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1. Beilage zumVorwärts" Berliner Nr. 32. Dienstag, den 7. Februar 1893. 10. Jahrg. Deutscher Reichstag . 37. Sitzung vom K. Februar I8S3. 1 Uhr. Mm Tische des Bundesraths: von Bottiche r. _ Stuf der Tagesordnung steht zunächst der Antrag der Wgg. S ui g e r und Gen.: den Reichskanzler zu ersuchen, die Einstellung des gegen den Abg. Freiherrn v. Münch bei dem Landgericht Stutt- gart wegen Beleidigung schwebenden Strafversahrens für die Dauer der Session zu veranlassen. Abg. Singer: Der Abg. v. Münch ist von dem Amtsgericht Stuttgart ausgesordert worden, sich am 20. Februar zur Verbüßung einer Gefängnißsirafe von 2 Monaten zu stellen oder bis zu diesem Termin den Nachweis über Stellung eines Antrages beizubringen, wonach auf Grund des Artikels 31 Absatz 3 der Reichsverfassung der Strafaufschub verlangt wird. Der Abg. v. Münch zieht die letztere Eventualität vor und hat meine Freunde und mich er- sucht, einen diesbezüglichen Antrag zu stellen. Wir sind diesem Wunsche gern nachgekommen, und ich habe nunmehr den Reichs- tag zu bitten, der Aufforderung des Anitsgerichts Stuttgart Folge zu leisten und einen Beschluß zu fassen, wonach der Abg. v. Münch in der Lage ist, seinen parlamentarischen Pflichten für die Dauer der Session nachzukommen. Der Antrag wird genehmigt und darauf die bereits mehr- tägige Verhandlung über die Sozialdemokratie im Rahmen der zweiten Etatsberathung(Gehalt des Staatssekretärs im Reichs- amt des Innern) fortgesetzt. Abg. Bebel: Daß die Sozialdemokraten durch die Debatte der letzten drei. Sitzungstage nicht vernichtet sind, wie Herr Leuschner neulich meinte, bewies mein Vertagungsantrag, der zeigen sollte, daß wir nicht vernichtet, sondern nach wie vor kampsbereit sind. Wer zuletzt Sieger sein wird, darüber wird die Zukunft und die deutsche Arbeiterschast entscheiden. Bis dahin sind wir stets auf dem Posien und werden Sie zwingen, uns Rede zu stehen. Die Reden der Abgg. Richter und Bachem ließen sich nicht an der Hand des vorliegenden schriftlichen und und gedruckten Beweismaterials wahrheitsgemäß aus Wieder- legungen ein, sondern sie konstruirten sich nach ihren An- schauungen selbst ein Bild des Znkunftsstaats, um es zu be- kämpfen, nach der bekannten Taktik der Advokaten. Ueberzeugen werden wir Sie niemals, auch wenn wir statt 4 Tage 4 Monate oder Jahre weiter deduziren wollten, wir würden noch auf dem- selben Fleck stehen. Von Ihnen, den Vertretern der herrschenden Klassen, der Bourgeoisie, die Anerkennung zu erwarten, daß die heutige Gesellschaftsordnung morsch sei und eine andere an ihre Stelle treten müsse, wäre mehr wie Thorheit. Sie treten als eine festgeschlossen ePhalanxuns gegenüber auf, da verschwinden alle kleinen Kämpfe, wie sie sonst wohl zwischen Parteien vorkommen; es giebt dann nur zwei Lager: wir hüben und Sie drüben. Der Abg. v. Stumm redete immer von einem Zukunftsstaat, an den wir gar nicht denken. Ihr Denkvermögen erlaubt Ihnen eben nicht, einen Unterschied zu machen zwischen Staat und Gesell- schaflsordnung. Ich bedauere, daß Ihr Denkvermögen so enge Grenzen hat.