die Kommission hatte an dem ursprünglichen Antrag einigegeringfügige Aenderungen vorgeschlagen, denen das Hau? zustimmte.Am Donnerstag steht neben kleinere» Vorlagen und Rechnungs-fachen das Aeamtenpensionsgesetz auf der Tagesordnung.Kolonialpolitik und Landwirtschaftsrat.Der zurzeit hier tagende Deutsche Landwirtschqstsrat hatte heuteeinen sogenannten großen Tag. Da alles in Kolonialpolitik macht.wollte auch diese von dem bekannten Grafen Schwerin-Löwitz geleiteteBereinigung nicht zurückbleiben und hatte deshalb als wichtigstenPunkt auf bi» heutige Tagesordnung das Thema:. D i e E n t»Wickelung und Besiedelung unserer Kolonien"gesetzt. Um der Inszenierung die höhere nationale Weihe zu geben.fand die Verhandlung in höchsteigener Gegenwart des Kolonial-direktors D e r n b u r g, der bei seinem Erscheinen lebhaft begrüßtwurde, des Präsidenten der Deutschen Kolonialgesellschaft HerzogJohann Albrecht von Mecklenburg, und der Spitzen der kolonialenund landwirtschaftlichen Verwaltungsbehörden statt.Zum ersten Referenten war Rittmeister v. Böhlendorff-K ö l p i n bestellt. Er sprach von der Bedeutung der Landwirtschaftfür die Kolonien, verlangte die Ausrüstung von Forschungsexpeditionen,dt« Anlegung von landwirtschaftlichen Versuchsstationen und vonEisenbahnen und forderte dann die Erziehung der Eingeborenenzur Arbeit. Grundsätzlich, meinte er, müsse als Hauptaufgabebetrachtet werden, in möglichst großem Maßstabe die Eingeborenenfür die Landkulmrarbeiten zu erziehen und von ihnen in selb-ständigen Betrieben die Bodenproduktion ausüben zu lassen. Daßman daneben große Plantagenbctriebe auch als einen willkommenenKulturförderer in der Kolonie betrachtet, ist ebenso selbstverständlich.wie es falsch sein würde, lediglich Großbetrieb(Plantage, ibetricb)erstehen lassen zu wollen. Die Hauptsache sei. wie in jeder ge-sunden Volkswirtschaft, daß in den kolonialen Gebieten nach Mög-kichkeit viel an Landesprodukten wie an Vieh erzeugt werde.Anders als Herr v. Böhleichorff faßte der zweite ReferentGeneralsekretär Dr. Sander feine Ausgabe auf. Hatteersterer von der großen Vermehrung der kolonialen Landesproduktegesprochen, so suchte Herr Sander, um die Herren Landwirte zu be.ruhigen, diesen zu beweisen, daß auf einen nennenswerten Ge«treidebau in den deutschen Kolonien niemals zu rechnensei. also alle Befürchtungen vor einer kolonialen Getreidekon-kurrenz hinfällig wären. Zwar habe Exzellenz v. T r o t h a in einerWahlrede in Köln der Ansicht Ausdruck gegeben, Südafrika iverdeeinst so viel Weizen produzieren können, um Deutschlanddamitzu versorgen. DaS halte er nach seinen Erfahrungenund seiner Kenntnis der Kolonien jedoch für gänzlich aus-geschlossen. Habe daS Kapland doch auch bisher nie Getreidenach dem Mutterlande ausgeführt, sondern müsse im GegenteilauS Australien Getreide importieren.Auch der dritte Referent Herr Dr. Max Becker arbeitete nachdiesem Schema. Der Getreidebau habe in den deutschen Koloniennirgends in nennenswertem Umfange Aussicht aufErfolg, wohl aber könnten die für den Bedarf des einzelnenund der Gesamtheit in diesen beiden Schutzgebieten notwendigenvegetabilischen Nahrungsmittel selbst erzeugt werden. Die Klein»siedelung sei auf eine intensive Gartenkultur angewiesen, müsseaber auch Viehzucht treiben.Nachdem zur Beruhigung der agrarischen Konkuprrenzbifürch.Jungen die Kolonien als ganz ungeeignet für den Getreidebau hin-gestellt wovden waren, wurde wieder das alte Schema hervorgeholtund der deutsche Kolonialbesitz als eine höchst wertvolle Erwerbunggepriesen. Herzog Johann Albrecht zu Mecklenburg sprach von derVerminderung der Zweihufer(Wiederkäuer) i mKolonialamt, von Südwest im Vergleich zu Mecklenburg undder Nützlichkeit