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Nr. 177. 24. Jahrgang. 1 KW desKrmrls" Krlim Klbhliitl. Ponnttstiiä, 1. A»g«ß 1907. Die ruMche Revolution. Die Mächte des alten Regimes, In Anbetracht der hervorragenden politischen Rolle, welche ßen Vertretern der reaktionären Interessen des Großgrundbesitzes gegenwärtig zuteil geworden ist, gewinnt jeder Versuch, diejenige soziale Gruppe näher kennen zu lernen, mit welcher die Re- gierung ein offenes Bündnis gegen das gesamte Volk abge- schlössen hat, die aufmerksamste Beachtung. In diesem Sinne ist der imTowarischtsch" abgedruckte Artikel von Prof. Chodskh über die Verteilung des Einkommens des Privatgrundbesitzes von höchstem Interesse. Auf Grund spezieller Angaben, welche von der Kommission zur Frage der Einkommensteuer gesammelt worden sind, entwirft Chodsky ein grelles Bild der Ungleich- Mäßigkeit bei der Verteilung sowohl des Grundbesitzes wie auch des Einkommens desselben: Je kleiner die Zahl der Besitzer, desto größer die Bodenfläche, welche in den Händen der betreffenden Gruppe konzentriert ist, desto bedeutender die Höhe des Ein- kommens, welches derselben zufließt. Von fast 1 Million privater Besitztümer ergibt die überwältigende Mehrzahl nämlich 931 000 ein Jahreseinkommen von weniger als 1000 Rubel (etwa 180 Rubel im Durchschnitt), und nur 60 000 Besitz- tümer ergeben ein Jahreseinkommen von mehr als 1000 Rubel. Doch von diesen 60 000 verfügen gegen 75 Proz. nur über ein Viertel des Gesamteinkommens, während drei Viertel des Gesamteinkommens in die Hände von nur 15 000 Personen ge- langen. Unter den letzteren verdient die Gruppe besondere Be- achtung, deren Jahreseinkommen mehr als 50 000 Rubel beträgt. Die Zahl dieser Besitzer beträgt 702. In ihren Händen befindet sich mehr als ein Fünftel des gesamten Privatgrundbesibes; ihr Jahreseinkommen beträgt gegen 82 Millionen, d. h. durchschnitt- lich mehr als 116 000 Rubel pro Person I Bei der ungeheuren Verschuldung des Grundbesitzes fließt ein bedeutender Teil dieses Einkommens allerdings in die Hände der Kreditoren. Doch auch nach Abzug der Prozente für Hypothekar- und Privatschulden be- trägt das Jahreseinkommen genannter.,702" doch noch mehr als 62 Millionen Rubel. Es muß zudem bemerkt werden, daß nach Ansicht des Autors »sowohl genanntes Einkommen wie auch der Wert des Bodens niedriger veranschlagt ist, als er in Wirklichkeit ist". Außer- dem sind die Besitztümer in den Kommissionsangaben nach Gouvernements gruppiert, was das Fazit ungemein ver- ändern mußte, weil der größte Teil der erwähnten Großgrund- besitzer in verschiedenen Gouvernements Güter besitzt. Wäre das Fazit nach Besitzern und nicht nach Besitztümern gezogen worden, so hätte sich.die Zahl702" vermutlich um das Doppelte bis Dreifache verringert, mit entsprechender Steigerung der Durchschnittsnorm des Jahreseinkommens..,." Die angeführten Angaben zeigen deutlich, wie gering an Zahl jene gesellschaftliche Gruppe ist, auf deren aktive, zielbewußte Unter- stützung das alte Regime bis an sein Ende rechnen kann, und auch, wie relativ groß die Macht ist, über welche diese Gruppe un- geachtet ihrer geringen Größe und der reaktionären Tendenzen ihrer ökonomischen und politischen Ideale verfügt. Ans dem Potschajew-Kloster. DerRufs. Korresp." wird aus Petersburg geschrieben.: Einer der Hauptherde der antisemitischen und reaktionären Agitation ist das Kloster Potschajew im Wolhynischen Episkopat. Hier haben die als Führer