Nationalliberale Wahlspekulationen. In den Foyers de? Reichstages erzählte man sich heute, miläh- lich des nationalliberalcn Parteitages in Wiesbaden habe der Ab- geordnete Bassermann in einer vertraulichen Sitzung geäußert, der Block werde keine lange Lebensdaner haben, sondern bald an der abweichenden Meinung der Linksliberalen zugrunde gehen. Geschehe das und erfolge alsdann abermals eine Auflösung des Reichstags, so müsse die ganze Schuld für diesen Zusammenbruch des Blocks den Linksliberalen zugeschoben werden. Die Nationallibrralen hätten dann die Aussicht, eine» großen Teil der Mandate der Linksliberalen zu erobern— und damit wäre ein«euer Block gesichert. Es erscheint als nicht ausgeschlossen, das; Herr Bassermann sich wirklich derart geäußert hat. doch dürfte seine feine Spekulation sich als verfehlt erweisen. Einmal hat sich ein großer Teil der Wähler hinters Licht führen lassen, ein zweites Mal dürfte es nicht glücken. Auch hat sich mittlerweile die innerpolitische und wirtschaftliche Situation des Reichs recht erheblich verändert und wahrlich nicht zu- gunstcn des Blocks. Immerhin geben die Aeuherungen BassermannS einen gewissen Schlüssel für das Verhalten der Naumann und Genossen, die durch ihr gehorsames Einschwenken zu bekunden suchen, daß sie nicht dazu beitragen möchten, den Block zu sprengen. Für unsere Partei- genossen heißt e-Z die Augen offen und das Pulver trocken zu halten. Man soll uns nicht überraschen.— Versklavung der ausländische»» Arbeiter. Die Junker sind fortgesetzt bemüht, die ausländischen Saison. arbciter in völlige Leibeigenschaft zu bringen. Ist einmal bei den Ausländern der Versuch gelungen, dann wird noch mit größerem Nachdruck als bisher die Einschränkung der Freizügigkeit auch für die deutschen Arbeiter gefordert werden können. Tie p r c u- ßische Regierung unterstützt natürlich aufs eifrigste die Be- strcbungen der Junker, die Kontraktsklaverci zu verwirklichen. Zu diesem Zweck fanden in letzter Zeit Konferenzen von Regierung»- organen statt. So jüngst wieder in Thorn. Darüber wird ge- meldet: Ucber die Einrichtung von Grcnzämtern beriet hier «ine Konferenz, an der Vertreter der Ministerien der Finanzen, des Handels und der Landwirtschaft, des Ober- Präsidiums und der Regierungen, sowie die Landräte der Grenz. kreise und die Bürgermeister der Grenzstädte teilnahmen. Es wurde beschlossen, Grenzämter zu dem Zwecke einzurichten, die aus Rußland und Oesterreich kommenden Saisonarbeiter zu kontrollieren, um Kontraktbrüche» vorzubeugen. Dazu sollen inländische Legitimationsscheine aus- gegeben werden, ohne die Arbeiter nicht in Arbeit genommen lvcrden dürfen. Voraussichtlich werden die Grenzämter zum Frühjahr des nächsten JahreS zur Einrichtung gelangen. Tiefe»inländischen Legitimationskarten" werden in der Praxis auf nichts weniger als auf ein System von Zwangspässen hinaus- laufen. Der Arbeiter wird damit dem Großgrundbesitzer auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Entschließt er sich, die Arbeit zu ver- lassen, weil ihm die Ausbeutungsverhältnisse unerträglich werden, so kann er nirgend anderswo Arbeit finden und hat die bestimmte Aussicht, von der Polizei ausgewiesen zu werden. Die Aus- »veisungsandrohung ist das Mittel, ihn gefügig zu erhalten. Aber diese Aufhebung der Freizügigkeit widersprichtganzoffen- kundig den Bestimmungen der Handelsverträge. Diese garantieren ausdrücklich die gleiche Behandlung des Ausländers mit den Inländern. Die Einführung dieser Grenz- ämter, die sehr an die Veterinärstationen an den Grenzen für die Untersuchung des eingeführten VicheS erinnern, ist ebenso wie die