Kalh oRkentagSredner, der ekne solche Aufgade übernimmt, nicht umGründe verlegen ist, um zu beweisen, daß im Katholizismus vonjeher alle Kultur lag und liegen wird. Der Redner stattete jedenseiner Sätze mit dem gewichtigen und hitzigen Pathos eines Kreuz-zugSpredigerS aus, und als er seine Rede mit den, Ausrufe schloß:„Fürchte Gott und halte seine Gebote— das ist göttlicher und zu-gleich natürlicher Kulturfortschritt, das schließt in sich die wahreVaterlandsliebe, die Höhe des Glückes hienieden"— da braustewieder mal der langanhaltende Beifall mit Hochrufen und Hände-klatschen durch den Raum der Festhalle.*»«Der Katholikentag hat heute morgen durch die geschlosseneGeneralversammlung ein Huldigungstelegramm an den Papst undden Kaiser abgehen lassen. Während der Rede Mausbachs traf heuteabend die Antwort ein. Der Präsident unterbrach den Redner undverlas das im übrigen höchst förmliche Telegramm des Kaisers.Brausender Beifall mit dreifachem Kaiserhoch. Der Klerikalismuslegt Wert darauf, daß er sich an Königstreue und Achtung vor derMonarchie von niemandem übertreffen läßt.Zur Lage in der Cürltei.- Deutsche wie englische Zeitungen preisen die Erfolge derCronberger Zusammenkunft, namentlich in bezug auf das Per-halten beider Großmächte zur türkischen Revolution. Auf Grundamtlicher Informationen teilen die Zeitungspolitiker mit, daßnunmehr„Deutschland und England sich in herzlicher Uebcrein»stimmung befinden hinsichtlich des Wunsches, der neuen türkischenRegierung alle mögliche llnterstützung für die Regenerierung desLandes von innen heraus zu gewähren". Wenn diese„herzlicheUebereinstimmung" von Dauer ist, so bedeutete das einen erheb-lichen Fortschritt. Man brauche sich nur zu erinnern, welche„Ner-vosität" England vor zwei bis drei Monaten gezeigt hat, als dertürkische Sultan die deutschen Projekte zur Vollendung der Bagdad-bahn genehmigte, und mit welcher Gehässigkeit in deutsch-patrio-tischen Kreisen die Tatsache besprochen wurde, daß„England mitseinen Kriegsschiffen und durch seinen Handel den ganzen Per-sischen Golf beherrscht".«) Ob sich diese Gegensätze zwischen Deutsch-land und England durch die von der neuen türkischen Regierungversprochene Politik„der offenen Tür" beseitigen lassen, wird dieZukunft zeigen. Vorläufig darf man allerdings annehmen, daßdie Türkei für einige Zeit keine Komplikationen von irgendeinerder„Großmächte" zu befürchten hat. Die Lage der neuen tür»tischen Regierung ist also auch in dieser Hinsicht gesichert—wenigstens für die nächste Zeit.Die reaktionäre Kamerilla also besiegt und machtlos, der>, äußere Frieden" einigermaßen gesichert— die jungtürkischenKonstitutionalisten könnten demnach ruhig der Zukunft entgegen-blicken. Allein der„innere Frioden" läßt noch vieles zu wünschenübrig.Schon in unserem ersten Artikel über die türkische Revolutionhaben wir auf die Mängel des jungtürkischen Programms und derjungtürkischen Bewegung hingewiesen: auf den ausschließlichmilitärischen Charakter der Bewegung und fast ausschließlichpolitischen Charakter des Programms. Das Programm nimmtviel zu wenig Rücksicht auf die sozial-ökonomischen und nationalenBedürfnisse der großen Massen der Bevölkerung; die Volksmaffennahmen daher beinahe keinen Anteil an der Bewegung.Jetzt beginnen sich die Folgen der Einseitigkeit de? jung-türkischen Programms bereits zu zeigen: in den Volksmaffen—nicht nur in den christlichen, sondern auch in den rein türkischen— macht sich ein gewisses Mißtrauen in die neuen Verhältnisse unddie neue Regierung geltend. Die