des Bahnbaues. Der frühere Gouverneur vonDeutsch-Ostafrita Graf Götzen erörterte die Frage, ob Ostafrika zurAnsiedelung sür �Deutsche geeignet sei. Er empfahl, einen Ver-such zu machen. Dann redete Gouverneur v. Lindcquist über dasprächtig« Klima von Südwestafrika und der unvermeidliche FarmerSchlettwein über koloniallandwirtschastliche Praktik,Darauf wurde diniert.»»Dcutfchca Reich.Sertuschung der kolonialen BertnschiingStaktlt des Zentrums.Dt-.Köln. Volks ztg." versucht die Tatsache in Abredezu stellen, daß die Abschüttelung der Grzbergerschen undRodrenschen Kolonialenthüllungen durch den Fraktionsredner�'rhrn. v. Hertktng. sowie ihre eigene Mahnung, in der Kritik derkolonialen Mißstände künftig„vernünftiges Maßhalten"zu üben, da sich die Ocffentlichkeit„schon viel zu lange"mit den von Roeren und Erzberger aufgedeckten Skandalen be-schäftigt habe, eine ultra montane Absage an dieKolonialkrittk selbst bedeute. Das Zentrum werde es auchkünftig nicht an schärfster Kritik fehlen lassen. Nur der„Wieder-holmig immer derselben alten Geschichten" könne es„keinen Geschmack abgewinnen." Im übrigen sei.kein Mitglieddes Zentrums von dem sozialdemokratischen Hauptorgan schlimmerbegeifert" worden als gerade Erzberger, als dessen Anwalt sich jetztder„Vorwärts" aufspiele.Auf diese schwächliche Ausrede entgegnen wir: Dem„Vorwärts" ist es gar nicht eingefallen, sich als ErzbergerS Anwaltaufzuspielen. Er hat nur die Tatsache festgestellt, daß Erzbergerund Roeren die einzigen Zentrumsabgeordneten waren, die sichin das Studium der Kolonialskandale vertieft hatten. Ihre Sach>Verständnis und ihren Fleiß auf diesem Gebiete haben wir auchjederzeit rückhaltlos anerkannt: unser Tadel setzte erst dann ein,als sich Erzberger und Roeren schließlich der fraktionellenVertuschungSpolttik unterwarfen.Wenn die„Köln. Volksztg." jetzt wegwerfend von den„altenGeschichten" spricht, so betonen wir, daß gerade die Bertuschungs-und Hintertrepprnpolitik des Zentrums resp. seiner Kolonial-sachverständigen die Schuld daran trägt, daß diese Skandalosa erstnach Jahren an die Oeffentlichkeit kamen! Und die Zentrumsfraktiondesavouierte dann noch obendrein ihre eigenen Fraktionsmitglieder— wohlgemerkt, die einzigen aus der Fraktion, die sich überhauptmit den Kolonialskandalen befaßt hatten! Diese„alten Geschichten"der ungeheuerlichsten Art sind aber auch heute noch un-gesühnt! Die Hauptschuldigen sitzen noch in den einflußreichstenPosten der Regierung! Lediglich die Ankläger der Kolonial-skandale, die Wistuba und Pöplau sind niedergeritten! Undtrotzdem soll Gras über die„alten Geschichten" wachsen!— Undda will die„Köln. Volksztg." noch behaupten, daß sie nicht fürdie Unterdrückung der Kolonialskandale eingetreten seil»».Politischer Boykott.Die„Köln. Ztg." veröffentlicht einen Bericht aus Illingen(Regierungsbezirk Trier) über«inen dort gegen isrealitische Geschäfts-leute durchgeführten Bohkott. In dem Bericht heißt es:In unserem 4000 Einwohner zählenden Ort besteht eine Anzahlnicht unbedeutender Geschäfte, die sich im Besitz von Israeliten be-finden. Die stark bevölkerte Umgegend deckt ihren Bedarf eben-falls in den hiesigen Geschäften. Seit Jahren war das Verhältnisunserer zu 90 Proz. katholischen Bevölkerung zu diese» israelitischenGeschäftsleuten das denkbar beste. Durch die letzte ReichstagSwahlist eS jedoch gründlich zerstört worden. Unser Ort gehört zumWahlkreise St. We»d«l-Ottiveiler-Meiselihei>n, in dem sich bei derletzten ReichstagSwahl der Zentrumskandidat Marx undder Nationalliberale v. Schubert gegenüberstanden.Die Wahl endete mit der Niederlage des Zentrums, das auseinen sicheren Sieg gerechnet hatte uno durch denZAusgang doppeltenttäuscht worden ist. Es war