des schwarzen Hunderts berüchtigten Mönche Jliodor und Vitali ihre Residenz, von hier aus ergießt sich der Strom einer wilden Aufreizungspropaganda über den ganzen Südwesten Rußlands , von hier aus werden die rohen, auf die niedrigsten Instinkte der Massen abzielenden Schriften Jliodors verbreitet, in denen er nicht selten seine Vorgesetzten, namentlich den Petersburger Metropoliten Antoni, aber auch den Premier- minister und andere Würdenträger aufs frechste angreift, wenn es ihm scheint, daß sie zu Nachgiebigkeit gegen die Liberalen neigen oder gar das Los der russischen Juden erleichtern wollen. Jliodor, der bedeutendere der beiden Mönche, hat akademische Bildung, die bei der russischen Geistlichkeit einstweilen noch eine seltene Er- scheinung ist. Die große Masse der Popen verfügt nur über Seminarbildung. Von verschiedener Seite Ivird Jliodor, der nur einige zwanzig Jahre alt ist, als der typische demagogische Redner geschildert, der sein Auditorium genau kennt und es vollständig beherrscht. Man sagt, er hätte das Zeug, als Revolutionär an die Spitze einer aufständischen Masse zu treten und sie auf die Barri- kaden zu führen. DerZufall" hat ihn der Reaktion zugeführt, aber auch hier kann er sich nicht fügen. Er geriet sehr bald mit dem Vizepräsidenten des Verbandes des russischen Volkes, dem berüchtigten Purischkewitsch, in Konflikt, und beide schmähen ein- ander in Wort und Schrift. Aber nicht nur mit Purischkewitsch kommt Jliodor nicht aus, er kommt selbst mit dem heiligen Synod in Konflikt, weil er in seiner gegen Juden und Liberale zu Pro- groms aufreizenden, publizistischen Tätigkeit auch das Ministerium, diekonstitutionelle" Regierung, gelegentlich scharf angreift, wenn sie nicht genügend entschieden zum alten Regime zurückzukehren scheint. Wegen dieser Angriffe hat ihm der Synod die publizistische Tätigkeit untersagt. Aber was kümmert sich Jliodor um den Synod, der ebenso wenig etwas gegen Jliodor ausrichten kann wie die Regierung, der er, wie gerne sie auch seine antisemitische und antircvolutionäre Tätigkeit sieht, keineswegs immer bequem ist. Der Synod zieht Jliodor zur Verantwortung. Aber der gegen Jliodor angestrengte Prozeß wird bezeichnenderweise bald nieder- geschlagen, und Jliodor fährt fort, die Spalten derMoskauer Zeitung" des schwarzen Hunderts.Wetsche", mit seinen fanatisch- reaktionären und antisemitischen Artikeln zu füllen, ohne daß die Zensur sie anzutasten wagt, obgleich jede Zeile ein offensichtliches Bergehen gegen den Artikel des Gesetzes über Aufreizung eines Teiles der Bevölkerung gegen den anderen ist. Hinter Jliodor stehen eben Persönlichkeiten, deren Einfluß auf den Zaren größer ist, als dieMacht" selbst eines Stolypin . Jliodor ist sich seiner Macht vollkommen bewußt. Er kümmert sich im Kloster weder um den- Abt noch um die übrige Kloster- administratio". Ohne die Erlaubnis der letzteren baut er auf dem Klosterhof seine Rednertribüne, von der«us er seine Progrom - reden an die ins Kloster strömenden Wallfahrer richtet. Unter den Fenstern des Erzdischofs von Wolhhnien ruft er die unaufgeklärte Masse seiner Hörer zur Ermordung der Juden auf, bezeichnet er die Juden öffentlich(übrigens tut er dasselbe auch in seinem Leib- blatt,Potschajewskije Jswestije") als die, die zuerstdrankomu�xn" sollen, wenn es einen Progrom gibt! Der Erzbischof sieht dem Treiben ruhig zu, weil er, wie ein Journalist in einem Gespräch mit ihm festzustellen Gelegenheit hatte, nicht