Streikbewegung der Hafen-,Tabakregie, und Straßenbahnarbeiter, sowie der drohende Streikauf der Anatolischen Eisenbahn zeigen deutlich genug, daß auch fürdas Ottomanische Reich die Zeiten vorbei sind, wo sich politischeillmwälzungen vollziehen können, ohne daß dabei die Lohn-«rbeiterschaft ihr Wörtchen mitspricht; auch bei der Bauern-schaft, namentlich in Mazedonien und Albanien, scheint eine be-denkliche Wendung in ihrem Verhalten zur jungtürkischen Parteieingetreten zu sein. Die sozial-ökonomischen und nationalenFragen(in Mazedonien hat heutzutage auch die nationale Frage-einen vorwiegend ökonomischen Charakter) treten in denWordergrund des politischen Lebens und verlangen gebieterisch einesofortige Lösung. Die junktürkischen Konstitutionalisten aberscheinen diesen großen Aufgaben nicht gewachsen zu sein. Siescheinen die Wichtigkeit dieser Fragen zu unterschätzen, indem sie,ohne ihr Programm wesentlich zu ändern, zu wirkungslosen.„Beruhigungsmitteln" greifen. Die Mazedonier gedenken sie durchunbestimmte Versprechungen und halbverhüllte Drohungen««) zubeschwichtigen, die streikenden Arbeiter durch Vermittelung bei denArbeitgebern und durch ebenso unbestimmte Verheißungen zu be-ruhigen. Das jungtürkische Komitee erklärte nämlich den streiken-den Arbeitern, daß die bevorstehende Parlamentssession sich„auchmit ihren(der Arbeiter) Wünschen und Forderungen beschäftigenwerde". In welcher Weise aber die jungtürkische Parteiselbst zur Lösung der Arbeiterfrage im Parlamente beitragen will,darüber sagt das Komitee kein Wort; auch in den Vorschlägen zurAenderung einiger Punkte des Programms nicht. Die junktürkischePartei will auch jetzt, wie bisher, weder den Arbeiterschichten, nochden verschiedenen Nationalitäten gegenüber bestimmte Berpflich-tungen übernehmen. So lange aber sie in diesen Fragen nicht einebenso radikales Programm, wie in rein politischen Fragen, auf»stellt, kann der Sieg der türkischen Konstitutionalisten trotz alleräußeren Erfolge nicht als dauernd befestigt angesehen werden,poUrtfcbe OebcrlicbtBerlin, den 18. August 1908.Die Gelben und die Christlichen.Bekanntlich sind die christlichen Gewerkschaften von denUltramontanen zur Bekämpftmg der Sozialdemokratie WS Werk gesetzt worden. Der Klerikalismus mußte dem OrganisationSbedürsiriSder Arbeiter Rechnung tragen und so gründete daS Zentrum dennMitte der neunziger Jahre christliche Gewerkschaften, um zu verhüten,daß sein proletarisches Gefolge Anschluß bei den bestehenden Wer-bänden der klassenbewußten Arbeiterschaft suchte und damit den Wegzur Sozialdemokratie fand. Zu diesem Zwecke wurde den gläubigenArbeitern vor der umstürzlerischen, staats- und religionsfeindlichenSozialdemokratie graulich gemacht, die eS nur auf die Ver-hetzung, die Verelendung der Arbeiter abgesehen habe; diebestehendenGewerkschaften galten als„Streikvereine", die den Kampf des«)„Deutsche Rundschau für Geographie und Statistik",KXX. Jahrgang. Heft 9, Juni 1908..•*) In bezug aus die„bulgarychen Banden m Mazedonienhat ein angesehener Jungtürke ausdrücklich erklärt, daß, falls sichdiese„von neuem zu formieren versuchen", so werde sie die türkischeHtegierung„zu vernichten die Kraft haben, da hinter der Regierung/jetzt dos ganze türkische Volk steht",.