leicht sestzuftellen, daß die israe-litischen Geschäftsleute nicht für das Zentrum gestimmthaben lonnteir. Schon gleich nach der Hauptwahl setzte dieAgitation gegen die israelitischen Geschäftsleute ein: es iuurdenihnen Drohbriefe zugesandt. Der Ausgang der Stichwahl brachtedann die Judenhetze offen zum Ausbruch. Die Drohungenmehrten sich. In der Nacht wurden aufhetzerische Flugblätter indie Häuser geworfen, die„an die katholischen Glaubensgenossen"gerichtet waren und in denen es hieß, es sei festgestellt, daß dieJuden in Saarbrücken. Neuukirchen und Illingen liberal gewählthätten, Die Juden hätten damit gegen die Katholiken, die ihnendas ganze Jahr hindurch ihren Verdlenst zutrügen, gestimmt. Esfolgte dann die Aufforderung, nichts mehr bei den Juden zukaufen, sondern nur bei katholischen Geschäftsleuten. Der ge-schäftliche Boykott wird seit'vier Wochen streng durchgeführt, ja.immer schärfer gehandhabt, da nach und nach auch die Kundschaftin der Umgegend mit aufgehetzt wird."Liberale Blätter drucken diesen Bericht mit der höchsten sittlichenEntrüstung nach und fordern das Zentrum auf, sich zu verant-Worten. Jämmerliche Heuchelei I Gegen den Boykott sozial-demokratischer Arbeiter durch liberale Unternehmer haben sie nichtseinzuwenden, selbst wenn es sich bei diesem um die Vernichtung derwirtschaftlichen Existenz des Arbeiters, nicht nur»m eineSchmälerung des Geschäftsprofits handelt. Auch sür die Bohkottterungkatholischer Geschäftsleute durch eine protestantische, liberale Be-völkerung finden sie. wie die Beurteilung des Duis«burger Boykotts durch die liberale Presse beweist, vieleEntschuldigunasgründe. Aber die Boykottiemng liberalerjüdischer Geschäftsleute durch katholische Wähler— das istein Frevel an den hehrsten Ideale» der Kulturmenschheu.ein Rückfall in die schlvärzesten Zeiten mittelalterlicher Barbarei.Je nach dem politischen Glaubensbekenntnis der Boykottierten ändertsich also der Grad der moralischen Entrüstung. Wir werden erstdann die liberale Entrüstung für eine ernsthafte Sache ansehen,wenn die liberale Presse die Boykottierung sozialdemokratischerArbeiter durch liberale Unternehmer genau ebenso ver-urteilt, wie die Boykottierung liberaler jüdischer Geschäftsleutedurch gentrumswähler._Ein Urteil über W-hlfahrtseinrichtungen.„Die Gewerbefreihcit hat dem Arbeiter auch die persönlicheFreiheit gebracht! das Arbeitsverhältnis in Deutschland ist heuterechtlich frei. Arbeitgeber und Arbeitnehmer stehen sich theoretischals völlig gleichberechtigte Kontrahenten gegenüber. Die Arbeiterwollen diese Bestimmung auch in die Wirklichkeit umgesetzt wissen.Gegen den Mangel oder die Verteuerung von Arbeitskräften suchensich viele Arbeitgeber durch ihre sogenannten WoHlsaHrtSein-richtungen sicher zu stellen. Die w i ch t i g st e W o h l f a h r t S-e i n r t ch t u n g aber ist die praktische Anerkennung derGleichberechtigung durch Zulassung von Arbeiterausschüssenund Anerkennung der Organisation der Arbeiter durchihre Zuziehung bei Feststellung der Bedingungen dcS Arbeits-Vertrages. Darauf kommt es an. Wenn man den Arbeiter, der inNot ist, unterstützt, um ihn abhängig zu machen, bringtman ihn um die Möglichkeit, die anerkannte Rechtslage auS-zunützen. Das Arbeitsverhältnis ist„frei", aber wie sehr kanneSdurchWohlfahrtSeinrichtungengehemmt werden.Will der Arbeiter auf seinem Recht bei Abschluß der Arbeits»bedingungcn bestehen, so wird ihm gekündigt und daran sind dieschon oft erwähnten Nachteile der Wohlfahrtsein-richtungen geknüpft: Kündigung der Wohnung, Verlust derPension. ES ist immer die alte Geschichte: man hat das Bedürfnis,„großmütig" zu fein und„seinen" armen Arbeitern mehr zu gebenalS ihnen eigentlich von Rechts wogen