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DieArbeiter-Turnzeitung", das Organ des Arbeiter- Turncrbundes erhebt hiergegen energischen Protest und appelliert an die preußische Bevölkerung, sich ihr Er- ziehungsrecht nicht nehmen zu lassen und einig und geschlossen vorzugehen, um diesen neuen Schlag der Reaktion abzuwehren. Dieser Appell verdient um so mehr Beachtung, als auch Industrielle bereits in ihren Lehrverträgen das Verbot für die Lehrlinge aufnehmen, Mitglieder des Arbeiter-Turner- bundes zu werden. Für jeden klassenbewußten Arbeiter kann es nur die eine Parole geben: Heraus auö der Deutschen Turnerschaft!" Die Wahrheitsliebe des Reichsverbandes. Mehrfach schon haben wir nachgewiesen, mit welchen Fälschungen und Lügen die Korrespondenz des LiebertschenReichs- Verbandes gegen die Sozialdemokratie" arbeitet. Einen neuen Be- weis dafür, wie gewissenlos sie fälscht, und nach dem jesuitischen Grundsatz, der Zweck heiligt das Mittel, die öffentliche Meinung betrügt, liefert die Nr. 6(v. 13. Februar) dieser Korrespondenz. ES heißt dort: Um die Magenfrage erhebt die Sozialdemokratie allezeit das größte Geschrei, ja sie erblickt in jedem Schützer der nationalen Produktion geradezu einen.Brotwucherer", einenLebensmittel- vcrtcuerer". Fort darum mit allen indirekten Steuern, der größten Feindin der Proletarier l Auf diesen radikalen Ton sind sämtliche sozialdemokratische Versammlungen und Zeitungen ge» stimmt. Aber im Reichstage? Ja, da ändert sich fast rcgel- mäßig die Konsequenz deS Wollens der Sozialdemokraten. Erst am Freitag, den 7. Februar, traten die sozialdemokratischen RcichStagSabgeordncten einem Kompromißantrag auf Verbilligung des Zuckers durch Herabsetzung der Zuckersteuer von 1900 ab mit aller Entschledenhert entgegen. Diese Zucker. fabrikatsteuer, die früher 20 M., jetzt 14 M. pro Doppelzentner beträgt, wird auf 19 M. herabgesetzt werden. Die Blockparteien nahmen einen solchen Antrag, der die Verbilligung des Zuckers bedeutet, mit großer Mehrheit an. Wer stimmte dagegen? Unglaublich, aber wahr! Die Sozialdemo. k r a t i e. Und dann beweist die Korrespondenz in ihrer verlogenen Art, wte viel die Arbeiter dadurch sparen, daß die Zuckersteuer um 4 Mark pro Doppelzentner ermäßigt wird: Welche wirtschaftliche Bedeutung die in Aussicht genommene Vier-Mark-Zuckerstcuerermäßigung hat, beweist folgendes ganz bescheidene Beispiel: Die Steuerermäßigung beträgt pro Pfund zwei Pfennige. Angenommen, im Kleinhandel würde der Zucker nur um einen Pfennig billiger, so ersparten allein die dre, und eine viertel Million sozialdemokratischer Wähler bei einem durch» schnittlichen Verbrauch von S Kilogramm pro Kopf im Jahre die Kleinigkeit von 6 299 999 Mark. Wie liegt tatsächlich die Sache? In der Kommission hatte Gra Schwcrin-Löwitz beantragt, daß die Herabsetzung der Zuckersteuer von 14 auf 19 Mark späte st enS am 1. Oktober 1999 er- folgen müsse. Dieser Antrag fand eine entschiedene Mehrheit, und zwar stimmten dafür auch die sozialdemokratischen Mitglieder. Der Regierung paßte in ihrer finanziellen Verlegenheit jedoch diese Zeitbestimmung nicht; sie wollte freie Hand behalten, die Steuer- crmäßigung dann«inzuführen, wenn es ihr paßt. Deshalb knüpfte sie hinter den Kulissen mit den Blockparteien Verhandlungen an; und am 7. Februar stellten dann auch im Reichstag die Abgg. Bassermann(natl.), v. Grabski<Pole), v. Normann(k.), d. Oertzen iRp.). Dr. Pachnicke<frs. Vg.), Schweickhardt(Deutsche Vp.), Vogt- Hall(Wirtsch. Vg.) und Dr. Wiemer(Freis. Vp.) folgenden Antrag:.. 