Nr. 207.
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25. Jahrg.
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Redaktion: S. 68, Lindenstrasse 69.
Fernsprecher: Amt IV, Nr. 1983.
Die füddeutsche Eigenart.
Freitag, den 4. September 1908.
Expedition: S. 68, Lindenstrasse 69. Fernsprecher: Amt IV, Nr. 1984.
wirksame politische Demonstration gegen jene Staaten bilden, durch materielle Ronzessionen, etwa 2lterspensionen, aber die noch nicht die bescheidensten Anfäße zu einer besseren Entwice- man hütet sich wohl, seine politischen Rechte zu erweitern. lung zeigen." England und Frankreich denken nicht daran, obwohl sie zurzeit radikale Regierungen haben; die englischen Arbeiter warten noch immer aufs allgemeine Wahlrecht, die französischen Gemeinden noch immer auf die Befreiung von der bureaukratischen Bevormundung der Zentralregierung. Hier wie bort wachsen die Funktionen und die Machtmittel der Regierungen. Die gleiche Erscheinung finden wir in den Vereinigten Staaten . Wollen wir rasche Fortschritte der Demokratie beobachtet, müssen wir von Westeuropa nach dem Osten gehen.
Formen fleidet.
Sucht man einen Maßstab dafür, ob die Sozialdemokratie eines In dem soeben erschienenen neuesten Hefte der„ Neuen Bandes mit seiner Staatsgewalt zufrieden sein darf oder nicht, Zeit" veröffentlicht Genosse Sta utsty einen Artikel zur so ist er nicht in dem Vergleich mit anderen Staaten zu suchen, Frage der Budgetbewilligung. Diesem äußerst instruktiven die das Proletariat noch ärger kujonieren, sondern nur in den Artifel entnehmen wir folgende Ausführungen: Bedürfnissen des Proletariats selbst. Jede Staatsgewalt ist zu beNun meinen freilich manche Genossen, die deutschen Ginzel- kämpfen, welche diesen Bedürfnissen nicht entspricht. Und eine staaten machten doch eine Ausnahme, seien ganz eigenartige Ge- Staatsgewalt braucht dem Proletariat deswegen nicht weniger bilde, wie man sie in der übrigen Welt nicht wieder finde. G3 gefährlich zu sein, weil sie ihr Herrschaftsgeschäft in urbanere sei richtig, der heutige Staat stelle eine Organisation zur Niederhaltung der arbeitenden Klassen dar, aber er sei das boch nicht ausschließlich. Der Staat habe seine schlechten und seine guten Seiten; er sei nicht bloß Unterdrücker, sondern auch Kulturträger, der Schulen, Spitäler, Museen erhalte, Eisenbahnen, Landstraßen, Kanäle, Häfen baue usw. Jm Deutschen Reiche aber seien die Verhältnisse so eigenartig, daß die schlechten Seiten des Staates vom Reichstag kontrolliert würden, seine guten von den Einzellandtagen. Sei also das Reichsbudget abzulehnen, so keineswegs das Landtagsbudget.
Es gibt sicher keine Einrichtung, bei der man nicht eine gute Seite herausfinden könnte. Aber Marg hat schon hohnvoll darauf hingewiesen, zu welchen Unsinnigkeiten man fommt, wenn man vermeint, willkürlich die guten von den schlechten Seiten trennen zu fönnen. Er zeigte, daß man, wenn man wollte, auch der Sklaverei eine gute Seite abgewinnen fönne, werauf Schippel bekanntlich ja aus Marg einen Verfechter der Sklaverei machte.
Es ist eine der sonderbarsten Illusionen, zu glauben, daß die Einzelstaaten Deutschlands durch die Reichsgründung ihren Charakter als Herrschaftseinrichtungen, als Mittel der Klassenherrschaft verloren hätten. Sie hätten vollständig aufhören müssen, Staaten zu sein, hätten vollständig bloße Provinzen des einen Staates werden müssen, ohne jede besondere Regierung, wenn sie einigermaßen diesen Charakter verlieren sollten.