Einführung der Legitimationskarten gegen den klaren Wortlaut des internationalen Rechts. Die ausländischen Arbeiter können sich einfach bei den Konsulaten beschweren, und wenn diese nicht den nötigen Eifer entwickeln, werden unsere ausländischen Bruderparteien ihre Regierungen mit der nötigen Energie zur Wahrung der Rechte der ausländischen Arbeiter anzuhalten wissen. Sie leisten damit zugleich der deutschen Arbeiterschaft einen wichtigen Dienst; denn die Köntraktsklaverei der Ausländer dpückt auch die Lebenshaltung der inländischen Arbeiter.— Freisinnige Arbeiter über freisinnige Parteien. Die»Düsseldorfer Post", daS Blatt der Hirsch- Dun ckerschen Gewerkvereine von Rheinland und Westfalen , bcschäf- tigt sich mit der liberalen Einigungöversammlung in Frankfurt a. M. DaS Blatt stellt fest, daß diejenigen Recht behalten haben, die von dieser Versammlung nicht? erwarteten. Schöne Reden seien gehalten worden. die Mühle habe gut geklappert. aber dabei sei es geblieben. Mehl habe es nicht gegeben. Man brauche sich nicht auf das Alles oder Nichts zu versteifen; jeder Fortschritt erfordere einen Kompromiß; aber zu einem Kompromiß, zu einem Frieden lasse man sich erst herbei, wenn vorher ein Kampf stattgefunden habe! Und deshalb, so heißt eS weiter,„halten wir nichts von den Reden in Frankfurt , wo man das Volk nicht zum Kampfe gegen die Mächte aufrief, die ihm seine Rechte vorenthalten, wo man alles von der Gut« »nütigkeit der Regierungen erwartet." Das GewerkvereiuSblatt ist der Meinung, daß der Liberalismus eine Zukunft habe, wenn er gewillt sei. sich auf die Massen zu stützen; da» könne er aber nur. wenn er den Massen entgegenkomme, aber: »Populäre Politik macht man nicht in GeheimratSstuben. DaS Volk achtet in seiner Masse nicht auf den, der zu ihm geheimnisvoll tut, wie es im Grundton der Frankfurter Veriammlung geschah. Wer nicht ivagt. gewinn» nicht. DaS trifft mich auf dir Linksliberalen zu. Uns will scheinen, als ob der große Moment ein kleines Geschlecht gefunden habe." Die..Tüslcldorfer Post" meint sodann, noch sei eS Zeit»aus dem Volke heraus eine freiheitliche Bewegung zu machen, die die Superklugen aufrüttelt und ihnen zeigt, daß sich das Volk nicht mit leeren Redensarten abspeisen lassen will. Jetzt heißt es: Enrweder— oder! Hier hilft kein Mundspitzen. hier muß gepfiffen werden." Die freisinnigen Geiverlvereinler bemühen sich vergebens, den Liberalismus zur Mannhaftigkeit anzuspornen. Der bringls nicht einmal zum Mundipitzen mehr, aus Angst, eS könnte ihm wirklich ein Pfiff dabei entfahren. Wollen die Goverkveieinler eine»freiheitliche Bewegung auS dem Volke heraus", werden sie sich wohl oder Übel der Sozialdemokratie anschließen müssen l— Zentrum und Wahlrecht. In dem industriellen Bocholt findet sich das Zentrum in einer Weise mit den Kommunalwahlen ab. durch die diese angebliche Volkspartei eine grenzenlose Verachtung der unteren Volksschichten bekundet. Die Bevölkerung ist fast ausschließlich katholisch; neben 22 787 Katholiken gibt eS nur 2367 Protestanten. 274 Juden und 8 Andersgläubige. Da daS Stadtverordnetenkollegium vom t. Januar 1808 ab 24 Mitglieder zählen wird, entfällt in der 1. Klasse auf 4. in der 2. Klasse auf 33, in der 3. Klasse dagegen erst auf 338 Wähler ein Stadtverordneter. In der 1. Abteilung pfeift man natürlich auf die hl. Religion: die 32 Wähler dieser Klasse, die sich auf die drei Konfessionen verteilen, ernenne»» einmütig nur Nationalliberale als— Jnteressenvertreter. In der 2. Abteilung ist die Sache schon anders. Da kommen die katholischen und evangelischen Geschäftsinteressen — Kundenfang. Grundstücksverwertung ulw.