Jliodor zum Märtyrer machen will, was angeblich geschehen würde, wenn er ihm seine Hetzereien verbieten wollte. So fährt denn Jliodor ungestört fort, Ilmzüge durch die Klosterstadt zu veranstalten, um wie er öffentlich erklärtdie krätzigen Juden zu schrecken". Und die dortige Bevölkerung lebt in ständiger Furcht, eines schönen Tages, wenn es Jliodor belieben sollte, massakriert zu werden. Und wenn es bis jetzt niHt zu Progroms in der Umgebung von Potschajew gekommen ist, so verdanken die gcängstigten Juden dies Glück hauptsächlich dem Einfluß eines der Potschajew-Mönche, der einem Progrom nicht sympatisch gegenüber steht und der über gc- nugend Popularität verfügt, um einstweilen das Schlimmste zu verbäten. Bis zum Erscheinen Jliodors lebte die christliche Bevölkerung r im u�etrübten Einvernehmen mit der jüdischen. Jetzt wird stets Haß gesät, indem Jliodor und Vitali die gefährlichsten Lügen über die Juden verbreiten und sie sogar des Ritualmordes beschuldigen. Fast das ganze Jahr hindurch ist das Potschajew-Kloster von Pilgern aus allen Gegenden Rußlands überflutet, die die Reden der Hetz- mönche über das ganze Land verbreiten und die, in ihre Heimat zurückgekehrt, die örtlichen Elemente des schwarzen Hunderts beim Ausbruch eines Progroms zu verstärken gesonnen sind» Die Durchführung des fchweizerlfchen Fabrikgeietzcs. Das schweizerische Jndustriedepartement in Bern hat soeben die Berichte der 25 Kantonsregierungen über die Durchführung des Fabrikgesetzes in den beiden Jahren 1905 und 1906 ver- öffentlicht. Aus denselben ist zunächst eine fortschreitende und erhebliche industrielleWeiterentwickelung der Schweiz zu entnehmen, die sich sowohl in der Vermehrung und Vergrößerung der Betriebe, als auch in der Vermehrung der Arbeiterzahl bekundet. Letztere geht bei der zunehmenden Kon- zentration der Betriebe Hand in Hand mit einer Verminderung derselben, wie z. B. im Kanton Schaffhausen , wo die Zahl der dem Fabrikgesetz unterstellten Betriebe von 75 auf 72 zurück- gegangen, gleichzeitig aber die Zahl der in denselben beschäftigten Arbeiter von 5315 auf 6064 gestiegen ist. Insgesamt waren Ende 1906 dem Fäbrikgesetz in der ganzen Schweiz 6983 Betriebs mit 281 000 Arbeitern unterstellt. Was die Durchführung der gesetzlichen Vorschriften betrifft, so ist sehr typisch die Aeutzerung der Regierung von Appenzell J.-Rh.: daß bei den periodischen Inspektionen immer wieder die üblichen Unregelmäßigkeiten zutage getreten sind". Es erscheint also geradezu als eine Selb st ver st änd- l i ch k e i t, daß die Unternehmer die Arbeiterschutzgesetze über- treten, was ihrem Sinn für Gesetz und Recht kein gutes Zeugnis ausstellt. Um was alles es sich bei der Uebertretung der gesetzlichen Arbeiterschutzvorschriften handelt, das ist zu ersehen aus der sehr gut informierenden Zusammenfassung derselben im Be� richte der Berner Kantonsregierung. Nach dieser reichhaltigen, bunten Musterkarte betrafen die dem Strafrichter angezeigten Ungesetzlichkeiten Mängel der Fabriklokale oder der inneren Ein richtungen(Beleuchtung, Ventilation, Fehlen von Eßräumen, Heizeinrichtungen und Kleiderkasten, ungenügende Schutz- Vorrichtungen, Fehlen von Ventilationsanlagen, unsaubere Ar beitsräume, Fehlen von Spucknäpfen und vorschriftswidrige oder schmutzige Aborte). Nichterfüllung der Bedingungen der Plan- genehmigung. Fehlen von Unfall- und Wöchnerinnenlisten, der Niederkunftsatteste. Nichtanschlag oder eigenmächtige Abänderung der