Gewiß ist eine Arbeitsteilung zwischen dem Reiche und den Einzelstaaten eingetreten, aber dabei find die Aufgaben der Niederhaltung des arbeitenden Volkes viel mehr den letzteren zugefallen als dem Reiche. Ein Republikaner und Freidenker könnte weit eher dem Reichsbudget zustimmen, das feine Bibilliste und taum Stultus. ausgaben kennt( außer etwa für Militärgeistliche), als den Etats der Einzelstaaten, die sehr schwer damit belastet sind. Dem Reiche fällt hauptsächlich die äußere Politik zu, die Bertretung des Reiches nach außen, sowie seine Verteidigung gegen den äußeren Feind, Aufgaben, von denen viele Leute glauben, daß fie allen Klassen einer Nation gemeinsam sind.
Dagegen Kirchenwesen, Polizei, Buchthäuser ust., sie gehören zum Ressort der Einzelstaaten; auch die Verfügung über das Militär gegen den„ inneren Feind" steht nicht der Reichsregierung zu, sondern den Einzelregierungen.
Sicher ist der reine Absolutismus unvereinbar mit den Lebens. sich behauptet, hindert er deren Entwickelung. Wo diese sich entbedingungen einer entwickelten kapitalistischen Gesellschaft. Wo er wickelt, verliert er den Boden unter den Füßen. Damit ist aber feineswegs gesagt, daß die kapitalistische Entwickelung innerhalb des konstitutionellen oder parlamentarischen Staates, den sie braucht, stetig die Rechte und Freiheiten der großen Volksmaffen erweitert. Im Gegenteil, von einem gewissen Punkt an entwickelt sie die entgegengesetzte Tendenz. Wie weit es dieser gelingt, sich " Die sozialistische Fraktion im Parlament hat der Re- durchzusetzen, hängt dann selbst wieder von mannigfachen Faktoren gierung alle Mittel zu verweigern, die die Herrschaft der ab, vor allem von der Kraft der Staatsgewalt, der Straft des ProleBourgeoisie sichern und sie am Ruder erhalten; fie muß daher alle tariats, der allgemeinen historischen Situation. Der Grad der Forderungen für den Militarismus, für koloniale Eroberungs- politischen Freiheit, dessen sich ein Land erfreut, ist also ein Produkt politik und für Geheimfonds verweigern und das
die bayerische Monarchie, und der regierende französische RadikalisDie französische Republik ist sicher noch ein freieres Land als mus sicher fein schlimmeres Regime als die bayerische Pfaffenherrschaft. Trotzdem lehnen unsere französischen Genossen das Budget ab, und mit Recht.
In der Erklärung, durch welche die bis dahin feindlichen Frattionen des französischen Sozialismus ihre Einigung bekräftigten ( Dezember 1904), heißt es:
budget ablehnen. Sollten außergewöhnliche Umstände ein sehr wechselnder Verhältnisse; er kann für sich allein durchaus nicht Abgehen von dieser Regel erheischen, darf die Fraktion nicht als Maßstab der höheren oder geringen Entwidelung eines Landes gelten. ohne Zustimmung der Partei vorgehen."
Regelmäßig stimmen in Frankreich die geeinigten So. 3ialist en gegen das Budget. Dafür stimmen von den als Sozialisten gewählten Abgeordneten nur Renegaten und Deserteure, denen die Freiheit der Meinungsäußerung, des Kuhhandels und des Prinzipienverrats höher steht als die Parteidisziplin und der Wille des organisierten Proletariats.
Der politische Unterschied zwischen Süd und Nord, das bißchen mehr politische Gemütlichkeit im Süden, rechtfertigt daher keines, wegs die Budgetbewilligung im Süden. Aber freilich, wenn auch feine Rechtfertigung, so bietet er doch die psychologische Erklärung für sie.