— in Frage. Der PlebS darf das natürlich nicht merken. Die hohen Säulen der Kirche und des Zentrums verteilen also unter sich ohne Zank und Streik. evangclisck, wie katholisch, schiedlich-ftiedlich die Mandate. In der dritten Abteilung aber muß das Volk zur höheren Ehre Gottes die beiligen Interessen der Kirche wahrnehmen und deshalb mutz streng konfessionell gewählt werden, und zwar muß der Katholik auch nock, von besonderer Oualilät sein. Er darf sich unter keinen Umständen als Arbeiter fühlen, er»nutz ganz sicher klerikal abgestempelt sein, damit er nicht eventuell auf die den GesidästShubern unangenehme, ihre Kliqueninteresien störende Gedanken kommt. So läuft dir ganze Geschichte darauf hinaus, daß der KleruS im Interesse der Spieß- bürger die Wahlen der dritten Abteilung macht. Wenn daSZentrmn, wie es behauptet, in der ersten und zweiten Abteilimg nicht die Macht hat, zu dekretieren und daher die trostlosen kommunalen Verhältnisse resultieren, so kann man wohl»nit vollem Recht be- tonen, daß eS umsomehr verpflichtet wäre, durch Entsendung tüchtiger Männer seitens der dritten Klasse die so dringend nölige geistige Aus- frischung des Stadtverordneien-KollegiumS herbeizuführen und da- durch wenigstens die Aussicht auf eine Besserung der im Stadt- Parlament herrschenden Mißwirtschaft anzubahnen. Die Zentrum?- Partei wäre hierzu umsomehr verpflichtet, alS die katholische Arbeiterschaft bei schmalem Verdienst und außerordentlich scharfer Steuereinschätzung geradezu darben muß, um die drückende Steuerlast(245 Proz.I) entrichten zu können, während auf der anderen Seite vom Stadtverordneten -Kollegium Unsummen zwecklos ausgegeben werden. Es sei in dieser Hinsicht nur an den famosen Kauf der Gasanstalt und verschiedene Prozesse erinnert.— Großinquisitor Mumm. Der evangelische Arbeitersekrctär Fischer, der auf dem so- genannten Deutschen Arbeiterkongreß den konscrvativ-ultramontan- antisemitischen Leisetretern mit seinem Wahlrechtsantrag in die Quere gekommen ist, soll dafür büßen. Herr Liz. Mumm reist in Württemberg herum, um dort den christlichen Arbeitern zu zeigen, was für ein Bösewicht dieser Mann ist. der es wagt, einen Arbeiterkongreß daran zu erinnern, daß er die Pflicht habe, gegen die Rechtlosmachung des arbeitenden Volkes zu protestieren und in evangelischen Arbeitervereinen Beschlüsse durchsetzt, wonach eS den Mitgliedern freisteht, sich diejenige Gewerkschaft zur Vertretung ihrer wirtschaftlichen Interessen auszusuchen, die sie nach den ort- lichcn und persönlichen Bedürfnissen für angemessen halten. Herr Mumm erklärte in einer Versammlung der christlichen Gewcrk- schaftcn in Stuttgart , ihm sei eS unverständlich, wie man einem solchen Manne die Führung der evangelischen Arbeitervereine über- lassen könne. DaS Stöckcrsche»Reich" wirft Fischer zu den National. sozialen und nennt ihn ein„zersetzendes Element", die..Kölnische Volkszeitung" bezeichnet ihn als»einen der rabiatesten Volks- parteilcr". Warum war Herr Fischer aber auch so taktlos, durch seinen Wahlrechtsantrag auf dem deutschen Arbeiterkongreß die Herren Mumm, Schack, ÄiesbertS und Genossen in den Augen aller anwesenden Minister und Gcheimräte so heilloS zu kompromittieren. als ob sie wirklich daran dächten, den Regierungen gegenüber ernst- liche die Sache der Arbeiter zu vertreten!