„Die Regierung brauet sich mit der Einlösung der Zu- sage vom 10. Januar d. I. uicht zu übereilen, sondern kann sich Zeit zur gründlichen Borbcratung ihrer Entschließung nehmen." Schließlich äußert er sogar den Wunsch, daß in bezug auf die Neueinteilung der Wahlkreise«die Streitaxt für die ganze neue Legislaturperiode begraben werden' möchte! Ob die Nationalliberalen eifriger auf eine Wahlreform drängen werden als die Freikonservativen, ist sehr die Frage. Nicht viel mehr ist von dem Zentrum und dem Freisinn zu erwarten. Die neue sozialdemokratische Landtagsfraktion wird allerdings alles aufbieten, um die angeblichen Freunde einer Wahlreform mobil zu machen. Die Hauptsache aber ist, daß daS Volt selbst, das bei der Laudtagslvahl in so gewaltigem Maße durch Stimmabgabe für die sozialdemokratischen Wahlmänner Protest gegen die Dreiklassenschmach erhoben hat, den Kamps mit allem Nachdruck fortsetzt!— Kanzel und Beichtstuhl als Mittel zum Kampfe- Im Februar dieses Jahres referierte die Genossin K a d e i t- Berlin gelegentlich einer Agitationstour in Jügesheim , Kreis Offenbach (Großherzogtum Hessen). Für die Versammlung hatte der katholische Pfarrer des Dorfes, Floth, wirsam agitiert, indem er seine Gläubigen vor der Versammlung und vor der gewerkschaft« lichen Organisation(Portefeuiller-Verband) eindringlich warnte. Für die tätige Hilfe des Pfarrers dankte in einem längeren Artikel Ge- nosse Weinschild als Vorsitzender des Portefeuillerverbandes, und das„Offenbacher Wendblatt' sagte im Anschluß an den Versamm- lungsbericht, daß der Pfarrer von Frauenspersonen gesprochen habe, die Spitzen an den Röcken, aber kein Hemd am Leibe trügen. Für den ihm ausgedrückten Dank hatte der Geistliche schlechterdings lein Verständnis. Er klagte gegen den Verbandsvorsitzenden W e i n s ch i l d und den verantwortlichen Redakteur des.Offenbacher Abendblattes', Genoffen Hirsch. In der Verhandlung wurde folgendes bekundet: Zeugin Magdalene Sahm: Der Herr Pfarrer habe in der Kirche gedroht, wenn die Mädchen in den Verband eintreten, werde er den Empfang der hl. Sakramente verweigern. Zeugin Anna Jakobi: Sie habe bei dem Herrn Pfarrer gebeichtet, er habe sie gefragt, ob sie dem Verbände angehöre und als sie das bejahte, erklärt, der Verband wäre lauter Gift, sie solle herausgehen, sie solle auch die.Gleichheit' nicht lesen. Für die Beiträge im Verband könne sie sich einen schönen Hut kaufen. Er sei dann auch darauf zu sprechen gekommen, ob die Portefeuiller streiken würden und habe darauf erklärt, er wolle es dem Arbeitgeber der Jakobi, Herrn Fabrikannt Heymann, melden, daß gestrefft würde. Auf die Frage WeinschildS, ob sie ihn nicht nachträglich darum ersucht habe, von ihrer Zeugenschaft abzusehen, weil man sonst im Dorfe mit Fingern auf sie zeige, will sich zunächst die Zeugin nicht entsinnen können, gibt schließlich aber zu, daß sie sich letzteres gedacht habe. Das gibt dem Genossen Hirsch Ver- anlassung, seinem Empfinden dahin Ausdruck zu geben, daß die Zeuginnen durch die Anwesenheit des Pfarrers beeinflußt seien. weShalb er um die Entfernung des Pfarrers während der Ver- nehmung bittet, was jedoch vom Vorsitzenden abgelehnt wird. Zeugin Grimm bekundete, der Pfarrer habe in der Christen- lehre gesagt, sie sollten nicht in den Verband eintreten, habe dann davon gesprochen, daß eine Agitatorin da sei. die eine Versamm- lung abhalte und hat unmittelbar vorher oder nachher gesprochen von Frauenzimmern, die Spitzen an den Röcken und Hüte auf den Köpfen, aber kein Hemd an dem Leibe hätten. Die Zeugin hat das als Gleichnis aufgefaßt und kann nicht sagen, daß es sich auf die Genossin Kadeit bezog. In der Beweisaufnahme kommt weiter zur Sprache, daß Pfarrer Floth in einer Predigt am 7. Juli 1907 Abrechnung mit seinen per- sönlichen Feinden gehalten hatte.