1, an Stelle der Artikel 1 und 2 der Kommissionsbeschlüsse zu setzen:- Artikel 1. Tie Zückerstcuer wird vom 1. April 1999 ab auf 19 M. von 109 Kilogramm Reingewinn herabgesetzt, sofern bis dahin Gesetze zustande kommen, die eine Erhöhung der eigenen Einnahmen t>eS Reiches um mindestens 36 Millionen Mark jährlich bezwecken. Kommen solche Gesetze erst nach dem 1. April 1999 zustande, so erfolgt die Herabsetzung der Steuer gleichzeitig mit deren Inkrafttreten. Gegen diesen Antrag, der die Einführung der Zuckersteuer- ermäßigung Hinausschiebtundalles dem Ermessen der Regierung überläßt, stimmten natürlich' unsere Ge- nassen. Sie verlangten, daß bestimmt am 1. Oktober 1999 die Ermäßigung in Kraft trete. Genosse Südekum begründete die Ablehnung mit folgenden Worten:WaS jetzt aus dem Antrag ge- worden ist, kann unsere Zustimmung nicht erhalten. Von Artikel 1 ist für uns nur der erste Satz annehmbar: die Zuckersteuer wird spätestens am 1. Oktober 1999 von 14 M. auf 10 M. von 100 Kilogramm herabgesetzt. Für diesen Teil stimmen wir auch; was aber dann noch in dem Artikel 1 enthalten ist, lehnen wir ab." ES ist also direkt gelogen, wenn die Korrespondenz deS Reichsverbandes behauptet, die Sozialdemokratie wolle nicht die Herabsetzung d«r Zuckersteucr. Gerade das Umgekehrte ist richtig: die sozialdemokratische Fraktion wollte die Regierung zwingen, späte st cns am 1. Oktober 1999 die Ermäßigung durchzuführen; während die Parteien, die für den Antrag Bassermann stimmten, die Sache auf die lange Bank geschoben haben. Die Korrespondenz des Reichsverbandes steht also genau auf derselben Höhe der Moral und deS Anstandes wie der Rcichsverband selbst._ Im Zeiche« der BereinSgesetzreform. Zwei Aerzte wollten zu gleicher Zeit in Wüstewalters- darf im Kreise Waldenburg einen Vortrag halten. Dem einen, Dr. S ch w e d l c r- Waldenburg, wurde die dazu nötige Versamm- lung anstandslos bescheinigt, den anderen aber, Dr. Landsberg aus Breslau , lieh der Amtsvorsteher gar nicht ins Dorf hinein. Er sandte dem Einberufer der zweiten Versammlung anstatt der Bescheinigung ein längere» Schreiben, worin er sich eingehend nach den persönlichen Verhältnissen deS Breslauer Arztes erkundigte. Zwar gibt ihm das Gesetz keine Handhabe, einen Redner wie Lohengrin auszufragen, woher er kommt der Fahrt, und weh sein Nam' und Art alleinin Schlesien machen w i r das halt so!" In dem Schreiben teilte der Amtsvorsteher zugleich mit:Nur ontcr der Bedingung, daß der Vortrag nicht politischen Inhalts ist, gibt der Wirt seinen Saal her." Eine seltene Ehrlich- und Aufrichtigkeit. Aber der Einberufer bestand auf seinem Schein. Nachdem ihm der betreffende Wirt ge- sagt, daß tatsächlich der Amtsvorsteher bei ihm gewesen und den Boykott derbesseren Kundschaft und der Kriegervereine" an- gedroht habe, ging der Einberufer persönlich aufs Amt. Dort gab der Amtsvorsteher im Gefühl seiner Würde offen zu, beim Wirt in obigem Sinne vorstellig geworden zu sein und als man ihm nachwies, daß er ungesetzlich gehandelt, erklärte er kurz, er handle nur nach seiner Instruktion. Bon wannen ihm d i e gekommen, verriet er nicht und da es in W. der Auftraggeber so viele gibt, ist das auch nicht sticht zu erraten.... Während man aber um ein zertretenes Recht stritt, hielt der eine Arzt bereits feinen Vortrag, ja. sogar einen hochpolitischen. Der