(Heiterkeit.) Abg. v. Stumm meinte, unser Zu- kunftsstaat sei zugleich Zuchthaus und Kaninchenstall. Er wider- sprach sich darin genau so, wie wenn Bachem sagte, wir hätten keine Autorität, bestimmten Gelüsten entgegenzutreten, und übten zugleich eine strenge Tyrannei aus. Herr v. Stunim mag ja nicht wissen, wie es im Zuchthaus aussieht. Wenn irgendwo eine Zuchthausordnung besteht, dann ist es doch die Fabrikordnung der Gebrüder Stumm , die sie übrigens wahrscheinlich auf Grund der neuen Gesetzgebung werden ändern müssen, wenn Abg. von Stumm auch erklärte, er würde sich nicht an die Bestimmungen der Gewerbe-Ordnung kehren, sondern aus anderen Wegen die von ihm«rlasseiien Bestimmungen bei seinen Arbeitern in Geltung zu bringen suchen. Es darf sich bei ihm kein Arbeiter verhcirathen, der nicht einen Konsens dazu von ihm hat. Er sucht damit auch die Kinderproduktion und Fortpflanzung zu überwachen. Ein Fortschritt der bürgerlichen Gesellschaft seit 1837 und 71 war die Wegräumung aller Hindernisse der Eheschließung, weil die kapita- listische Entwicklung dazu drängt, die Bevölkerung und somit die Arbeiterzahl zu vermehren. Es wäre aber mehr als wahnsinnig, wenn Sie jetzt glauben machen, daß wir die Ehebestimmungen beschränken und die menschliche Freiheit so unterdrücken wollten, daß der Mensch nicht mehr frei nach allen Richtungen hin seine geistigen und körperlichen Kräfte bethätigen könne. Wollten wir diesen natürlichen Entwickeulngsbedingungen widerstreben, dann wären wir vom ersten Tage an verloren. Aber weil Sie sich be- wüßt sind, daß Sie hier vor einer großen Kulturcntwicklung ersten Ranges stehen, der die Zukunft der Menschheit gehört, und da Sie diesem Bestreben feindlich gegenüberstehen, darum bekritteln Sie unsere Schilderungen über den Zukunftsstaat so abfällig. Wir können den Erfolg dieser Bestrebungen ruhig abwarten. Was Bachem und Richter hier vorbrachten, haben sie schon in ihren Wahlreden und Flugblättern gesagt, die uns als die reinen Mordbrenner und Räuber hinstellen, welche die Kultur zerstören und eine neue Barbarei schaffen wollen. Die gläubigen Zuhörer sind meist in vollständiger Unwissenheit über unsere Zustände. Trotzdem ist unsere Stimmenzahl bei den Wahlen immer ge- wachsen; das beweist, daß noch ein Kern gesunden Menschen- Verstandes im Volke steckt, trotz aller Bemühungen, ihn aus- zurotten. Stöcker warf uns vor, wir verführten die un- wissenden Massen. Aber wenn die Massen unwissend sind, dann tragen Sie die Schuld, denn Sie, die Sie die Macht in Staat und Kirche haben. haben diese Unwissenheit gepflegt.(Widerspruch und Lachen rechts und im Zentrum.) Sie ist das Produkt Ihrer Erziehung oder vielmehr Nicht- erziehung; wir aber werden jetzt das Volk ausklären. Die Anschauung der heutigen Gesellschaft zeigt sich darin: Die Majorität der Wahlkommission erklärte neulich, wenn ein Arbeit- Seber den Arbeiter zwingt, bei der Wahl in seinem Sinne zu immen, so sei das ganz in der Ordnung. Das ist doch eine unerhörte Zumuthung. Stumm hat seinen Arbeitern verboten, eine bestimmte Zeitung zu lesen, und Krupp über zwei katholische Blätter den Boykott verhängt, jeden Arbeiter, der sie hielt, zu entlassen und wenn er eine Wohnung von ihm hatte, aus der- selben hinauszuweisen gedroht. Sind das etwa keine Zuchthaus- einrichtungen? Derselbe Krupp hat vor einigen Monaten seier- lichst durch Erlaß sich bereit erklärt, das Verbot aufzuheben, weil er aus der