„Zur Erbauung' apostrophierte er einen in der Kirche anwesenden Wirt Appelmaim: Bei ihm ver- kehr« lauter Gesindel, die Jugend sei total verdorben, ruch- los. Weiter brachte die Predigt folgende Stilblüten: Appel- mann sei ein grüner Junge, er solle sich nicht einbilden: daß er seinen dreckigen Schnabel an ihm(dem Pfarrer) wetzen könne, Appelmann solle seinen Uz nehmen und seine dreckigen Schuhe damit schmieren. Dann gab'S Ausdrücke wie: Lumpen, Schufte, schlechte Kerle, Flegelbande, Flegelverein, Blut- schände. Aus der Zuhörerschaft tönt eS ihm entgegen: Lump, Schuft! Schmeißt den Schuft von der Kanzel! Für diese „Guttaten' war der Pfarrer zu LS M. Geldstrafe oder 8 Tagen Haft verurteilt worden. Der Verteidiger der Angeklagten, Rechtsanwalt Dr. Katz war es, der eventuell unter Vorlegung der Akten über obigen Fall die Streitbarleft des Pfarrers dokumentarisch belegen wollte. DaS Urteil schloß fich in der Hmlptsache den Rechtsgründen des Verteidigers an. indem eS feststellte, daß der Pfarrer in zwei Fällen sich eines entschiedenen Mißbrauchs seiner Amtsbefugnisse schuldig gemacht habe, daß er auch sonst vor dem gesetzlich zulässigen und auch wirtschaftlich berechtigten Verband gewarnt habe in seiner Eigenschaft als Geistlicher. Das Gericht habe deshalb wegen verschiedener Stellen im Artikel Weinschilds auf ein Nichtschuldig erkannt und auch die scharfen Ausdrücke, wie.erdreistet' für berechtigt angesehen. Dem Angeklagten W. sei auch der Schutz des § 193 zuzubilligen, da er gegenüber dieses Verhaltens des Pfarrers zur Abwehr genötigt gewesen sei. Er habe lediglich durch Ausdrücke wie Mitagitator und.Seelsorger'(in Gänsefüßchen) und Abdruck des Artikels im.Abendblatt' sich einer formellen Beleidigung schuldig gemacht und müsse deshalb verurteilt werden. Das Urteil lautete auf 80 Mark gegen Hirsch, dem der Schutz des§ 193 nicht zugebilligt wurde, und 40 Mark Strafe gegen Weinschild. Dem Kläger wird die Befugnis der einmaligen Publikation des Urteils im„Offenbacher Abendblatt' und der„Portefeuiller-Zeitung" zugesprochen. Was die vorgesetzte Behörde des Pfarrers zu den Feststellungen des Gerichts sagen wird, bleibt abzuwarten.— Rabiate Flottenpatrioten. Die Generalversammlung des Flottenvereins, welche das Neue Präsidium an Stelle.der gestürzten Keimlinge wählen soll, findet demnächst in Danzig statt. Die Freunde des gestürzten Präsidiums agitieren fieberhaft für eine Wiederwahl der Keim und Genossen. Graf Reventlow veröffentlicht einen fulmi- nanten Artikel in der„Täglichen Rundschau". Er erinnert daran, daß früher der Flottenverein nicht nur poli- tisch, sondern auch parteipolitisch«im eminentesten Maße" tätig gewesen sei. Er habe seinerzeit politische Agita- tion gegen Freisinn und Sozialdemokratie ge- trieben,„wie sie kräftiger nicht gedacht werden könne" und zwar„aufs Ausgiebigste unterstützt nicht nur von der Marine- Verwaltung, sondern von dem gesamten amtlichen Apparat". Jetzt solle auf einmal der Flottenverein aus Rücksicht auf das Zentrum feine bewährten Traditionen verleugnen. Die Dele- gierten des Flottenvereins möchten doch mit sich zu Rate gehen, ob sie wirklich verpflichtet seien, ihre Ueberzeugungen und Ideale in Danzig zu opfern. „Was sie vielleicht nach schweren inneren Kämpfen zum Opfer bringen, ist ja tausendmal mehr>v e r t, als das, wofür sie eS o p f c r n, nämlich Schein und ServiliSmus.' So donnern alldeutsche Hanswurste und von