erste Arzt ist nämlich Agitator deS Reichsverbandes zur Bekämpfung der Sozialdemokratie und der andere, nach dem man so neugierig war, ein Sozialdemokrat. Der erste konnte ungehindert polnisch Staatsrctterci betreiben, den anderen aber verhinderte man daran, über Arbeiter-Versiche­rungsgesetze zu sprechen!! In der Beschwerde, die unsere Genossen sofort gegen diese Ver- gcwaltigung einlegten, haben sie a n g e f r a g t, ob etwa die Herren Fabrikanten des Ortes die Auftraggeber des Amis- Vorstehers seien, da man sich nicht denken könne, daß eine Be- Hörde derartige gesetzwidrige Aufträge erteilen könne. Der Antwort auf diese Frage sehen wir etwas neugierig ent- gegen._ Freisinniger Parteitag. Der geschästSführende Ausschuß de» Wahlvereins der Liberale» hat in seiner gestrigen Sitzung beschlossen, den diesjährigen ordentlichen Parteilag auf den 21. und 22. April(Osler- Dienstag und-Mittwoch) nach Frankfurt a. M. einzuberufen. Die sächsische Wahlreform in der Dunkelkammer. Die Geheimniskrämerei bei der sächsischen WahlrechlSresorm hat allgemein Unzufriedenheit wachgerufen, sogar in konservativen Blättern wurden Bedenken dagegen erhoben, daß von der Wahlrechts- deputation gar nichts zu hören sei und die hinter verschlossenen Türen gepflogenen Verhandlungen nicht vom Fleck rückren. Dagegen ver- abfolglen die Konservativen in der geheimen Wahlrechtsdepntation BeruhigungSpillen, wobei aber mancherlei auS den DeputationS- Verhandlungen verraten oder enchellt wiedergegeben wurde. Dieser Stand der Dinge hat die Wahlrechtsdeputation Ver- anlaßt, von neuem die Frage der Geheimhaltung zu erörtern. Dabei soll die Regierung ihr früheres Verlangen auf weitere Anfrechlerhaltung der Schweigepflicht aufgegeben haben. Die Deputation hat aber dennoch beschlossen, den bis- herigen Zustand mindestens bis zum Ablauf der ersten Lesung aufrechtzuerhalten. Es wird sonach die ganze erste Lesung der Vorlage, die wahrscheinlich noch zwei bis drei Wochen währen wird, im Dunkel der Geheimniskrämerei verbleiben. Natür- lich wurde von sozialdemokratischer und auch von freisinniger Seite gegen dieses Verkriechen vor der Oeffentlichkeit lebhaft protestiert. Es nützte aber alles nichts. AuS dieser Scheu vor dem Lichte läßt sich ersehen, mit welch rückständigen Wahlrechtsprojekten die Nationalliberalen und Konservativen sich abmühen. Sie fürchten die Oeffentlichkeit, weil sie wissen, daß im Volke große Empörung Platz greifen würde, wenn man Kenntnis von den reaktionären Absichten hätte, die von der Mehrheit der Deputation verfochten werden. Dabei scheint eS den bürgerlichen Wahlrechtsalchimisten gleichgültig zu sein, daß das Miß- trauen im Volke immer mehr wächst. Sie vertrauen wohl auf die Dämme des Dreiklassenwahlrechts, die ja vorläufig die Reaktion noch beschützen. Noch der Meldung eines Leipziger Blattes soll sich die Wahlrechts- deptuation inzwischen für geheime Stimmabgabe und Einführung der.Klosett"-Wahl nach Art deS jetzigen Verfahrens bei der ReichstagSwahl entschieden haben. Das ist aber wohl das einzige, von dem man annehmen könnte, daß es jetzt entschieden ist. Der Entscheidung über die wichtigen prinzipiellen Fragen ist man bisher noch immer auS dem Wege gegangen. Die sächsische Wahlrechtsdeputation kann aber nicht ewig um diesen heißen Brei herumgehen, wenn man die Wahlrechtsreform nicht ab«rmalsv«rschleppenwilll Herr Gystling. Herr G y ß l i n g sprach dieser Tage in einer freisinnigen