zusteht, und verlangt von denalso Beschenkten, daß sie die Güte ihrer„Wohltäter" stets vorAugen halten und sich dafür dankbar erweisen, z. B.durch Verzicht auf politische und soziale Rechts-ansprüche. Menschenrechte sollen gegen einLinsenmuS«ingetauscht werden."So sprach nicht etwa ein Sozialdemokrat, sondern ein ch r i st>licher Gewerkschaftsführer in einer Versammlung christlicherKeramarbeiter der frommen Stadt Aachen. Vor einigen Jahrennoch würde kein Zcntrumsblatt angestanden haben, derartige Aus»führungen als„sozialdemokratische Verhetzung", ai»die Kampfeöart von Leuten zu bezeichnen, die auch die besten Ab.sichten begeifern und die besten Einrichtungen mit Kot bewerfen.Die christlichen Arbeiter haben<tl[p auch'N den dunlelstep Gegend«?zu lernen angefangen, seit sie sich um ihre wirtschaftlichen undsozialen Verhältnisse bekümmern und ihre Rechte gegen das Unter-nehmertum verteidigen müssen.Die Versammlung, in der obige Ausführungen gemacht wurden,fand statt zwecks Stellungnahme zu den Auseinandersetzungenzwischen den Arbeitern und den Firmcninhabern der Färb-Warenfabrik Gebr. Vossen in Aachen. Diese Firmawußte ihr Unternehmen bisher als M u st e r b e t r i e b anzupreisen.Damit, so meinte der Vorsitzende der Versammlung, habe manaber die Oeffentlichkeit nur getäuscht. Von derFirma, so führte der Referent in Anknüpfung an seine Schilderungvom Wesen der Wohlfahrtseinrichtungen weiter aus, seien ebenfallssolche Einrichtungen getroffen worden. Der Herr Kommerzienratglaubte, den Arbeitern mehr gegeben zu haben, als ihnen eigentlichzustehe. Die Arbeiter sind zum Teil von ihm abhängig ge-macht worden. Zum Dank fordert Herr Kommerzienrat Vossendie Arbeiter auf, ihm zu Liebe auf ihre Rechte zu ver-z i ch t e n und sich nicht der Organisation an-zuschließen. Und da wundert man sich noch, wenn die Arbeiter-schaft gegenüber diesen Wohlfahrtscinrichtungenimmer skeptischer wird. Sie erhält ein Stück Brot, das sieselbst erarbeitet hat, in höheren Ehren als einen geschenkten, abermit Preisgabe von Rechten und Freiheiten erkauftenKuchen. Wir wollen uns den Vorwurf der Undankbarkeit gegenübersolchen Einrichtungen gern gefallen lassen. Andererseits werdenwir alles daran setzen, über den wahren Wert solcherEinrichtungen die Oeffentlichkeit voll auf-zuklären. Die Arbeiterschaft kämpft nicht nur um höherenLohn, um kürzere Arbeitszeit, sie kämpft auch um ihre Rechte; dieArbeiter sind selbständig geworden, sie wollen auf eigenenFüßen stehen.Diese Auslassungen aus christlichem Munde sind umso be-merkenswerter, als gerade die katholischen Unternehmer im Rhein-land, die Zentrumsherrcn, sich viel auf ihre„Wohlfahrtseinrich-tungen" zugute tun— als Beweis ihrer Nächstenliebe und Arbeiter-freundlichkeit._Wer boykottiert?Das Organ der rheinisch- westfälischen Hütten- nnd Gruben-Magnaten, die„Rhein.-Wests. Ztg.", veröffentlicht einen ihraus nationalliberalen Parteikreisen zugegangenen Artikel, in dem esu. a. heißt:„Der wirtschaftliche Bohkott eines politischenGegners ist die denkbar r o h e st e Form, mit Ivelcher einWahtkampf geführt werden kann und bezeichnet die höchste Spitzeder G est n n ung s sch nll ff« lei, die gerade von der Sozial-demokratie gebrandmorkt worden ist. Was immer es sür Wahl-beeinflussungen geben kann, diese ist die schlimmste und ihre Aus-übung heißt geradezu die politische Gewissenlosigkeiterzeugen..."Den NationaUiberalen steht die moralische Entrüstung über denwirtschaftlichen Boykott wirklich sehr gut. Man hätte dort unten im Reicheder Fabrikpaschas zu solcher Entrüstung aber schon längst Ursache ge-habt. Die Wahlakten des Reichstags wissen davon zu erzählen.Der Exminister und vormalige nationalliberale AbgeordneteMöller mußte