(„Berk. Tageblatt", Nr,Kampfes wegen trieben und als Handlanger der Sozialdemokratiedem allgemeinen Umsturz in die Hände arbeiteten. Demgegenüberwaren die christlichen Gewerkschaften für die soziale Versöhnungzwischen Unternehmer und Arbeiter bestimmt, der Ausgleich derInteressen war ihre Aufgabe und in friedlichem Einvernehmen,unter sorglicher Beratung mit ihren geistlichen und weltlichen„Ehrenräten' wollten sie das Wohl und die Rechte der Arbeiterfördern.Aus diesen schönen Träumen sind nun die christlichen GeWerk-schaftcn durch die rauhe Hand der Wirklichkeit bald verscheuchtworden. Die Spekulation auf das gute Herz des Unternehmertumserwies sich als falsch; sie wurden, als sie„zum Ausgleich derInteressen" Forderungen stellten, schnöde abgewiesen und sahen sich,so sehr sie das Wort auch verpönten, zum Klassenkampf ge-trieben, um sich nicht selber auszugeben. Den Standpunkt, den sieehemals einnahmen, nimmt jetzt eine andere Organisation ein, dieGelben, und es ist auffallend, wie genau die Polemik, mit dersich in gewissen Gegenden die Gelben gegen die Christlichen wenden,derjenigen gleicht, die ehemals von den Christlichen gegendie Sozialdemokraten geübt wurde. Im Saarrevier haben dieGelben vorwiegend mit den Christlichen zu tun, sie führendort einen erbitterten Kampf mit einander. In Wehrdenfand nun dieser Tage eine Versammlung von Arbeitern der Röchling-schen Werke statt, worin für die gelben Gewerkschaften, die von dergenannten Firma eifrig begönnert werden, die.Werbetrommel gerührtwurde. In dieser Versammlung wurde nach dem Bericht der„Völklinger Zeitung" ausgeführt, daß die gelben mit den freien undden christlichen Gewerkschaften das Bestreben gemein haben, dieHebung des Arbeitcrstandes zu erreichen. Der Unterschied liege inder Verschiedenheit der Wege, auf denen diesem Ziele zugestrebtwerde. Dann heißt es:„Die„christliche" Gewerkschaft glaubt, daß nur dann für denArbeiter etwas getan ist, wenn es aufKosten der Unter-nehmer geschieht. Dementsprechend hetzen sie gegen dieUnternehmer in allen Tonarten und vornehmlich imSaargebiet gegen die Industrie, der doch sowohl wir, wie auchdie„christliche" Gewerkschaft nur dankbar sein können. DaS istder Kernpunkt der großen Arbeiterbewegung, wie wir sie hier ander Saar haben."Und genau wie die Christlichen mit Vorliebe sich als die Opferdes„sozialdemokratischen Terrorismus" hinzustellen lieben, müssensie selber jetzt erleben, daß die Gelben an der Saar über denTerrorismus der Christliche u jammern. In dieser Be-ziehung führte der Redner aus:„Wer nicht eben der Gewerlschaft angehörte, wurde von denArbeitskameraden gemieden, nicht allein draußen in seinen Muße-stunden, sondern auch auf der Arbeitsstelle. Es sind Fälle be-kannr, wo solchen Arbeitern die Wohnung gekündigt wurde, manbeschimpfte und bedrohte sie, ja, wenn die Gelegenheit kam, gabman ihnen Hiebe, man stahl ihnen das Werk-zeug weg auf der Arbeits st elle, kurzum, man triebihnen allen Schabernack, bis sie endlich so mürbe waren, daß sieder Gewerkschaft beitraten."Der Redner der Gelben verurteilte dann noch das Verhaltender Christlichen gegenüber den Wohlfahrtseinrichtungen der Firmaund schloß seine Rede mit folgenden Worten:„Wir haben unsere Freiheit gerade so gut wie die Christlichenund wir tun, was wir für gut halten. Wenn wir ein friedliches Ver-hältnis zu den Unternehmern pflegen, so tun wir dies aus derUeberzeugung, daß es das beste für uns ist. Wir haben mancheserreicht und wahrlich mehr als die Christlichen und wir hoffen,daß wir im Einvernehmen mit der Hütte noch weit mehr erreichenwerden. Wir haben das Vertrauen zu unserer Hütte, daß wirauf diesem friedlichen Wege viel weiter kommen, als wenn wirden Verhetzungen der christlichen GewerkschaftGehör schenken wollten."Wer die ersten Jahre der christlichen Gewerkschaften