Wahl« rechtsdemoustration in Breslau . ES war freilich keine Demonstration gegen, sondern für das Dreiklassen-Wahlrecht! Keine Kundgebung gegen, sondern s ü r das Herrenhaus!! Und eine Kundgebung gegen die schlimmsten Feinde deS Vaterlandes: Barth , v. Ger « l a ch und die Sozialdemokratie.In den Sälen(!) des Cafö-RestaurantS", so hatte man an den Säulen renommiert, sollte sie vor sich gehen. In dem einen größeren Zimmer dieses Restaurants fand sie statt. Die wiederholten Hinweise zweier frei- sinniger Blätter, 100 Plakate an ebensoviel Säulen, eine rege münd- liche Agitation im RechtSanwaltSzimmer und Börsenkeller und sonstige private Bemühungen, die Hcrbeischaffung de» Paradegauls Gyßling aus Königsberg alles daS hatte nicht vermocht, die Freisinnigen in eine Wahlrechtsversammlung zu bringen. Vielleicht war das gut. Wärendie Säle" voll gewesen, so hätte man den Gyßling ausgelacht. Herr Gyßling brachte es fertig, zur Wahlrechtsfrage etwas ganz Neues zu enthüllen. Er sagte zunächst gegen die festeste Stütze des Geldsackswahlrechts, die Kon­servativen, keine Silbe I Nicht einen Ton I Kein Wörtlein gegen Vülow aber alles gegen Barth, G e r l a ch und die Noten. Dann aber kam die Ueberraschung deS Abends: Eine glühende Verherrlichung BülowSl ES fei gar nicht wahr, daß Blllow den Freisinnigen sein Wort gebrochen hätte. Er hätte eS ihnen überhaupt nie gegeben! Barth sage die Un- Wahrheit. Niemals habeBülow denLiberalen eine Wahlreform versprochen. Niemals I Auch bei der Reichstagswahl nicht. Auch in Norderney nicht. Niemals I Nie sei ihm derartiges eingefallen. Man könne daS auch von ihm gar nicht ver- langen. Im Block könne man nicht nur trotzdem, sondern gerade deshalb bleiben! Weil ja Bülow dem Freisinn nichts getan habe. Man habelange genug Opposition gemacht", da sei es zur Abwechselung ganz gut. sichan der aktiven Politik zu beteiligen". Und seine Pointe?«WaS soll der Liberalismus tun? Straßen« demonstrationen nützen»ichtS. Reden nützt auch nichts. Versamm- lungen nützen nicht» also: Warten wir ab. WaS Bülow un» gibt. Auf die Meinung der Wähler ist nicht viel zu geben. höchstens, wenn sie noch reaktionärer sein sollte wie die der Führer. Ist sie radikaler, so ist Stimmungsmache, Barthianismus.--- Und dann die Sozialdemokratie I Sie wurde von Herrn Gyß­ling gründlich abgefertigt. Für s i e hatte er, da er gegen die Konservativen(und, weil es Breslau war, auch gegen das Zentrum) kein Wort gesagt halte, Zeit genug. Ja, WaS bisher noch kein einziger aus der Wiemergarde fertig gebracht, gewagt hatte Herr Gyßling brachte eS fertig: Er verteidigte daS Herrenhaus und verurteilte seine K r i t i k e r I Die freisinn'ge Breslauer Presse aber, die sonst alles, was b'S 11 Uhr abends passiert, registriert, sogar Rezensionen über wertlose Kadel- burgiananoch nachts ins Blatt bringt, brachte über dieseKundgebung"am andern Morgen kein SlerbenSivörtchen. Diese Selbstkritik enthebt uns jeden Kommentars!