Profitgier gestachelte Panzerplatten interesfenten gegen.die LiÄedienerej nach osien! Es fehlt nut noch, daß sie gleich den ubtt die Caprivische Zollpolitik empörten Junkern mit einem Ueber- gang zur Sozialdemokratie drohen! Der preußische Wahlrechtskampf im Gerichtssaal. Am 3. Juni, dem Tage der preußischen Landtagswahl, wurde über den Wahlrechtskampf in Preußen im Stuttgarter Ge- r i ch t s s a a I verhandelt. Die christlich-konfervative„Deutsche R e i ch s p o st" in Stuttgart hatte seinerzeit die Wahlrechtsdemon- strationen in Berlin am 12. Januar in allerchristlichster Weise be- geifert, den Demonstranten„Galgengesichter" angedichtet, ihnen „törichte Roheit" nachgesagt, die Arbeiter„Radaubrüder",„Penn- brüder' usw. geschimpft.„Wie die kommandierenden Generäle auf ihre manövrierenden Truppen so sehen die Singer und Bebel auf die Krawalle ihrer revolutionären Kerntruppen...... Zum Krawallmachen sind die grünsten Jungen recht, das lichtscheue Ge- sindel, die gemeinste Dirne und ihr Zuhälter." Das sind so etliche Proben aus dem Elaborat des frommen Blattes, dessen Chef- und verantwortlicher Redakteur der sehr christliche Landtagsabgeordnete Fritz S ch r e m p f, ein früherer Lehrer aus dem Pietistendorfe Korntal bei Stuttgart ist, bekannt auch als früherer Reichstagsabgeordneter und Adjutant der Junker. Dem Blatte wurde von unserem Parteiorgan eine Antwort erteilt, die Hörner und Zähne hatte. Herr Fritz Schrempf, der die infame Schimpfepistel gegen die Berliner Wahlrechtsdemonstranten in seinem Blatte lustig publiziert hatte, lief nun wehklagend zum Kadi, obgleich sein Name gar nicht genannt war. Aber wenige Wochen vorher hatte ihn die„Schwäb. Tagwacht" sehr deutlich bei Namen gerufen. Das Blatt dieses frommen Ehrenmannes hatte nämlich vorher schon einen Artikel gegen die Sozialdemokratie ge- bracht, der von den niederträchtigsten Fälschungen der Reden und Schriften führender Genossen strotzte. Damals hatte Herr Fritz Schrempf sich von der Verantwortung zu drücken gesucht und seinen gänzlich unbekannten Kollegen Kübel vorgeschoben. Dieser wieder- um hatte die Fälschungen dem christlich sozialen„Voll" Stöckers in Berlin aufgehalst, was den Ehrenmann freilich nicht hinderte, gleich darauf wieder mit neuen hahnebüchenen Fälschungen zu operieren. Damals also hatte Herr Fritz Schrempf sich gar nicht beleidigt gefühlt, allen Verbalinjurien zum Trotz, mit denen ihn die„Tag- wacht" bedacht hatte, um ihn zur Klage zu zwingen und so die niederträchtigen Fälschungen und Verleumdungen des christlichen Blattes gerichtlich feststellen zu lassen. Herr Fritz Schrempf wollte trotz Chefredaktion und pretzgesetzlicher Verantwortlichkeit für den Gesamtinhalt seines Blattes die Verantwortung vor dem Richter nicht tragen. Aber die Antwort der„Schwäb. Tagwacht" auf die Besudelung der preußischen Wahlrechtskämpser schien ihm geeignet, unserem Parteiorgan einen Jnjurienprozeß an den Hals zu hängen, obgleich diesmal nicht sein Name, sondern nur das Blatt ge- naimt war. Die inkriminierte Antwort, als Leitartikel der„Schwäb. Tag. wacht' gedacht, war aus technischen Rücksichten im zweiten Blatt der„Tagwacht" plaziert worden. Das veranlaßte Herrn Schrempf, den für diesen Artikel gar nicht verantwortlichen Redakteur Ge- nassen Sauerbeck mit der Klage zu beehren. Trotz der Erklä- rung des eigentlich Verantwortlichen, Genossen West meyer, machte sich das Stuttgarter Schöffengericht den für einen Journa. listen geradezu unglaublichen Irrtum gleichfalls zu eigen und ver- urteilte den Genossen S a u e r b e ck zu SO M. Geldstrafe, Gegen das Urteil ist selbstverändlich