mitgemachthat, der wird finden, daß die Gelben genau in derselben Weisegegen die Christlichen vorgehen, wie diese ehemals gegen diesozialistischen Organisationen. Die christlichen Gewerkschaften habendeshalb durchaus keinen Grund, so ingrimmig gegen die Gelbenloszuziehen. Sie sollten an ihre eigenen Jugendsünden denken undnicht vergessen, daß es noch gar nicht so lange her ist, wo sie genauso dachten und handelten, wie es jetzt die Gelben tun. Uns scheint,daß die Christlichen deshalb so eifrig ihre Abneigung gegen dieGelben kundgeben, um die innere Seelenverwandtschaft zu ver-leugnen.—_Generalversammlung des Weknbauvereins.Die Generalversammlung des Weinbauvcreins in Eltville setztedie Beratung der Weingesetzvorlage fort. Es wurden Zusätze be«schloffen, wonach Lerschnittweine nach den Lagen genannt werdendürfen, aus denen die Hauptbestandteile des Verschnittweinesstamme».Weiter wurde der Wunsch geäußert, daß die Buchkontrolle sichmöglichst einfach gestalten soll.Für den Paragraphen, welcher die Bundesratsermächtigung be-trifft, wird die folgende Fassung vorgeschlagen:„Der Bundesrat ist ermächtigt, Grundsätze aufzustellen fürden Bollzug des Gesetzes, insbesondere für die Bestellung vongeeigneten Sachverständigen und die Gewährleistung ihrer Un-abhängigkeit. Die Grenzen und die Bezeichnung der Weinbau-gebiete zu bestimmen, sowie Vorschriften zur Sicherung der Ueber-wachung zu erlassen, ist er ferner befugt. Insbesondere soll erAnordnung erlassen über die Anzeige des jährlichen Ergebnissesder Traubenernte, sowie die Anzeige der Absicht, Traubenmaische,Traubenmost oder Wein zu zuckern. Der Verkehr mit Getränken,die bei Verkündigung des Gesetzes bereits hergestellt waren, sollnach den seitherigen Gesetzen zu beurteilen sein."Zum Schluß wurde einstimmig nachstehende Resolution an-genommen:„Die tn Eltville tagende Generalversammlung des„DeutschenWeinbauvereins" spricht sich einstimmig gegen eine Weinsteuer injeder Form aus; auch gegen die Flaschenweinsteucr, die den be-sonders hart bedrängten Oualitätsbau schwer treffen müßte."Blockbrüder unter sich.Die sächsischen Konservatiben hatten es unangenehm empfunden,baß die in Sachsen gewühlten nationalliberalen Abgeordneten auchin der politisch stillen Zeit die Agitation betreiben. Die„Sächs.polit. Nachr." hatten sogar gedroht, den Nationalliberalen, wenn siedieses Treiben nicht eilütellen, künftig die Wahlhilfe zu entziehen.Die Konservativen sind sich natürlich darüber klar, daß die national-liberale Agitation auf ihre Kosten geschieht.Ganz pikiert antwortet nun die„Natioualzeitung":„Aber wer verwehrt denn den Konservativen die Entfaltunggleicher Tätigkeit zur Sicherung deS Besitzstandes und zur Samm«lung der Anhänger? Weshalb bringen denn die Konservativenan Geld und Zeit nicht die gleichen Opfer wie die National-liberalen, um die Geschlossenheit und die Schlagkraft ihrer Parteizu stärken? Es bleibt ihnen ja jederzeit unbenommen, in offenem,ehrlichen Wettbewerb den Nationalliberalen entgegenzutreten, aberes ist freilich bequemer, mit Hilfe der nationalen Misch-maschvereiue an patriotischen Festtagen große Feiern zuveranstalten, als in ernster, politischer Kleinarbeit anWerktagen hinauszupilgern und auch in kleinen und kleinsten OrtenSinn und Verständnis' für eine bestimmte, klarumschriebene Welt-anschauung zu wecken.«Damit der Geschichte der Humor nicht fehlt, sei bemerkt: Die„National-Zeiwng" wird aus dem Satz der fretkonservativen„Post"hergestellt. Der Unterschied besteht lediglich darin, daß die„National-Zeitung" anderthalb Seiten nationalliberalen, die„Post" ebensovielkonservativen Text hat. Wie nun,- wenn der Metteur einmal diePlatten verwechseln sollte?