Haltung der betreffenden Blätter ersehe, daß sie seinen Arbeitern keine Gefahr mehr brächten. Da sind doch die Ar- beiter nichts mehr und nichts weniger als Zuchthäusler. Das allgemeine Stimmrecht haben Sie schonungern gegeben, und wenn Sie es bis auf diese Seite(links) hin aus der Welt schassen könnten, würden Sie es thun. Warum haben Sie Ihre Macht im preußischen Abgeordnetenhause nicht benutzt, um es auch dort einzuführen? Sie haben mit dem neuen Wahlgesetz das elendeste aller Wahlsysteme nicht angetastet. So haben Sie es in allen Einzelstaaten gemacht, Sie wollen den Arbeiter nicht zur Gleich- berechtigung gelangen lasten. Ihre soziale und politische Macht giebt Ihnen die Möglichkeit, als Vertreter der herrschenden klaffen in den Parlamenten die Gesetze so zu machen, wie sie Ihnen paffen. Von dem bischen Sozialresorm, das wir haben, erklärte Bismarck , daß sie der Sozialdemokratie zu verdanken sei. Wir können als Minorität lein» Gesetze machen und doch haben' wir 36 sozialdemokratische Abgeordnete eine größere moralische Ge- walt als Sie übrigen 360 zusammengenommen.(Lachen rechts.) Unsere Minorität hat Sie zur Sozialreform gezwungen. Auch in der ersten Thronrede des jetzigen Kaisers wird von demguten Kern" der sozialdemokratischen Bestrebungen gesprochen und eine positive Gesetzgebung in Aussicht gestellt, um dem Arbeiter zu helfe». Was können Sie, Herr Bachem, noch für sozialreformatorische Maßregeln bringen, nachdem Sie die neue Gewerbe-Ordnung gutgeheißen haben? Nur einige Kleinigkeiten können Sie noch bringen, dann ist es alle. Sie sagen, nur der junge Arbeiter folgt uns. Sie irren sich. Es giebt eine ganze Anzahl von alten Arbeitern, gerade so alt wie ich, die vom Anfang an zu uns stand. Zu allen Zeiten hat in der Welt der Jugend die Zukunft gehört. 1 427 006 Wähler haben sich für uns erklärt, wir sind stärker als das Zentrum, das bis dahin für die stärkste Partei galt. Bei den nächsten Wahlen werden wir es mit der doppelten Stimmenzahl schlagen.(Oho! im Zentrum.) Diese 1427 000 Wähler sind gerade so gut Sozialdemokraten wie die 1 300 000 Wähler des Zentrums Zentrumsleute oder die freisinnigen Wähler Freisinnige sind. Wollte man die Letzteren examiniren, so würde man auch finden, daß sie nicht Wort für Wort des Programms gutheißen. Das thut auch gar nichts zur Sache, die Hauptsache ist, daß die Wähler uns folgen. Wenn 1 427 000 Männer für eine Partei wie die sozialdemokratisch« stimmen, die auf das Feindlichste von allen Parteien, die von der Staatsgewalt bekämpst wird; wenn man den Wählern ein Wau l Wau! vormacht und ihnen den leibhaftigsten Teufel präscntirt dann können wir sagen, sie ge- hören uns. In meiner Rede gegen den Fürsten Bismarck, als ich versprach, bei anderer Gelegenheit über die Regelung der Pro- duktion und Distribution zu sprechen, habe ich Ihnen sehr viele Aufgaben gestellt: Aufhetzung der Zölle auf Lebensmittel, ge- rechte progressive Einkommensteuer, Besteuerung der Ojfiziere, der Reichsunmittelbaren, Umwandlung der Armee in ein Volksheer, Gründung internationaler Schiedsgerichte. Was haben Sie von alledem verwirklicht? Nur die Besteuerung der Reichsunmittelbaren, aber nur, nachdem Sie diesen Herren, die ein ungeheures Vermögen besitzen, aus der Staatskasse 7 Millionen gezahlt