— Die Zentrumskundgebung für das Wahlrecht. Der Wahlausschuß der ZentrumLpartei im RegierungS- bezirk Kassel beschloß nach eine-' Vortrage des Abg. Müller- Fulda die Abgeordneten des Bezirks aufzufordern, nachdrücklich für die Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und ge- Heimen Wahlrechts für das preußische Abgeordnetenhaus einzutreten. Hoffentlich läßt eS das Zentrum nicht bloß bei Resolu- tionen bewenden! Der Prugelsnnge der lkamarilla. Unter den Kompromittierten des Moltkcprozesses war auch Gras Hohenau . Wir hatten seinerzeit festgestellt, daß ebenso wie Graf Lynar auch Graf Hohenau mit voller Pension ver- abschiedet wurde. Nunmehr wird offiziös gemeldet, daß gegen den Grafen Hohenau,„den früheren Kommandeur des Regiments der GardeS du Corps, späteren General und Brigade-Komman- deur, der außerdem General a la suite des Kaisers war, ein ehrengerichtliches Verfahren unter dem Vorsitz des Generals und Generaladjutanten von Locwenfeld eingeleitet worden. In- wieweit Hohenaus Verfehlungen im Sinne des Gesetzes oder ent. sprechend der allgemeinen Auffassung gegen den§ 176 ver, stoßen, wird die Untersuchung ergeben. Die Zeugenvernehmungen haben bereits begonnen." Auch General v. Kessel, der Kommandeur deS GardekorpS , soll seinen Abschied einreichen. Friedrich Haußmann . Wie der Telegraph meldet, ist gestern abend in Stuttgart der volksparteiliche Landtagsabgeordnete und frühere Reichstagsabgeordnete Dr. Friedrich Haußmann. der Bruder des bekanuten Führers der süddeutschen Volkspartei Kourad Hauß- mann, im Alter von 01 Jahren an einer Lungenentzündung ge- starben. Für die süddeutsche Volkspartei bedeutet der Tod einen schweren Verlust, denn Friedrich Haußmann gehörte zu ihren her- vorrageudsten Parteiführern und hat lange Zeit im ivürttembergischen Parlament eine emsige Tätigkeit entfaltet. Dem Reichstage gehörte er dagegen nur von l3S8 bis tS03 an, und zwar für den württem- bergischen Wahlkreis Böblingen. Der außerordentliche Rechtsanwaltstag in Leipzig . Um zu dem Entwurf der Reichsregierung über die A e n d e- rung des Gerichtsverfassungsgesetzes, der Zivilprozeßordnung. des GericksiSkostengesetzeS und der Gebühren- ordnung der Rechtsanwälte Stellung zu nehmen, wurde heute in Leipzig von der deutschen ReckitSanw altschaft einaußerordentlicher AuwaltSiag abgehalten, der sehr stark besucht war. Der Rechts- anwalt Dr. Hachenberg aus Mannheim wandte sich in seinem Referat gegen den Entwurf im allgemeinen und besonder» gegen die Bestimmung, daß die Summe, bei der der Anwaltszwang eintrete, von 300 auf 800 M. erhöht werden solle. Bezeichnend für die einseitige Kastenanschauung selbst diese» Anwalts war seine Darlegung: die Gewerbe- und Kaufmannsgerichte halte er für ein nationales Unglück, nicht weil das Laicnrichterelement dort herrsche, sondern nur, weil bei den Wahlen der Beisitzer, ins- besondere bei denen au» der Klasse der Arbeiter sehr stark das politische Moment hervortrete. Ter EntwLrs sei ferner eine schwere Schädigung der AnwaltSgehülfcn. Denn wenn sich die Lage dcS Anwalts verschlechter«, so naturgemäß auch die der Gehülfcn. Zum Schluß forderte er dann zum Kampfe gegen den Entwurf auf. Rechtsanwalt H i n r i ch s c n auS Güstrow, der das zweite Referat hielt, führte aus. daß die öfter- reichische Zivilprozeßordnung der Leutschcn alS Muster dienen könnte. Im übrigen forderte auch dieser Redner zum Kampf gegen den Entwurf auf. ES wurde dann ein Antrag angenommen, der verlangt, daß der Entwurf„nicht im Reichstage zur Grund- lag« der Beratung gemacht werde" und die Ausarbeitung eines neuen fordert, der„alle Gebiete de» Prozesses umfaßt und zwar tunlichst bald." Zur Betreibung der Agitation gegen den Entwurf wurde eine Kommission eingesetzt, der 20 000 M. zur Verfügung gestellt wurden. Bei der Beratung dieses Antrages meinte ein Zwischcnrufer, man sollte den Rechtsanwalt Bassermann über die Interessen des Rechtsanwaltsstandcö aufklären und ihn dann als Wandcr- rebner hinaußschicken. Dieser Zwischenruf wurde mit großer Heiterkeit aufgenommen. Ferner wurde eine Kommission gewählt, die daS Material zur Umgestaltung des RechtsanwaltSvereinS zu einer Kampfesorganisation bearbeiten sollte. Durch diese Art Hervorhebung der einseitigsten Anwalts- interessen wird der berechtigte Kampf gegen die plutokratischen Vorschriften des von uns bereits besprochenen Entwurfs recht un- günstig beeinflußt. Der Kaiserbesuch und die Flotte», vorläge. London , Lt. November.