—Zur Reichstagsnachwahl in Speyer-Ludwigshafen.Die Größen des Zentrums scheinen sich noch nicht entschiedenzu haben, ob sie eine Kandidatur deS Grafen PosadowSky inSpeher-Ludwigshafen nnterstiitzcn wollen oder nicht. Nach den Aus-lassungen der„Germania" konnte man annehmen, das Zentrum seider Llufstellung Posadowskys als Mischmaschkandidaten nicht ab-geneigt. Dagegen schreibt gestern die„Köln. Bolksztg.":„Zu unserer großen Ueberraschung lesen wir in auswärtigenBlättern, daß die Zentrumspartei unseres Wahlkreises eineKandidatur des Grafen Posadowsly abgelehnt habe. DaS istdurchaus unrichtig. An das Wahlkomitee der Zentrumspartei istvon keiner Seite ein Ersuchen um Unterstützung einer Kandidaturdes Grafen PosadowSky gerichtet worden. Schon aus diesemGrunde konnte eine Ablehnung nicht erfolgen. Das Wahlkomitcehat zur Kandidatenfrage überhaupt noch keine Stellung genommen.Was also über seine Stellung zu irgend einem der bisher gc-nannten Kandidaten gesagt wurde, ist nichts weiter als müßigesGerede ohne Unterlage."_Erzbifchof Mischer und die christlichen Gewerkschaften.Antonius Fischer, der Kölner Erzbischof, hat auf dem Katholiken-tage in Düsseldorf auf die Vorgänge in der ii ternationalen Kon-ferenz christlicher Gewerkschaftsführer in Zürich angespielt. Er sagte:„Es sind jüngst in einer Versammlung, die sich auch mit denArbeiteriuteresscn beschäftigte, einige harte Worte gefallenin bezug auf die Bischöfe, die mein für die arbeitendeBevölkerung warm schlagendes Herz t i e f b e t r ü b t haben. Ichnehme an, daß sie n i ch t s o b ö s g e m e i n t waren, weiß aberund habe es heute wieder erfahren, daß das eigentlich----bettende Volk, die katholische arbeitende Bevölkerung, trdilsteht zu den Bischöfen und treu zu den Priestern, die die Bischöfeihnen senden."Kardinal Fischer scheint die Herren GieSbertS, Schiffer.Wieber usw. nicht mehr zum„eigentlich arbeiten-den Volke" zu rechnen.—Die Witwen- und Waiseuversicherung.Ain 1. Januar 1910 soll bekanntlich die Witwen- und Waisen-Versicherung in Kraft treten. Wir haben das stets bezweifelt, undin diesem Zweifel werden wir bestärkt durch eine Auslassung der„Deutschen Tageszeitung", die dahin geht, daß die Vorlegung desGesetzentwurfes zu Ostern 1909 nicht zu erwarten sei. Es steht nochnicht im mindesten fest, wann der Entwurf fertiggestellt werdenkann, noch viel weniger, wann er dem Bundesrats und dem Reichs-tage zugehen wird. Daraus folgt, daß der Zeitpunkt desInkrafttretens des Gesetzes noch im Dunkleu liegt. Solldas Gesetz IStO in Kraft treten, dann muß es in dem in diesem Herbstbeginnenden TagungSabschnitt des Reichstages vorgelegt und ver-abschiedet werden. Daran scheint man in der Tat nicht zu denkenund das ist schließlich auch erklärlich. Die für diese Versicherungzurückgelegten Summen könnte das Reich recht gut für andere,nicht kulturelle Zwecke gebrauchen. Außerdem faßt die besitzendeKlasse diese Versicherung als eine neue Belastung auf. Dazu komint,daß die Städte nicht darauf eingehen wollen, die städtischen in-direkten Steuern auf Lebensmittel ab 1. Januar 1910 in Wegfallkommen zu lassen. Man wird sonach keineswegs um Gründe verlegensein, die eine Hinauszögerung des fraglichen Gesetzes rechtfertigensollen. Handelt es sich um Heeres- und Flottenvorlagen, dann habenes Regierung und Reichstag furchtbar eilig, hier aber, wo eS sichum die Lermsten der