mehrere Male auf seinen Reichstagssitz„freiwillig"verzichten, weil er sonst wegen grober Stimmenerpressung.hinter denen die Drohung des wirtschaftlichen Boykotts stand, zumTempel hinausgeworfen worden wäre. Unter Aufsicht derBeamten wurden die Leute zum Wahltisch geführt, dieHoerder Pappdeckelstimmzettel haben einige Berühmtheit erlangt.Zahlreich sind im Ruhrrevier die Wirte, denen wirtschaftlicheVernichtung angedroht wurde für den Fall, daß sie derSozialdemokratie oder den freien Gewerkschaftcu ihre Lokalitäten zurVerfügung stellten I Die Kolonienbewohner stehen unterKolltrolle, sie fliegen hinaus wenn sie sozialdemokratischeZeitungen halten! Bei Krupp war Jahrelang auch die»ktramontane„Essener Zeitung" verboten! Dies Verbot wurde inden Werkstätten angeschlagen! Ebenso erging es auf anderenWerken nach dem großen Streik 1S8g/gO anderen ultramontanen Blättern! Anfang der 90er Jahre wurden beiKrupp die Schränke der Arbeiter heimlich re-vidiert, um die Mitgliedschaft zum MctaUarbcitervcrbandauszukundschaften und die ermittelten Mitglieder flogen ausLPflaster. Fortgesetzt, besonders nach stattgefundenen Wahlen,bekam. Leute, die als sozialistische Wähler denunziert wurden, denLaufpaß, so jetzt wieder in Bochum, Essen, Duisburg.Bekannte Sozialdemokraten wurden auS ihren Wohnungen herausgesetzt; unseren ZeitungStrggerinnen stellten Anitsversonen dieAlternative, die rote Zeitung nicht mehr auszutragen oder inmancherlei Weise bohkottet. geschädigt zu werden IGerade die Nationalliberitten haben von jeher mit der Waffedes wirtschaftlichen Boykotts"gekämpft. Wenn das nun anderswerden soll, wäre es ja zu begrüßen. Aber die Entrüstung richtetsich ja leider nicht gegen die eigene Roheit und Gewissenlosigkeit,sonder» gegen die, zum Teil noch erlogenen, Notwehratte duArbeiter I_Aus dem Reiche Studts.AuS Kiel wird uns geschrieben:Wie an vielen Orten, so besteht auch hier seit längerer Zeiteine Bildungskommission. eingesetzt vom Gewerkschaftskartell undsozialdemokratischen Berein. Von dieser Kommission ist imOktober vorigen JahreS ein Kursus ins Leben gerufen worden.in welchem zirka 7b Teilnehmer in der deutschen Sprache unter-richtet werden sollten. Hierzu wurden drei Lehrer, zivei von derVolksschule und einer von der Oberrcalschule gewonnen, die indrei getrennten Abteilungen unterrichten und bereits für jedenKursus an 14 Abenden se 2 Stunden Unterricht erteilten. AmMittwoch, den 6, März 1907, erhielt plötzlich der Obmann derAbteilung L von seinem Lehrer folgende« Schreiben:Kiel, den 6. 3. 1907.An den Obmann deS Unterrichtskurses B Herrn H. Wahl.Hierdurch teile ich Ihnen mit, daß mir durch das Provinzial-Schullollegium auf Veranlassung des Herrn Ministers jedeWetter« Teilnahme an den Unterrichtskursen untersagt worden ist.HochachtungsvollA. Wilhelmsen.Wilhelmsen ist Lehrer an der Obcrrealschule. Den beidenanderen Lehrern ist bis heute ein Unterrichtsverbot noch nichtzugegangen. Dieses der nackte Tatbestand. Wir Arbeiter sind jamanche Dinge gewöhnt, aber wie ein sogenannter..Kultus»minister" es fertig bringt, einen Unterrichtskursu». in dem nurdie deutsche Sprache gelehrt wird, zu inhibieren, geht unsArbeitern doch über die Hutschnur.—Rcgcntenwahl in Vraunschweig.Der braunschwelgische Landtag beschäftigte sich gestern mit derdemnächst vorzunehmenden Wahl eines neuen Regenten für Braun-schweig. Der Oberbürgermeister Retemeher befürwortet dringenddie Annahme de« RegierungSantrage«, nach welchem der Landtagsein Einverständnis damit erklärt, daß nunmehr die Wahleines Regenten in die Wege geleitet werde. Denn derLandtag und die Regierung hätten, bemerkte Redner. ver-geblich alle» getan, um eine definitive Regelung der Thronfolge-frage herbeizuführen.