Fabrikordnung. Nichtaushändigung derselben an die Arbeiter ungenchmigte Spezialreglements und Bußenbestimmungen. Nicht- anschlag oder Nichteinhaltung der Arbeitszeiteinteilung. Stunden- plan ohne Angabe der Bedingungen, unter welchen Nacht- und Sonntagsarbeit gestattet ist. Fehlen von Altersausweiskarten für junge Fabrikarbeiter. Nichtanschlag der Anleitung zur Verhütung der Ansteckung durch Tuberkulose in Arbeitsräumen und der Vor schriften betreffend die höchste zulässige Arbeiterzahl, unregel mäßige Lohnzahlung, ungesetzliche Lohnabzüge. Unterlassung eines Zündholzfabrikanten, die Fabrikmarke amtlich zu hinterlegen. Wegen all dieser Vergehen wurden in 138 Fällen Bußen von 5 bis zu 130 Fr. nebst den Kosten über Ustternehmer verhängt. Im Kanton Nidwalden erhielt der Direktor einer Schuhfabrik wegen Mißhandlung der Arbeiter eine Geldbuße von 20 Fr.. viel zu wenig natürlich. Der betreffende Direktor ist im Militär- Verhältnis Major, hat also wohl die Schuhfabrik mit der Kaserne verwechselt. Sehr erfreulich ist die amtliche Feststellung des definitiven Versch Windens der furchtbaren Phosphornekrosel Im Kanton Zürich hat die fortgesetzte ärztliche Untersuchung der Arbeiter in den Zündholzfabriken die Gewißheit ergeben, daß nach dem siebenjährigen Bestände des Phosphorverbotes die Krankheit nicht mehr zu befürchten sei. Leider ist die Fabrikation der Phosphorscsquisulfid-Präparate für die Zündholzfabriken noch sehr unzuverlässig. So wurde in der betreffenden Fabrik im Kanton Bern dreimal das Vorhandensein von giftigem Phosphor in den Präparaten konstatiert. ' Viel Unverstand bekunden die Unternehmer mit ihrem Wider- stand gegen die Schutzvorrichtungen, zu deren Anbringung eine Fabrik im Kanton St. Gallen durch amtliche Betriebs- einstellung gezwungen werden mußte! Im Kanton Schwyz mußte zu dem gleichen Zwecke einem Sägereibesitzer die Betriebs- einstellung angedroht werden. Mit Befriedigung vernimmt man, daß die Zahl der Fabriken sich vermehrt, in denen die Arbeiter nicht mehrbestraft" werden, und die Solothurner Regierung stellt fest, daß mit diesem büßen- losen Zustande gute Erfahrungen gemacht worden seien. Das Fäbrikgesetz schreibt vor. daß bei der Aufstellung oder Abänderung von Fabrikordnungen die Unternehmer den Arbeitern Gelegenheit geben müssen, darüber mitzusprechen. DerHerr im Hause" mißachtet aber einfach die ihm unbequeme Vorschrift, oder ererfüllt" sie formell durch"die Aufführung einer kleinen Komödie, durch die das Recht der Mitbestimmung der Arbeiter illusorisch gemacht wird. Die Regierungen weisen konsequent derart zustandegekommene Fabrikordnungen an die Unternehmer zurück, aber es ist klar, daß das Recht der Arbeiter zur Mit- bestimmung nur da zur praktischen Geltung gelangen kann, wo sie gut organisiert und sozial geschult sind. Nach dem Fabrikgesetz dürfen die Arbeiter nicht zur Ueber- zeitarbeit gezwungen werden, und die Behörden machen die Willensfreiheit der Arbeiter zur Bedingung der Ueberstunden- bewilligung. Ein Unternehmer im Kanton Luzern erklärte der Regierung, daß die Ueberzeitbcwilligung mit dieser Bedingung für ihn keinen praktischen Wert habe, sie möge letztere daher fallen lassen! Die Regierung lehnte das Verlangen mit der Begründung ab, daß ein Zwang zur Mehrarbeit auf die Ar- beiter unstatthaft sei: Tatsächlich erscheine ja eine Verlängerung der Arbeitszeit als gleichbedeutend mit einer Abänderung der mit dem Arbeiter bei seinem Eintritt vereinbarten