hatten. So beweisen Sie Ihre Arbeitersrcundlichkeit! Jenes Versprechen habe ich für meine Person eingelöst durch meine SchriftDie Frau". Ich habe mir dann Mühe gegeben, zu schildern, wie sich nach meiner Auffassung die Produktion, Konsumtion, allgemeine Erziehung, kurz alle wesentlichen Jnter essen der Gesellschaft entwickeln werden. Abg. Bachem weiß nichts vom Zukunstsstaat. Abg. Richter sagt: Das steht alles in derFrau", und giebt sich Mühe, in einer mit guten und schlechten Witzen gespickten Rede mich zu widerlegen. Wenn man ernste Bestrebungen damit aus der Welt schaffen könnte, wäre es Herrn Richter vielleicht gelungen. So aber stellt er sich damit nur ein Armuthszcuguiß aus.(Rufe: Oho!) Schon in der BroschüreUnsere Ziele", welche 1860 erschien, habe ich in Aussicht gestellt, den Zukunfts- staat in allen Einzelheitei» darzulegen. Als es sich im November 1888 um eine neuere Auslage dieser Broschüre handelte, habe ich in der Vorrede ausgesprochen, daß ich mit meinen früheren Ausführungen nicht mehr in allen Theilen ein- verstanden sein könnte. Kann ein Schriftsteller loyaler handeln? Wenn Abg. Stöcker am Sonnabend äußerte, daß wir wider besseres Wissen die Massen fanatisiren, so ist das eine Unter- stellung, die durch nichts begründet ist. Die nächste, dreizehnte Auslage derFrau" wird in noch stärkerer Auflage erscheinen, wie die gegenwärtige, welche in 70 000 Exemplaren aufgelegt ist. Wir gehen heute viel weiter als jemals früher. Das kommt auch im Erfurter Programm zum Ausdruck, verglichen mit den früheren Programmen. Wer diese Programme vergleicht, der muß zugeben, daß unser Programm unendlich viel klarer und in seinen Forderungen weitgehender geworden ist. Kurz nach dem Erfurter Kongreß kam dieKreuz- Zeitung " in einer Besprechung zu dem Resultat, daß die Sozialdemo- kratie die einzige Partei in Deutschland sei, welche ein klares Programm hat und weiß, was sie will. Eine solche Anerkennung meines entschiedensten Feindes ist mir sehr viel angenehmer, als die schwächliche Kritik der Herren, welche sich über unseren Ent- wickelungsgang und unsere Bestrebungen sehr genau unterrichtet haben. In den 30 Jahren, welche ich in der Bewegung stehe, bin ich von Jahr zu Jahr weiter fortgeschritten. Das rechne ich mir zum Ruhme an. Herr Richter erwähnte unsere früheren gemeinsamen Bestrebungen. Ich habe einen Mausenmgsprozeß durchgemacht, Herr Richter und seine Partei nicht. Wir haben uns nach vorwärts entwickelt, er ist entweder stehen geblieben oder hat sich nach rückwärts entwickelt. Abgeordneter Richter hätte seine Reden vor 30 Jahren genau so gehalten wie heute. Er ist sozusagen ein lebendiges Petrefakl(Heiterkeit), ein Mann, der gar nichts gelernt, aber sehr viel vergessen hat. Vergleicht man das Programm der früheren Fortschrittspartei mit dem jetzigen der freisinnigen Partei, so liegt der Rückschritt auf der Hand. Wenn wir einen sortgesetzten geistigen Mauserungsprozeß durch- machten, so haben wir das gemacht, was all die Bestrebungen, die mit dem Fortschritt der Zeit verknüpft sind, ebenfalls thun. Zwar die juristische Wissenschast ist nicht fortgeschritten. Abge- ordneter Bachem hat am vorigen Freitag bewiesen, daß er das Wesen der sozialistischen Gesellschaft weit mehr kennt, als er äußerlich zugiebt. Er hat wohl gefragt, wozu wir ihn verwen- den würden;' aber nicht, wie wir ihn als Juristen verwenden würden. Er hatte das instinktlve Gefühl, daß er als Jurist in der sozialistischen Gesellschaft überflüssig wäre.