Wenn die füddeutschen Staaten bessere Wahlbestimmungen zum Landtag und mehr Bewegungsfreiheit der Volksmassen haben, so beweist das noch lange nicht, daß diese Staaten höher entwickelt sino als der Norden.
Die entscheidende Grundlage alles gesellschaftlichen Lebens ist die Oekonomie. Sie gibt auch den entscheidenden Maßstab für die Entwickelungshöhe eines Landes an. Die Daten der Wirtschaftsstatistit sprechen aber eine andere Sprache als die der bloßen polia tischen Geschichte.
der jüngsten Zählung noch nicht so weit publiziert sind, um eine allseitige Vergleichung zu ermöglichen. Aber daß sich der Süden feit 1895 wirtschaftlich weit rascher entwickelt hätte als der Norden, wird wohl niemand behaupten. Die Distanz zwischen beiden dürfte fich nicht erheblich geändert haben.
Wir können leider nur die Ziffern von 1895 benüßen, da die
schaft in
Sachfen Preußen.
Reich
1670
. 3611 3619
4635
4443
4258
Die Mehrheit unserer süddeutschen Parlamentarier und ihrer Freunde lebt in dem Wahne, Süddeutschland sei höher entwidelt als Norddeutschland. Die Norddeutschen seien Parbaren mit barba: rischen Kampfmethoden. Diese mögen einem rückständigen Lande Vor allem finden wir in Süddeutschland eine bedeutend stärkere wie Preußen angepaßt sein, für Stulturländer wie die süddeutschen Staaten paßten sie nicht. Es sei aber verkehrt, daß das rückständige landwirtschaftliche Bevölkerung wie im Norden. Land, weil es die Mehrheit besize, dem höher entwickelten seine Von je 10 000 Erwerbstätigen gehörten 1895 zur Landwirts beralteten Kampfesmethoden aufzwingen wolle. Schlimm genug, daß die Norddeutschen von den Süddeutschen nicht lernen wollen, wie man fruchtbringende, positive Arbeit leistet, aber zum wenigsten dürften diese doch verlangen, daß sie dabei nicht gestört werden. Und ihr Beispiel komme der Gesamtpartei zugute, denn stets ist es Endlich ziehen die Einzelstaaten weit größere Summen aus das höher entwickelte Land, von dem das rückständige lernt und seine der Ausbeutung von Arbeitern, wie das Reich, das nur die Reichs- Methoden des Arbeitens und Kämpfens nimmt. post und die paar Reichseisenbahnen dazu benutzen kann. Wie viel Dieser Gedankengang ist sehr schön, aber er steht und fällt mit ausgedehnter sind dagegen die Eisenbahnneße der größeren Ginze!- der Behauptung, daß der Süden Deutschlands , höher entwidelt fei staaten, und wie bedeutend fallen für manche von ihnen noch Berg- als der Norden. Worauf stützt sich diese? Offenbar auf die größere werke, Wälder und anderer Domänenbefiz finanziell in die Wag- politische Gemütlichkeit oder Freiheit" in Süddeutschland . Aber schale! In Bayern bilden die Einnahmen aus den Staatsbetrieben, nichts irriger als der Glaube, das höher entwickelte Land sei auch also aus der Ausbeutung der Staatsarbeiter, fast die Hälfte der stets das freiere. Die alte bürgerliche Geschichtsschablone fest wohl Staatseinnahmen. an den Anfang der historischen Entwickelung den Despotismus und meint, von da an marschiere die Menschheit geradlinig der Demotratie entgegen; aber so einfach ist der Geschichtsverlauf nicht.
Wir machen uns anheischig, auf jeden Grund, der für die Bewilligung der Landesbudgets ins Feld geführt wird, zwei ebenso triftige für die Bewilligung des Reichsbudgets borzubringen.