Armen, um die Witwen und Waisen der Ar-bester handelt, pressiert die Sache nicht.Gespannt sein kann man auf die Haltung der Zentrumsleute,die wegen der Lebensmittelverteuerung ihr Gewissen damit salvierten,daß ein Teil des Zollrnubes zu dem gedachten Zweck Verwendungfinden werde. Im letzten Wahlkampf haben die bürgerlichen Parteienganz besonders auf diese Versicherung hingewiesen und nun soll dieSache auf die lange Bank geschoben werden. Die sozialdemokratischenAbgeordneten werden nicht verfehlen, Regierung und bürgerlicheParteien in der nachdrücklichsten Weise an die Erfüllung ihres Ver-sprechenS zu erinnern._Falsche Aussagen im Bornssia-Prozest.Die„Bergarbeiter-Zcitung" veröffentlicht in ihrer neuestenNummer sensationelle Mitteilungen. Danach sollen in dem Prozeß,der wegen des vor drei Jahren auf Zeche„Borussia" ausgebrochenenSchachtbrandes gegen den Bctriebsführer Rüper vor der DortmunderStrafkammer geführt wurde, wissentlich falsche Aus-sagen zugunsten der Zechenverwaltung gemacht worden sein. Essollen sich Beamte gegenseitig des Meineides und der Verleitungzum Meineide bezichtigt haben. Die„Bergarbeiter-Zeitung" bietetder Bergbehörde und der Staatsanwaltschaft die Namen der Zechen-beamten und sonst in Frage kommenden Personen an und fordertdie genannten Behörden auf, der Sache auf den Grund zu gehen.---SchückingS Abgang?Der„Voss. Ztg.« wird aus Husum geschrieben, daß der stell-vertretende Bürgermeister von Westerland, Dr. Bahrfeldt, von feitender Regierung befragt worden ist, ob er gegebenenfalls die Bürger-meisterstelle von Husum annehmen würde. Mau scheint also inRegierungskreisen mit dem Abgang SchückingS, dem mittlerweile derwiederholt nachgesuchte Urlaub bewilligt worden ist, als feststehenderTatsache zu rechnen.—_Ein zufriedener Arbeiterführer.In einer der Arbeiterversan'.mlungen, die am Sonntag nach demArbciterfestzug auf dem Düsseldorfer Katholikentage stattfanden,redete auch der christliche Arbeiterführer Stadtverordnete Meyer-Düsseldorf. Er sagte u. a.:„Man war fr üh er gewohnt, wennman vom Arbeiter redete, darunter den armen gedrücktenMann deS Volkes zu verstehen, mit dem man Mitleid habenmüsse, in dessen Lage sich nicht zu befinden als eine besondersgünstige Fügung des Schicksals anzusehen sei. GeringeLöhne, unbegrenzte Arbeitszeit, mißliche Woh-n un g s verh ä lt ni ss e, dazu Unsicherheit des Wer-d i e n st e S und volle Abhängigkeit von dem, in dessen Dienste manarbeitet, geben Anlaß zu solcher Meinung. Wir dürfen mit freudigemDanke gegen Gott heute sagen: die materielle Lage des Arbeitershat sich gegen früher gehoben. StaatShilfe und Selbsthilfe warendie beiden großen Mittel, die das bewirkt haben."Herr Meyer muß zwar gestehen, daß„Rückschläge in demmateriellen Ausstieg der Arbeiter nicht zu verhüten" sind; er er-innert an die gegenwärtige Krise, aber er tröstet sich damit, daß siehoffentlich bald ihr Ende erreicht und außerdem treffe die Krise nichtnur den Arbeiter, sondern auch den Unternehmer und die ganzeIndustrie, und trotz alledem bleibt die Tatsache, daß im allgemeinengegen die früheren Zeiten ei» merkenswerter Aufschwung des Arbeiter-standeö erfolgte.Man ist versucht zu ftagen: Lebt denn der christliche Arbeiter-führer Meyer auf dem Monde oder im rheinisch-westfälischen Industrie-gebiete, daß er es wagen kann, die Sache so darzustellen, als ob dieZeit der genügen Löhne, der überlangen Arbeitszeit, der mißlichenWohnungSverhältuisie, der Unsicherheit der Lage und der persönlichenUnfreiheit für den Arbeiter vorbei wäre?—■