Berufung eingelegt worden. Prügelstrafe für Preßdelikte. das ist der neueste Wunsch, den ein„liberales" Blatt äußert. Die„Straßburger Zeitung", ein Blatt, das die Sozialdemokratie nur mit den Schwindelnotizen des Reichslügenverbandes bekämpft, bespricht im schönsten Sauherdenton das gegen den Genossen Schneider von der Straßburger„Freie Presse' wegen Beleidi- gung eines WMchep Maschinenmeisters gefällte, pochst anfechtbare Urteil von 80 M. Dabei bemerkt das Blatt in gänzlich unmori- vierter Weise und aus den Füigern herausgesogen, die inkriminierte Notiz sei„eine dreckige Rache an einem kloinen Beamten, die eigentlich nicht mit 80 Mi, sondern mit fünfundzwanzig ? sühnt werden sollte". Also die Prügelstrafe für reßdelikte verlangt das liberale Straßburger Organ. Eine nette Illustration zur Pretzfreiheit im Blockzeitalter. Wird sich Knuten-Oertel über seinen gelehrigen Schüler freuen- Der Libe- ralismus hat es weit gebracht._ Der badische Liberalismus erhielt in seiner einstigen Hochburg Karlsruhe eine klassische Wfuhr. Die Stadtvcrordnetenwahl der ersten Klasse brachte dem vereinigten bürgerlichen Siebengestirn eine unerwartete Niederlage; der gemischte Oppositionszettel siegte mit Hilfe der Stimmen, über welche die Sozialdemokratie in dieser Wähler- klaffe verfügt. Die Hauptführer des Nationalliberalismus fielen durch, darunter der Heißsporn Goldschmidt und der jungliberale Abg. Neb mann; letzterer hatte vor 8 Tagen in der.Zweiten Kammer mit S anderen Liberalen die konfessionellen Lehrer» seminare gegen die Sozialdemokratie mit 4 Stimmen Mehrheit ge- rettet. Jetzt sind die nationalliberalen Sünder untröstlich; sie ahnen, wie übers Jahr bei den Landtagsmahlen mit ihresgleichen aufgeräumt wird. Hoffentlich ereilt sie das längst verdiente Schicksal,___ OeflciTCicb. Der Studentenstreik. Der Streik an den Hochschulen ist vollständig. In Wien schlössen sich auch die Hörer der Exportakadcmie(der Handelshoch- schule) und der Akademie der bildenden Künste dem Streik an. Die schwachmütige Haltung der nicht klerikalen deutschen Parteien hat im Lande große Entrüstung erregt und es ist nicht auSge- schlössen, daß unter dem Drucke der öffentlichen Meinung diese Parteien noch zu schärferem Auftreten gegen die Regierung ge- zwungcn werden. Jedenfalls beginnen die Ereignisse dem Ministerium Beek, das auf die Unterstützung sowohl der Christlich - sozialen als ihrer Gegner angewiesen ist, immer unangenehmer zu werden. Im Abgeordnetenhause führte Prof. Maseryk aus, der Fall W a h r m u n d sei ein typisches Beispiel, wie«in freier Forscher aus seiner Partei und auS der Kirche hinausgeekelt, wie er verhetzt und ungerecht verurteilt werde. Der Redner pro- testierte dagegen, daß das Ministerium und die JnnSbrucker Fakultät die wissenschaftliche Betätigung WahrmundS selbst am Seminar behindere, und erklärte, es handle fich gar nicht um eine Angelegenheit Wahrmund, sondern um den unüberbrück» baren Gegensatz zwischen der orthodoxen Religion und der modernen Wissenschaft, um jenen auch in Oesterreich unaufhaltsamen historischen Kampf, der zur Trennung von Staat und Kirche und zur Trennung von Schule und Kirche führen müsse. Alle Freidenkenden mühten mit ihren Sympathien auf Seite der freien Forschung und der fortschrittlichen Studenten« schaft stehen.(Lebhafter Beifall.) 