(Heiterkeit.) Fragen Sie einen Dlediziner, einen Naturforscher, Techniker, Ingenieur, wie sich ihre Wissenschaft in den letzten fünf Jahren entwickelt hat. Es giebt keinen Stillstand,Alles fließt" nach Heraklit . Wenn die bürgerliche Gesellschaft ihre höchste Blüthe erreicht hat, aber damit auch alle ihre Uebelstände zur Erscheinung gekommen sind, dann ist ein Umschlag in der Qualität die nothwendige Folge. Abg. Stöcker be- merkte, seine Partei werde in den nächsten fünf Jahren lernen und das Gelernte im besten Sinne anwenden. Also auch die Herren von der Rechten, welche früher einen Fortschritt der Menschheit überhaupt nicht zugeben wollten, müssen an- erkennen, daß es eine Entwickelung giebt. Abg. Bachem meinte ausweichend: wir werden in den nächsten Jahren thun, was er- forderlich sein wird. Gerade weil Sie auf dem Boden der heutigen Gesellschaftsordnung stehen, sollten Sie erst recht in der Lage sein, zu sagen, was Sie innerhalb der nächsten fünf Jahre thun werden. Woher wissen Sie, daß Ihre Gesellschaftsordnung überhaupt noch d Jahre besteht?(Zwischenruf des Abg. Bachem.) Herr Bachem weiß das freilich, so gewiß, wie er nach dem Tode leben wird. Beweise hat er nicht. Ich habe mich am letzten Sonnabend in der Militärkommission sehr amüsirt, als Herr Richter an die Regierung die Anfrage stellte, welche Aus- gaben dem Reiche in den nächsten S Jahren auf Grund der vorhandenen Gesetze und Einrichtungen erwachsen würden; da er- klärten sämintliche Offiziere: Das können wir nicht sagen. Ich rief damals sofort Herrn Gröber zu: Sehen Sie, das war auch eine Frage nach dem Zukunftsstaat, und man hat sie nicht beantworten können. Die Herren von der Militär- Verwaltung haben in den Jahren 1887 und 1890 erklärt: Wir sind mit unseren Forderungen fertig. Jetzt kommt man mit großartigen Plänen. Warum? Weil die allgemein» politische Situation sich so entwickelt hak, daß das früher Verlangte heute nicht mehr ausreicht. Wenn diese Ausmalung Werth haben sollte, so müßte die gesammte Partei darüber verhandeln und Beschluß fassen. Denn man könnte sonst sagen: Das will Bebel, Liebknecht. Auer, aber was will die Partei? Die Herren von der Re- gierung sind zum Theil ganz gescheit, und doch müssen die Gesetze mehrfach umgestaltet werden, daß man sie überhaupt nicht mehr kennt. Bei weiterem Nachdenken müßten Sie sich schämen, ernsthaft eine derartige Forderung an uns zu stellen. (Lachen.) Der denkende Arbeiter, Herr Bachem, läuft nicht Ihnen, sondern uns nach(Heiterkeit); er ist Sozialdemokrat. Ich bm zu der Ueberzeugung gekommen, daß dies eigentlich nur eine Verlegenheitsdebatte ist. Sie stellen uns heikle und kitzlige Fragen, um event. Waffen für den nächsten Wahlkampf gegen uns zu geivinnen. Aber Sie täuschen sich. Zur Umwandlung der heutigen in die sozialdemokratische Gesellschaft ist gar kein Waten im Blute nothwendig. Ich kann mir vorstellen, daß dte Dinge sich eben so rasch in die neue Gesellschaft umbilden, wie 1870 die Franzosen mit Napoleon fertig wurden. Nicht wir haben die Entwickelung, sondern die Entwickelung hat