(Eig. Ber.) Die Nachrichten über die neue deutsche Flottenvorlage haben die guten Wirkungen deS Kaiser- besucheS erheblich abgeschlvächt. Anläßlich der offiziellen Be- endigung des kaiserlichen Besuches schrieb die„Times" in ihrer Montagnummer: „Wenn eS auch»vahr ist, daß Monarchen heutzutage auS Vergnügen. Ehrgeiz oder dynastischen Gründen keinen Krieg hervor- rufen können, so steht eS in ihrer Macht, eine Rolle zu spielen, die wichtiger und segensreicher ist. Sie können eingreifen, wo in- folge von Differenzen eine dauernde Entfremdung zwischen ihren Ländern droht, und durch gewichtige Worte dem guten Willen und dem vernünftigen Verlangen der Völker... Ausdruck geben. Der Besuch des Kaisers ändert zwar nichts an den bestehenden Verträgen und Abkommen, aber er kann alles ändern durch da» neue und freund- liche Licht, das er auf die politische» Tagesfragen lvirst,... Durch solche Handlungen fördern die Monarchen die Sache deS Friedens und des menschlichen Fortschritts, indem sie die Be- fürchtungen des Auslandes beseitigen und das fieberhaste Hasten und Jagen ihrer eigenen Heimat beruhigen." ES ist kein Zweifel, daß die Rede deS deusschen Kaiser» in der Guildhall den soeben ausgesprochenen Gedanken der„TimeS" ent- sprach. Da die meisten JeilungSleser und auch ZeitungS s ch r e i b e r in den äußeren Beziehungen der Völker nur persönliche Beziehungen verschiedener Staatsmänner sehen, so machte sich hier nach der Guildhallrede des Kaiser» die Ueberzeugung geltend, die Mß- stimmungen zwischen England und Deutschland seien nur das Werk von Intriganten gewesen. Als nun die Grundzllge des neuen Flottenvoranschlags in London bekannt wurden, änderte sich die optimistische Stimmung. In ihrer Mittwochnummer bespricht die„Times" den Flottenvoranschlag und sagt: .... Wenn man den Voranschlag betrachtet und wenn man die Vergrößerung der Wersten , das tiefe Baggern der Wasserwege, die Verbreiterung deS Kieler Kanals und die wachsende Anschaffung von Reserven von Geschützen und Munition in Betracht zieht, dann ist der Umfang und die Größe der Pläne, die zur Ent- Wickelung der deutschen Seemacht emworfen werden, nicht zu be- zweifeln. Wir haben weder das Recht noch den Wunsch, eine Kritik anzulegen an den Maßstab der Scemacht, den Deutschland für seine Angriffs- oder Verteidigungszwecke für nottvendig hält. Aber«s ist vielleicht gut, daß man uns ins Gedächtnis ruft,... daß DeutscklandS Politik nicht von sentimentalen Erwägungen geleitet ist. Im gegenwärtigen Augenblick, wo der deutsche Kaiser alö ver- ehrter Gast bes Königs und deS Volkes bei uns wetlt, ist es kaum zeitgemäß, näher auf die Wirkung einzugehen, die die wachsenden FlotienauSgaben Deutschlands früher oder später auf die Flottenpolitik unseres Landes haben mögen. Wir wollen nur bemerken, daß der Zwei-Mächte-Standard unserer Flotten- Politik ein dehnbarer Begriff ist.... der sich den ändernden Umständen anpassen läßt."