Natürlich beweisen die einen ebensowenig wie die anderen; das Reich kann ebensowenig wie die Einzelstaaten den staatlichen Charakter verleugnen; sie dienen alle den gleichen Zwecken, wenn auch mit verschiedenen Mitteln und auf besonderen Gebieten. Und um dieser gleichen Zwede willen muß man ihre Pudgets, ihre Kraftquellen, in gleicher Weise behandeln.
Andere Verfechter der süddeutschen Budgetbewilligung legen auch auf diesen Bunft fein Gewicht. Sie sehen die Eigenart ihrer Landtage nicht im Unterschied der Einzelstaaten vom Reiche, sondern in dem Unterschied zwischen Süd und Nord. Der Süden sei weiter fortgeschritten, in ihm herrsche mehr Freiheit, und darum müsse die Taktik dort eine andere sein. Was im preußischen oder fächsischen Landtag selbstverständlich, sei völlig unangebracht in einem süddeutschen.
Die agrarischste der preußischen Provinzen, Posen, zählte pro Behntausend Erwerbstätigen 5771 in der Landwirtschaft; dagegen Niederbayern 6235, Auch der Kleinbetrieb ist im Süden noch stärker als im Norden Man zählte Selbständige pro 10 000 Erwerbstätigen in: Landwirtschaft Industrie 2664 2911
ETT
Sachsen Preußen Reich Bayern Württemberg
Baden
3098
3196
2389 2370 2490 2946 3022
2451
4241
3833
Dasselbe Bilo zeigt die Gewerbestatistik. Von je 1000 befchäf tigten Personen arbeiteten in Betrieben mit
bis 5 Perf. 6-50 Perf. 51-200 Perf. über 200 Perf.
ETTIT
Sachsen Preußen Reich Bayern Württemberg Baden.
414
454
465
561
537
448
264 237
180
142
136
239
220
140 110
146 109
209
136
245
178
118 129
Diese Zahlen genügen schon, zu zeigen, daß der Süden erheblich hinter dem Norden ökonomisch zurück ist. Wohl befibt er die ältere Kultur. Aber als der ökonomische Schwerpunkt im Zeitalter der Entdeckungen vom Becken des Mittelmeeres in das des Atlantischen Ozeans verlegt wurde, da traf dies den Süden Deutschlands härter als den Norden, und dieser sah seine Entwickelung vollends begünstigt seit dem Aufkommen der Großindustrie durch seinen Besitz an Kohle und Eisen, die dem Süden fast gänzlich fehlen. Am wenig. sten blieb dabei industriell Baden zurück, dank dem Rhein ; am meisten Bayern , abgesehen von der ebenfalls am Rhein gelegenen Pfalz und dem Saajien benachbarten Franken.
Am Anfang der Entwickelung steht vielmehr die Demotratie. Das Aufkommen der Klassengegenfäße führt zum Aufkommen der Staatsgewalt, die je nach dem Charakter der herrschenden Klaffen die mannigfachsten Formen annehmen kann. Wo ein Gleichgewichtszustand zwischen den verschiedenen Klassen eintritt oder wo die Herrschenden Klassen zu unfähig oder zu faul werden, um die Arbeit des Regierens selbst zu leisten, aber keine der beherrschten Klassen die Kraft hat, die Staatsgewalt zu erobern, da nimmt diese leicht den Charakter des Absolutismus eines Herrschers an, der sich auf Berufssoldaten und Bureaukraten stützt. So finden wir im Römerreich auf dem Höhepunkt seiner Entwidelung nicht den Fortschritt vor Absolutismus zu Demokratie, sondern umgekehrt deren Ueberwindung durch den Cäsarismus. und später ging in Westeuropa das Aufkommen des Absolutismus Hand in Hand mit dem Aufkommen der Bourgeoisie. Erst als der industrielle Kapitalismus eine bestimmte Höhe erreicht hatte, wurben manche Schichten der Bourgeoisie gegen den Absolutismus rebellisch, der den Feudalade! stüßte und dadurch die kapitalistische Entwidelung hemmte. Wer dieses Stadium der Geschichte als die Gesamtgeschichte