uns M der Gewalt. Hätte man in der französischen Revolution nicht zugleich die Dinge von Grund aus geändert durch Konfiskatioit des Grund.und Bodens der Geistlichen und Bertheilung an die bisherigen Hörigen und Leibeigenen, das Abschlagen von 30 000 Köpfen von Aristokraten und Pfaffen, wie man sich aus- drückte, hätte nichts geholfen. Es hätte auch so kommen können, wenn man keinen einzigen Kopf abgeschlagen hätte. Darin unter- scheiden wir uns von Ihren Vorfahren: wir wissen, daß der Schwerpunkt nicht in den Personen, sondern in den Dingen liegt. Und wenn auch dieser ganze Reichstag ausstürbe, nach 4 Tagen wäre ein neuer ReichÜag da und genau so schön wie der gegenwärtige.(Heiterkeit.) Wir wünschen sogar, daß Sie bei der Neugestaltung der Dinge zugegen wären, denn es ist besser, Sie ärgern sich daran zu Tode, als daß wir Ihnen ans Leben gehen. Mit seinen nationalökonomischen Anschauungen steht wohl Herr Richter als Unikum in seiner eigenen Parte: da. Ich bezweifle sehr, daß z. B. sein Freund Bamberger berett wäre, alle die ökonomischen Aussührnngen, die Richter am Sonnabend gemacht hat, Wort für Wort zu unterschreiben. Dazu ist Herr Bamberger viel zu klug. Er weiß überhaupt viel mehr, als er sich den Anschein giebt.(Große Heiterkeit.) Herr Bamberger ist lange Zeit in Frankreich gewesen, und er besitzt viel mehr Sachkenntniß, als Herr Richter, der eine ganz ein- seitige Entwickelung gehabt hat, in dieser allerdings Vorzügliches leistet. Herr Richter führt die Krisen auf schlechte Ernten zurück. Warum sind denn aber nicht auch in früheren Jahrhunderten Krisen entstanden, wo doch auch schlechte Ernten waren? Weil eben die Produktionsbedingungen und-Instrumente, die wir gegenwärtig zur Waarenerzeugüng haben, in jener Zeit fehlten. Die großen Krisen sind eine Folge der großen kapitalistischen Entwickelung. Nicht die Konsumlionssähigkeit fehlt, fondern die Kaufkraft. Je geringer die Löhne der Massen und je größere Prostie in die Taschen der Unternehmer fließen, um so groß« artiger sind die Krisen und um so länger dauern sie. Könnte man die Konzentration des Kapitals in einzel- neu Händen dadurch verhüten, daß man die Arbeits« löhne um 30 bis 50 pCt. erhöhte, so würden die Krisen sehr bald verschwinden; denn Millionen wären dann in der Lage, mehr auszugeben und Waaren zu kaufen. Es ist nicht wahr, daß in den Versammlungen der Arbeitslosen nur sozialdemokratische Abgeordnete gesprochen hätten. Wir sind den Aufforderungen der Arbeitslosen, sie über die Ursachen der Krisen zu unterrichten, ebenso gern gefolgt, wie es der Abg. Richter in ähnlicher Lage auch zu thun pflegt. Herr Richter bringt ja in seiner Zeitung über die Arbeitslosen-Versammlungen sehr schlechte oder gar keine Berichte; sonst müßte er wissen, daß in diesen Versammlungen sehr viele Arbeitslose redend austreten. Ich wenigstens habe dort Bedeutendes gelernt. Herr Richter hat gemeint, im sozialdemo- kratischen Staat könne man die Arbeitslosigkeit auch nicht ver- hindern. Er ist so in seine bürgerlichen Ideen verrannt, daß er sich gar nicht aus der bürgerlichen Gesellschaft herausdenken kann. In seinenZukunftsbildern" kritisirt er nicht den sozaldeniokratischen Staat, sondern seinen eigenen Zukunfts- staat. Er geht so weil, daß er dem sozialdemokratischen Zukunftsstaat einen Reichskanzler giebt. Ich wundere mrch, daß er nicht auch Caprivi genannt hat.