8cbwefz. Die Epidemie der Reaktion. Zürich , 1. Juni. (Eig. Ber.) In schamloser Weise folgt ein Kanton dem andern mit der Einführung von Antistreii- gesehen, um die Arbeiter zu enlwaffnen und das Gedeihen des höchsten Profits unserer„biederen Geldsackpatrioten' zu sichern. Mit affenartiger Geschwindigleit und fast ungetrübter Einigkeit hat der Kantonsrat des Kantons G r a u b ü n d e n das Streikbrecher- sckuitzgesetz in zwei Sitzungen durchberaten und ohne jede Abänderung in der Schlußabstimmung mit 49 gegen neun Stimmen angenommen. Das ist das einzige„sozialpolitische" Gesetz dieses rückständigen Zopfbürgerkantons und es wird auch in der Volksabstimmung mit Glanz angenommen werden. In dem perfide» Ausnahmegesetz gegen die Arbeiter könne» auch diel Anarchisten einen„Erfolgs ihrer kindischen Bomvenattentat« in DavoS erblicken, die dazu den bequemen Vorwand geliefert hatten. Nun haben die kapitalistischen Arveiterfeinde auch im Kanton Solothurn den Antrag auf die Schaffung eines Anttstreikgesetzes gestellt, sind damit aber auf die Opposition der Regierung gestoßen Der Proporz im Vormarsch. Luzer», 1. Juni. (Eig. Ber.) Nun erhält auch der Kanton Luzern die Proportional Wahl. Die„Liberalen " bekämpften im Katonsrat die Vorlage der Regierung mit der wundersamen Begründung, daß sie einen Angriff auf die Stadt Luzern bedeute. Sie bekämpften namentlich den Gemeindeproporz und wünschten eine andere, für ihre Partei günstige Wahlkreiseinteilung. Die sozial- demokratische Fraktion stimmte mit der katholischen Mehrheit für die Vorlage, die denn auch angenommen wurde. Die Neuerung besteht also in der obligatorischen Proportionalwahl des Kantonsrates und des VerfassungZrates. während sie für die Gemeindebehörden nur fakultativ ist und in Gemeinden mit weniger als 600 Stimmberechtigten von einem Drittel derselben, in Gemeinden mit mehr als 600 von mindestens 200 Stimmberechtigten verlangt werden kann. Die Verhältniswahl muß angewandt werden, wenn sich mindestens ein Drittel der gülttgen Stimmen in der Ab- stimmung dafür erklärt. Der Zusatzantrag der sozialdemokratischen Fraksion auf Einführung der Proportionalwahl auch für den Ge« meinderat(Magistrat) wurde ebenfalls angenommen. Die Vor- läge unterliegt noch der Volksabstimmung, ledoch ist ihre Annahme sicher.— frankrcid). Militärische Jugenderziehung. Paris , 6. Juni. Vom Unterstaatssekretär des Krieges wurde in der Kammer ein Gesetzentwurf eingebracht, durch den allen jungen, körperlich geeigneten Franzosen die Verpflichtung auferlegt werden soll, sich vor ihrer Gestellung für den Militärdienst vorzubereiten. Diese Vorbereitung soll in allen öffentlichen Unterrichtsanstalten und in besonderen, vom Kriegsministerium zu genehmigenden Vereinigungen stattfinden. Den jungen Leuten, die ein Zeugnis über ihre erfolgreiche Vorbereitung erhalten haben, sollen gewisse Vorteile bewilligt werden. Selsten. Die Kongofrage. Brüssel, 6. Juni 1908. Eine Versammlung von Mitgliedern der Rechten drückte die Ansicht aus, daß die Kongovorlage nicht ohne beträchtliche Abänderungen angenommen werden könne. Verschiedene Abgeordnete wiesen darauf hin, daß die Zunahme der opposittonellen Stimmen bei den Wahlen in verschiedenen Landes- teilen auf die Kongofrage zurückzuführen sei. Man ist der Ueber- zeugung, daß die Vorlage keine Aussicht auf Annahme im Parlament hat. Der Vorsitzende der Parteigruppe begab sich alsbald zum Minister des Innern, mit welchem er eine längere Unterredung hatte. Die Lage wird als kritisch betrachtet. Italien . Die Kriegsgefahr im Jahre ISvS. In der Kammer hielt der frühere Minister Luzzatti eine Rede, die dadurch interessant wird, daß Luzzatti von neuem be- stätigte, daß Europa im Jahre 190S wegen Marokkos in K r i e g s- g e f a h r schwebte. Luzzatti sprach über den geänderten Charakter des Dreibundes: Bei seinem Entstehen war der Dreibund ein Schutz- und Trutzbündnis zur gegenseitigen