betrachtet, der fann allerdings sagen, daß ihr Gang vom Despotismus zur politischen Freiheit geht. Aber die höchst entwickelten Staaten unserer Zeit sind bereits in ein neues Stadium eingetreten, infolge des Erstarkens des Proletariats und der Abschwächung des Gegensatzes zwischen industrieller Bourgeoisie, Die Freiheit ist ein sehr relativer Begriff. Wenn man über- Finanzkapital und Großgrundbesib, die immer mehr identische all, wo man mehr Freiheit" hat als in einem anderen Lande, das Interessen bekommen. In den höchstentwickelten Stadien wird der Budget bewilligen müßte, dürfte es nirgends verweigert werden; Bourgeoisie die Demokratie immer unbequemer; sie braucht diese denn das reaktionärste Land mit einem Parlament, das Budgets nicht, um die Staatsgewalt zu beherrschen, die ihr ohnedies unterbewilligen und ablehnen darf, besitzt immer noch mehr Freiheit" tan ist. Die Demokratie kann da nur noch Mittel sein, und wird als ein ganz absolutistisch regiertes Land. Dann müßten auch die es immer mehr, die politische Organisation und Machtentfaltung preußischen Sozialdemokraten das Budget bewilligen, weil sie mehr des Proletariats zu fördern des Tobfeindes der kapitalistischen Freiheit" haben als die Russen. Am Ende könnte man auch noch Ausbeutung. die Erwartung, welche die Fränkische Tagespost" der bayerischen In den höchstentwidelten Staaten sehen wir daher ein Stoden Budgetbewilligung entgegenbringt, auf eine preußische ausdehnen, der demokratischen Entwickelung, vielmehr eine Bermehrung des sie werde aufstachelnd" auf den Zaren wirken, seinem Volfe ebenso- Ansehens und der Macht der Regierungen. Man sucht, wo das viel Freiheit zu geben, wie sie Breußen hat, und eine äußerst Proletariat schon au start ist, es mitunter noch au beschwichtigen Politit des Zusammenwirkens der Klaffen einzuschlagen, die bei
In dieser Behauptung stedt ein Körnchen Wahrheit, aber ein sehr kleines. Daß das Proletariat in Süddeutschland mehr Bewegungsfreiheit und staatsbürgerliche Rechte besitzt und die Sozialdemokratie in den Landtagen anständiger behandelt wird, kann man wohl zugeben. Wenn das bewirkt, daß auch auf unserer Seite ein weniger schroffer Ton angeschlagen wird, so wird sich dagegen faum etwas einwenden lassen. Aber von einem höflichen Tone bis zur Budgetbewilligung ist ein weiter Schritt, den zu gehen das bißchen mehr Freiheit in keiner Weise zivingt.
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Diese industrielle Rückständigkeit hemmt auch die Entwickelung der Klaffengegenfäße im Süden. Mehr als anderswo beherrscht dort im allgemeinen noch das Fühlen und Denken des Kleinbürgertums die gesamte Bevölkerung. Sind doch auch die Proletarier wie die Kapitalisten dem Kleinbürgertum und dem Kleinbauerntum entsprossen und bewahren noch lange dessen Denkweisen. Das Denken folgt ja nur langsam der ökonomischen Entwickelung. Jm ökonomischen Leben können sich die Klassengegensätze zwischen Proletariern und Unternehmern sehr scharf zugespitzt haben, und doch können sich beide, wenn sie derselben Schicht, dem Kleinbürgertum entstammen, in Lebensgewohnheiten und Neigungen, in Ges selligkeit und Politik immer noch nahe stehen. Je mehr dies der Fall, desto schwieriger die sozialistische Agitation, desto mehr vers dienen ihre Erfolge Anerkennung, desto näher aber auch die Gefahr, die Bedeutung der Klassengegensäge zu unterschäßen und eine