— DaS ist deutlich genug. Das alte Mißtrauen, die alten Be- fürchtungen machen sich wieder geltend. Die Hoffnung auf den guten Willen und das vernünftige Verlangen der Völker ist verscheucht. Sogar die Daily Graphic", die deutschfreundlichste Londoner Zeitung, erinnert die Deutschen daran, daß die englische Flotte unter allen Umständen ihre Ueberlegenheit wahren müsse. ES wird also weiter gerüstet, weiter gesteuert unk weiter gepumpt!—_ franhreieb. Gin Tendenzprozeß. Paris , 22. November.(Eig. BcrJ Im Pariser Lumpenproletariat gibt es Elemente, die ihr Vcr« brecherium mit anarchistischen Phrasen drapieren— zur Genug- tuung der Polizei, die auf diese Art in den Stand gesetzt wird, auch die harmlosen„libertären" Wirrköpfe, deren„praktische" Wirksam. keit hauptsächlich auf konfuse Polemiken gegen die sozialistisch« Organisationsarbeit und Attion hinausläuft, in den Augen des ilcinbürgerlichen Publikums, daS noch immer Sozialismus mit Anarchismus durcheinanderwirft, zu kompromittieren und den blöden Schrecken vor dem roten Gespenst lebendig zu erhalten. Daß dieses Milieu auch für Lockspitzel ein trcfflichcö Arbeitsfeld bietet. versteht sich von selbst. Dem„Spürsinn" der Polizei gelang eS denn auch, vor einiger Zeit einige Leute sestzunchmen, die der Falsch- inünzcrei mehr oder minder verdächtig waren und deren Zu- gchörigkcit zu jener anarchistischen Halbwelt eine erfolgreiche poli- tische Ausschlachtung zu versprechen schien. Die Polizei lvolltc aber eine Haupt- und Staatsaktion, und zu diesem Zweck mußte einer der bekannteren anarchistischen Literaten»1 die Sache verwickelt werden. Eines Tages erschien in den Redaktionsräumen des WvchenblättchcnS„Le Libertaire" eine GcrichtSkommission und „fand", ohne viel zu suchen, in einem Schuppen eine Kiste mit falschem Geld. Ter Redakteur des Blattes, M a t h a, erllärte so- fort, daß die Kiste von einem unbekannten Manne in die Redaktion gebracht worden sei. Der Fremde habe ihn, Matha, gebeten, sie einige Zeit dvrtlassen zu dürfen, und da er nicht wiederkam, habe man sie in den Nebenraum gebracht, wo sie nickit im Wege war. Könnte die Geschichte in einem anderen Fall wenig glaub- würdig erscheinen, so ist dieS etwas anderes bei einem Manne von der kindlichen Harmlosigkeit MathaS. Dieser Anarchist ist— wie so viel« seiner GesinnuligSgeiwssen— einer jener Gcmülsinenschcn, die die Leberwurst im Dunkeln essen. In seiner Vicdaktion gehen allerhand Leute ein und auS, von denen er nicht das geringste weiß. Viel besser unterrichtet über die Redaktionsgästc des „Libertaire" ist die Polizei, die den Verkehr dort ständig über- wacht. Aber dies ist auch ein weiterer Beweis dafür, daß Matha selbst mit der Kiste nichts zu tun hatte. Er hat im Lause der Jahre schon etliche Hausdurchsuchungen über sich ergehen lassen müssen und mußte jederzeit auf eine neue gefaßt sein. Unter diesen Um- ständen»värc es ausgesprochener Schwachsiun gewesen, wenn er eine so kompromittierende Kiste just bei sich aufbewahrt hätte. Das Absurdeste aber war die Anklage, die die Staatsanwalt- schaft zusammengebraut hat. Sie hatte da vier Leute, die der Ver- auSgabung von falschem Geld überwiesen oder einigermaßen ver- dächtig waren, sie hatte Matha. den Redakteur, in dessen Lokal eine Kiste mit falschem Geld„gefunden" worden war. Sie koppelte nun kurzerhand beide Affären zusammen, trotzdem ein Zusammen- hang ganz offenbar fehlte und trotzdem MathaS Erklärung, daß er die vier anderen Herren gar nicht kenne, durch nichts widerlegt werden konnte! Man stelle sich vor. daß jemand, bei dem ein Dietrich gefunden wird, darauf als Mitschuldiger einer beliebigen DiebSbanoc, die die Polizei gerade erwischt, vor Gericht gestellt wird. Ader Herr Äuichurd. der Chef der mit der Ucbcrwachung
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