Arbeits- bcdingungen, also eigentlich des Arbeitsvertrages; daß dieser aber nicht durch einseitige Verfügung des einen Vertragskontrahenten ganz oder teilweise aufgehoben werden dürfe, das brauche nicht näher erörtert zu werden. Es ist ja kein Unglück, wenn die Unternehmer unter diesen Umständen ganz auf die Ueberzeit- arbeit verzichten; erfahrungsgemäß kann bei vernünftiger Ein- teilung die Industrie auch ohne sie bestehen. Am 1. Januar 1906 ist das neue Sonnabend-Arbeitsgesetz mit dem Neunstundentage und Feierabend um spätestens 5 Uhr nach- mittags in Kraft getreten. Nach den traditionellen Uebertreibungen der Unternehmer sollte dieses unbedeutende Spzialreförmchen wieder einmal unfehlbar Industrie und Gewerbe ruinieren, wie schon so oft seit 100 Jahren. Die furchtbare Prophezeiung ist natürlich nicht in Erfüllung gegangen, wie die Baseler Kantons- regierung berichtet. Sie sagt nämlich: Wir können mit Befriedigung konstatieren, daß das neue Gesetz sich im großen ganzen rasch eingelebt und in allen Bestimmungen bewährt hat. Es hat allerdings eine Reihe von vorübergehenden Ausnahmen nötig gemacht und auch wiederholt zu Bestrafungen Anlaß gegeben; aber in der Hauptsache haben sich die Bedenken und Be- fürchtungen, mit denen man in weiten Kreisen der Arbeitgeber dem neuen Gesetz entgegen, sah, als völlig grundlos erwiesen." Die Arbeiterschutzgesetzgebung hat noch immer die Industrie gefördert und gehoben, aber noch nie ruiniert, in der Schweiz wie in Deutschland und allen anderen Ländern. Mhedung des IRoalitionsrecIst durch das Karnmergericht. Die Recht- oder Unrechtsprechung des höchsten preußischen Strafgerichtshofs über Streikpostenstehen ist unseren Lesern ja bekannt, so daß es sich eigentlich erübrigen dürfte, Uber dergleichen Prozesse noch zu berichten. Wenn wir diesem Grundsatze entgegen einen Fall in einer dergleichen Sache, die den Ferienstrafsenat dieses Gerichts in seiner letzten Sitzung beschäftigt hat, behandeln, so ge- schieht dies, weil hier die Polizeiorgane über ihre bisher üblichen Maßnahmen weit hinausgegangen sind und das Kammergericht sich in diesem Falle in einer Weise vor der Majestät des preußischen Schutzmanns gebeugt hat, die die Rechtssicherheit, das Koalitionsrecht, die Freizügigkeit, ja das Aufenthaltsrecht des Arbeiters dem Gesetz entgegen aufs äußerste beeinträchtigt. Un, den im Oktober v. I. in den Werken von Siemens u. Halske am Nonnendamm bei Spandau ausgebrochenen Streik einzudämmen, hat die Polizeibehörde auf Beschwerden Arbeitswilliger unter dem 13. Oktober 1906 angeordnet, daß Streikposten sich weder in der Nähe der Werke, noch in sämtlichen Straßen der Kolonie Nonnendamm während der Dauer des Streiks aufhalten dürften. Diese Maß- nähme ist auf die angebliche Tatsache hin angeordnet worden, daß vor dem 13. Oktober vielfache Exzesse seitens Streikender gegen Arbeitswillige vorgekommen seien. Der Fräser Franz Gehrt wurde von einem Polizeibeamten am 13. Oktober um 8 Uhr 50 früh am Rohr- dämm betroffen und fortgewiesen. Ein gleiches geschah bezüglich des Schlossers Robert Nervlich und des Drehers Friedrich Kamcnka, die um 9 Uhr 15 Minuten in die Nähe dieses Platzes gekommen waren. Alle drei waren der Aufforderung des Polizeibeamten un­weigerlich nachgekommen. Etwa 1 l'/s Stunden später gingen Nervlich und Kamenka durch die Siemensstraße, wohingegen Gehrt um 10 Uhr 20 Minuten nach dem Rohrdamm zurückkehrte, um einen liegen gelassenen Gegenstand zu holen. In dieser