_ Eine köstliche Satire a> auf eine gewiss e Sorte ,W o h l ti g kei t", wie wirfienament- lich in der Weihnachtszeit und bei sonstigen passenden. Ge/Wc�h�iten beobachten können, leistete sich allerdings unfreiwillig.der Justizrat Wallach in Essen (Ruhr) als Verteidiger einer bäuerli�e» Milchpantscherin. In Mülheim (Ruhr) betreibt die sehr gut äwierte Ehefrau des Landwirts Nöllcnberg nebenbei das recht einträgliche Geschäft des Milchhandels, der um so lukrativer sich gestaltet, je unverschämter die vielfach übliche Pantscherei be» trieben wird. Frau Nöllenberg verstand sich ganz besonders gut auf da? Pantschen. Seit Jahr und Tag konnte sie un- gehindert die Fälschung der Milch betreiben, ohne dem Strafrichter zu verfallen. Doch endlich wurde sie ertappt, da sie es schließlich zu arg trieb. Vor der Strafkammer in Duisburg wurde ihr nachgewiesen, daß die von ihr verkaufte Milch" in einzelnen Fällen die unglaubliche Menge von 71 Proz. Wasserzusatz aufwies. Dem Polizeibeainten Opfermann, der die Pantschcrei festgestellt hatte, wollte die brave Bäuerin erst mit 16 M., dann mit 199 und schließlich mit 2<)9l) M.(!) den Mund stopfen. Doch hier war sie an den Verkehrten gekommen. Die Sache ging ihren Gang und das Duisburger Gericht erteilte der gerissenen Landwirtin einen ganz gehörigen Denkzettel. Wegen deS BestechungSversncheS wurde auf 1999 M. und wegen der fortgesetzten gemeingefährlichen Nahrungs mittelfälschung auf 1 Monat Gefängnis und noch weitere 1999 M. erkannt. DaS Humorvolle bei dieser an sich durchaus nicht humoristischen Sache war nun, daß Herr Justizrat Wallach, den die be- güierte Landwirtin sich als Verteidiger von Essen nach Duisburg hatte kommen lassen, und der im Ruhrgebiet als tüchtige Kraft für schwierige Fälle" gilt, mildernde Umstände für diefromme" (Natürlich sind solche Leute allemal fromm l) Milchpantscherin geltend gemacht haben wollte, weil doch die Angeklagte als große Wohl­täterin der armen Leute bekannt sei!-- DaS übertrifft noch das tränenerstickte Schluchzen des Herrn Sello!-_ Das Wortrevolutionär" in Tilsit . In Ostpreußen beschäftigten sich, wie bereits gemeldet, am Sonntag die Genossen mit dem Vereinsgesetzentwurf. Für einen besonders guten Abschluß der Versammlung sorgte die Polizei in Tilsit . Sic scheint dort seit dem 12. Januar hypernervös ge- worden zu sein. Und der gegen den Genossen Hofer eingeleitete Hochverraisprozeß scheint bei ihr die Sehnsucht nach neuen ähnlichen Taten erweckt zu haben. Als nämlich der Vorsitzende die Versamm- lung mit einem Hoch auf die internationalerevolutionäre" Sozialdemokratie schließen wollte, löste der überwachende Polizeibeamte die Versammlung auf. Schon vor- her hatte der Referent, Arbeitcrsckretär Genosse S t o l t- Königs- bcrg, daS Verhalten der Polizei insbesondere der Tilsiter, mit beißendem Sarkasmus gegeißelt. Die neue Heldentat eines über- eifrigen Jüngers der heiligen Hermandad wird ebenfalls ihr Teil dazu beitragen, auch in dieser ernsten Zeit den Humor nicht ganz aussterben zu lassen._ EinDienstvergehen". Aus Bremen wird demVerl . Tagebl." gemeldet, daß gegen den bekannten Schulmann und pädagogischen Schriftsteller Heinrich Scharrelmann ein Disziplinarverfahren von der Schulkommission deS Senats eingeleitet wurde. Die Behörde er- kannte ein Dienstvergehen in drei Artikeln, die Heinrich Scharrel- mann imRoland" veröffentlichte. Er hat darin erklärt, ein Lehrer müsse die Freiheit haben, wenn es sein Gewissen gebiete, auch gegen die Vorschriften des Stunden- und Lehrplanes zu handeln. Er selbst werde es stets so halten. Scharrclmann ist einer jener liberalen Pädagogen, die beim Konflikt imRoland" sich auf die Seite des gegen diesozial- demokratische Richtung" der Zeitschrift protestierenden Verlegers stellten und in der Redakiion verblieben. Majestätsbeleidignng. Bei der Revision einer Zuckerfabrik in Bcrgedorf ersuchte am 29. Januar d. I. der Stcueraufseher Holz einen