Sicherung des Besitzstandes mit einer besonderen Spitze�gegen Frank- reich. England aber, obschon es seine glorreiche Isolierung be- wahrte, stand dem Dreibunde freundlich gegenüber, weil es-rrankreicbs Gegner war. Hätte England damals in den Drei- bund eintreten wollen, man hätte es mit offenen Armen aufgc- nompen. Heut« sind di« Dinge gründlich anders geworden. Die„Entente cördiale" ztvischen England und Frankreich ist. was man auch sagen möge, eine politisch-militärische Allianz. Das geht daraus hervor, daß bei der drohenden Kriegsgesahr 190S England Deutschland wissen ließ, daß es Frankreich militärisch zu Hilfe kommen werde. Ferner näherte fich in den letzten Jahren Frankreich Italien , und die zum gegenseitigen Verständnis und zu gegenseitiger Liebe geschaffenen beiden Völker haben die Miß- Verständnisse, die sie früher trennten, gänzlich zerstreut. Ei« Maulkorbgesetz für die italienische« Staatsbeamte«. Rom , 1. Juni. Wir haben seinerzeit über den GcsetzeSentwurf berichtet, dn darauf abzielte, den Beamten daS Recht der politischen MeinungS- Sußerung zu nehmen. Dieser vom Minister des Innern eingebrachte Entwurf über die rechtliche Stellung der Staatsbeamten bestimmt. daß ein Beamter entlassen werden kann, sobald er öffentlich eine den bestehenden Staatseinrichtungen feindliche Gesinnung betättgt. Freilich liegt es in der Logik des Klassenkampfes, daß der Staat als Gegen- leistung für daS Gehalt nicht nur die Arbeitsleistung, sondern auch die Gesinnung kaufen möchte, aber eS ist doch betrübend, die alte liberale Gepflogenheit, die dem italienischen Staate zur Ehre gereichte, ausgeben zu sehen. Das Maulkorbgesetz ist am 27. v. Ms. im Senat durchgegangen und wird zweifellos auch in der Kammer eine große Mehrheit erlangen, trotz der lebhaften Opposition der äußersten Linken. Die Staatsbeamten haben erst in zwölfter Stunde eine lebhafte Opposition gegen die Knebelung ein» geleitet. Sie dürfte keinerlei Druck auf das Parlament auszuüben im stände sein. Aus welcher Ecke der Wind pfeift, merkt man schon daran, daß eine für Sonntag, den 31. v. Mts., von der Föderation der Staatsbeamten im Verein mit der römischen Arbeitskammer im hiesigen Volkshause einberufene Versammlung von der Präfektur verboten wurde. ES ist verboten, gegen daS geplante Gesetz überhaupt zu agitieren.— Spanien . Obstruktion. Madrid , 6. Juni. Nachdem Minister Mauro die Er» klärung abgegeben hat, daß das Gesetz über den Terra» riSmuS nicht zurückgezogen sei, sondern nach dem Ver» waltungSgesetze zur Beratung gelangen solle, hat die Opposition beschlossen, in Obstruktion zu treten� um die Beratung des TerroristengestzeS hintanzuhalten. Cnglancl. Der Zusammenschluß der politischen Arbeiterorganisationen in England. London , 3. Juni. Im englischen Parlamente gibt es. wie bekannt, zweierlei Arbeiterabgeordnete: 1. die se l b st ä n d i g e Arbeiterfraktion mit 32 Mitgliedern, 2. liberale Arbeiterabgeordnete, die also mit der liberalen Partei zusammengehen und die liberale Regierung unter- stützen: ihre Zahl beläuft sich auf 23. Die Erfolge der selb- ständigen Arbeiterfraktion haben in den Kreisen der liberalen Arbeiter den Wunsch erweckt, ihre Abgeordneten möchten sich der Arbeiterfraktion anschließen. In diesem Sinne wurden auf dem letzten Gewerkschaftskongresse mehrere Beschlüsse ge- faßt. Das politische jlomitee des Trades-Unions-Kongresscs bemühte sich, die Beschlüsse auszuführen und veranstaltete dem- gemäß gemeinschaftliche Konferenzen zwischen den parlamen- tarijchen Vertretern der Arbeiter. Nie Konferenzen ergaben
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