Rückkehr nach der Kolonie Nonnendamm erblickte die Polizeibehörde einen Verstoß der Straßenpolizei- ordnung, in der die unbedingte Befolgung der im Interesse der Sicherheit, Bequemlichkeit und Ruhe aus den öffentlichen Straßen ergehenden Anordnungen eines Polizeibeamten vorgeschrieben ist, und erließ gegen die genannten drei Personen Strafver- f ü g u n g e n. Auf den von den Betroffenen erhobenen Widerspruch erkannte �as Schöffengericht zu Charlotten bürg auf deren Freisprechung. Hiergegen ergriff die Staats- anwaltschaft das Rechtsmittel der Berufung und erzielte die Verurteilung der drei Angeklagten durch die vierte Strafkammer des Landgerichts III zu Berlin zu je 15 M. event. je 5Tagen Haft. Der Berufungsgerichtshos erachtete die Angabe des Gehrt, daß er etwas habe holen wollen, für unglaubwürdig und nah», an, daß die Anordnung des Polizei« beamten auch in der geschehenen Ausdehnung zulässig war, da sie nur den Schutz von Sicherheit, Bequemlichkeit und Ruhe auf den öffentlichen Straßen bezweckte. Diese Entscheidung fochten die Angeklagten mittels der Re- Vision an, die im Termine vor dem Kammergericht durch den Rechtsanwalt Goldberg vertreten wurde. Derselbe legte eingehend dar, daß die polizeiliche Anordnung örtlich und zeitlich unzulässig sei. Die Polizeibehörde sei wohl berechtigt, das Be- treten einzelner Straßen, nicht aber das eines ganzen Ortes zu ver- bieten. Ebensowenig dürfe ein solches Verbot für eine unbegrenzte Zeitdauer erfolgen. Demgegenüber niachte die Oberstaatsanwaltschaft geltend, daß der Zweck der Anordnung, die Sicherheit und Ruhe auf den öffentlichen Straßen zu schützen, in der Vorinstanz rechtsirrtumS- frei festgestellt sei. Sonach scheitere die Revision an der tatsächlichen Feststellmig. Der Senat erkannte in der Tat auf Zurückweisung der Revision aus den Gründen des Oberstaatsanwalts mit dem Hin- zufügen, daß eine Nachprüfung der Angemessenheit der polizeilichen Anordnung dem Richter nicht zustehe. Die vom Verteidiger gegen die Zulässigkeit dieser Anordnung vorgebrachten Bedenken blieben ohne Erwähnung. Dieses Urteil des Kannncrgerichts ist mit der Reichsgesetzgebung, der Verfassung und den preußischen Gesetzen unvereinbar. Wir lassen die Frage auf sich beruhen, ob in der Tat»ach preußischem Staatsrecht der Richter so tief unter der Allmacht einer unter- geordneten Polizeibehörde steht, daß er die Angemessenheit der von dieser angeordneten Maßnahmen nicht nachzuprüfen habe. Zweifellos hat er die Gesetzmäßigkeit der Polizeiverordnungen nachzuprüfen. Das war schon sein Recht und seine Pflicht zur Zeit Friedrich Wilhelms I., des Vaters Friedrichs des Großen, wiewohl dieser Korporalstockkönig als Maßstab für die unterschiedliche Be- Wertung der Verwaltungs- und Justizveamten gelten ließ: Leute von Kopp gehören in dir Verwaltung, die dummen Teufel i» die Justiz." Gesetzwidrig ist aber die erlassene Verordnung, deren Zweck auf Behinderung des Streikpostenstehens abzielt. Sie verstößt gegen das aus Z 152 der Gelverbeordnung folgende reichsgesetzlich anerkannte Recht des Streikpostenstehens. Das hat aus Anlaß des Lübecker Gesetzes, welches Streikpostenstehen aus allgemeinen Gründen der Sicherheit und Ruhe" in ähnlicher Weise untersagt, selbst das Reichsgericht anerkannt. Dtz� Polizei steht nicht das Recht zu, entgegen den auch für die Polizei ver- bindlichen, ja von ihr und den Richtern beschworenen Gesetzen Anordnungen zu treffen. Polizeiliche Anordnungen solcher Art sind