dänischen Volontär Jensen, an der von seiner kavalleristischen Kameradschaft veran- stalteten Kaiser-Geburtstagsfeier teilzunehmen. I. machte eine beleidigende Aeußcrung über den Kaiser," die er wiederholte, als Holz ihn zur Rede stellte. Dann entschuldigte sich I., aber am anderen Tage befand er sich hinter schwedischen Gardinen. Dieses Vergehen beschäftigte am Montagnachmittag die Strafkammer II deS Landgerichts Hamburg . Der Ehef der Zuckerfabrik stellte dem zwanzigjährigenMajestätsbeleidiger" ein sehr gutes Zeugnis aus und erklärte auf Befragen des Staatsanwalts, daß er gar keinen Grund habe, ihn zu entlassen, und auf die etwas erstaunte Frage, ob er ihn auch nach erfolgter Bestrafung beschäftigen würde, ant> wartete der Chef: Jawohl! Der Staatsanwalt beantragte mit Rücksicht auf die«erhebliche Frechheit des bei uns nur geduldeten dänischen Statsangehörigen" vier Monate Gefängnis. Das Gericht erkannte auf drei Monate und nahm den Angeklagten sofort ihn Haft, da Fluchwerdacht vor- liege und zweifellos seine Ausweisung erfolgen werde. Die 26 Tage Untersuchungshaft werden von der Strafe in Abzug gebracht. Die Strafkammer, die dieses Urteil fällte, ist dieselbe, die, wie wir gestern meldeten in einer Besetzung von drei Richtern, den Redakteur Hofmann wegen grober Beleidigung eines Volks- schullehrers freisprach. ReligionSvergrhe». Das Landgericht in RegenSburg verurteilte einen Mann wegen Verächtlickimachung der Religion zu 1 Monat Gefängnis. Der verurteilte hatte das ununterbrochene Herplappern ein und derselben Gebete auf der Straße(Prozession) lächerlich ge- funden und dasBeten" durch die Nase in hoher Stimme nach- geahmt. Die Balkanfragen. Gegen daS österreichische Projekt der Sandschekbahn wird sowohl von England als von Rußland aus energische Opposition gemacht. Die englische Regierung läßt offiziös erklären, daß sie den Zeitpunkt, in dem Oesterreich mit seinem Bahnprojckt hervorgetreten sei, für ungeeignet halte; sie hege die Befürchtung, daß die Rcformaktion in Mazedonien dadurch gestört werde. Roch schärfer geht die russische Regierung iuS Zeug. Die offiziöseRussija ", das Organ JSwolkis, konstruiert einen Zusammenhang zwischen dem Bahn- Projekt und dem Mürzstcger Uebereinkommen von 1993, das die Grundlage für daS bisherige gemeinsame Vorgehen Rußlands und Oesterreichs auf dem"Balkan bildet. Offenbar dient diese Konstruktion dem Zweck, Oesterreich vor die Wahl zu stellen, entweder auf das Bahnprojekt oder auf das Mürzsleger Uebereinkommen zu verzichten. Bei der Schwächung Rußlands durch die japanische Niederlage und die Revolution fehlt aber den diplomatischen Drohungen der Nachdruck. Diese machen mehr den Eindruck eines Rückzugs- gefechtes, das bestimmt ist die aufgeregte Agitation der er- hitztcn Chauvinisten zu beruhigen. Italien . Der Prozeß Nasi. Rom , 19. Februar. (Privat-Telegramm desVorwärts".) Heute gelangte zuerst S u m o n c l l i, der Verteidiger Lembardos, zum Wort. Er verlangte die Freisprechung seines Klienten; denn dieser habe ganz unter dew Einfluß der überragenden Persönlichkeit Nasis gehandelt.. Der Verteidiger schildert meisterhaft Nasis p sy ch i s ch e A n o m a l i e n, seine an Größenwahn grenzende Selbstüberschätzung und sein krank- haftcS Mißtrauen. Darauf hält Bonaui seine Verteidigungs­rede für Nasi. Er spricht eintönig und eindrucksloS. LLährend seiner Repe versagt das elektrische Licht und die Verhandlung mußte vertagt werden.