(Ruf des Abg. Richter: Sie haben ja selbst von Boetticher gesprochen.) Er berührt sogar die Stiefelwichsfrage. Der Reichskanzler muß seinen Posten ver- lassen, weil er keinen findet, der ihm die Stiefel wichst. Herr Richter kann es gar nicht begreifen, daß es möglich wäre, eine Stiefelwichsmaschine zu erfinden.(Großes Gelächter.) Sie lachen, ich will Ihnen aber etwas sagen, da werden Sie vielleicht weniger lachen. Kaum war ein halbes Jahr verflossen seit der Veröffentlichung der Richter'schen Broschüre, da kam aus Nürn- berg die Nachricht, daß ein dortiger Industrieller eine Stiefel« wichsmaschine erfunden hätte. Es war sogar ein Parteigenosse des Abg. Richter. In Amerika existirt jetzt schon eine Stiefel- wichsmaschine. Und was ist denn dabei, wenn der Reichskanzler sich selber die Stiefel wichsen muß? Ich habe sie mein Leben lang gewichst, und thue es heute noch. Ich habe auch im Gefängniß den Fußboden scheuern müssen, und es hat mir auch nicht geschadet. Ist etwa das Stiefelwichsen eine unehrliche Beschäftigung?(Widerspruch.) Warum machen Sie denn die Sache so lächerlich? Sie können sich zur Roth das Bett selber machen, Herr Richter.(Heiterkeit.) Diese Einwände find alle furchtbar lächerlich. Auch heute existirt schon eine gewisse Re- gulirung der Produktion. Die Herren von Stumm, Hammacher, Oechclhäuser, werden mir bestätigen, daß eine ganze Reihe von Großindustriellen Ringe, Syndikate in den verschiedensten Be- rufszweigen gegründet haben, um die Produktion zu regeln. Hier liegen die Keime für die Entwickelung der sozialistischen Ge- sellschafl. Ich bin ganz damit einverstanden, daß man den Aktionären, wenn man sie aus Schiffe packte, auch noch das Geld mitgäbe. Die Gesellschaft wird auch ohne Ihr Geld fertig. Der Abg. Richter hat mich durch den Hinweis auf die Eisen- dahnverwaltung zu widerlegen gesucht. Sind wir denn mit dieser Eisenbahnverwaltung zufrieden? Kann sie nicht ebenso gut fem, wie sie schlecht ist? Die Uebelstände liegen nur in den Personen und in gewissen Maximen der Regierung. Ww haben nur zeigen wollen, daß, wenn der Staat schon unter den heutige» bürgerlichen Verhält- nissen dazu übergeht, gewisse große Jndustrieen zu verstaatlichen. er dann der zukünftigen Expropriation vorarbeitet und sie er- leichtert. Der sozialdemokratischeStaat" soll ein Zuchthaus und noch schlimmer als der Militärstaat sein. Ja, glauben Sie denn, daß die Arbeiter sich derartige Zwangseinrichtungen, wie sie die HerrensRichter, Bachem und Stumm uns voraussagen, gefallen lassen würden?(Heiterkeit. Abg. Bachem: Das ist es ja gerade!) Sie glauben doch selber nicht, daß die rheinisch-weftfälischen Berg- werke im sozialdemokratischen Staat etwa einen Singer zum Direktor wählen würden, obwohl er nichts von diesen Dingen versteht. Alle Ihre Techniker und Ingenieure würden künstig ihre Intelligenz weiter verwenden müssen, schon weil sie leben müssen. Sie können auswandern, meinetwegen, es werden bald Leute da sein, welche das ebenso genau verstehen. (Widerspruch.) Sie haben keine Ahnung, welches Maß von Intelligenz in der Arbeiterschaft steckt. Das ist der ungeheure Vorzug unserer Partei, daß im Staatssozial«» und öffentticheu