Ar. 221. 25. Jahrgang. 2. Miijjt irs„ilonBüriö" Kerlim WlksdlM Zomtlig, 20. Zeplemb» M8. ver italienische LecveriiichzftskongrelZ. Vom 6. bis 10. September hat in M o d e n a der siebente italienische Gewerkschaftskongreh gelagt, der gleichzeitig der zweite Kongreß der italienischen Konföderation der Arbeit, der im Jahre 1906 gegründeten Zentralorganisation unserer Gewerlschafts- beweguiig, war. Aus dem Rechenschaftsbericht, der im Druck vorliegt, entnehmen wir, daß die Konföderalion am 30. Juni 1907 einen OrganisationS - bestand von 190 422 Mitgliedern aufwies, deren Zahl am 30. Juni 1908 auf 306 957 gestiegen ist. An dem Zuwachs von 116 535 Organisierten sind die Landarbeiter mit 70 000, die industrielle» Arbeiter aber nur mit 46 535 beteiligt. Nicht zu Zentralverbänden vereinigten Geiverkschaften gehörten 20 038 Organisierte an<gegen 27 593 im Vorjahre), an Arbeitskammern angeschlossenen Gewerl- schaften 147 249(gegen 97 429), in Zentralverbänden zusammengeschlossenen Gewerkschaften 139 670(gegen 65 395). Die Einnahmen der Konföderation, die ungefähr die Funktionen der deutschen General- kommission hat, beliefen sich in den 21 Monaten ihrer Existenz aus 32 740 Lire, denen 33 101 Lire Ausgaben gegenüber stehen. Eröffnet wurde der Kongreß vom Genossen M a r i a n i.< Werden dann die Begrüßungsschreiben der Generalkommission der deutschen Gewerkschaften 4ur Verlesung gebracht, ebenso wie die der gewerkschaftlichen Zenlralorganisalionen Spaniens , Hollands . Norwegens , des Generalrats der Trade Unions u. a. m. Der Kongreß, an dem gegen 200 Delegierte teilnehmen, die 216 849 Organisierte vertreten, hatte zunächst bei der Entgegennahme des Rechenschaftsberichts des Genoffen R i g o l a mit einigen wichtigen Ereignissen der letzten Jahre abzurechnen, die zu Krüiilen über daS Verhalten des Exekutivkomitees der Konföderation Anlaß gegeben halten: der angedrohte und nicht ausgeführte Eisen bahnerstreik vom Frühjahr 1908 und der Landarbeiterstreik von Parma . Namentlich die Eisenbahner, deren über 50 000 Mit- glieder zählende Organisation einen wichtigen Bestandteil der Kon» föderation bildet, waren in ihren Kritiken gegen das Exekutivkomitee sehr heftig. Doch wies das Komitee die Vorwürfe berechtigterweise mit der Bemerkung ab, daß der Landestongreß der Eisenbahner die Frage bereits verhandelt und nach Entgegennahme der Erklärungen der Konföderation über sie zur Tagesordnung übergegangen war. Auch die Sache des Parmeuser Streiks, die von anwesenden Shndikalisten angeschnitten wurde, konnte nicht gegen die Kon- föderation ausgeschlachtet werden. Aus der Darstellung der Tat« sachei! ging mit Deutlichkeit hervor, daß die Konföderation nicht den Streikenden von Parma durch ihre Euguetc in den Rücken gefallen war, sondern daß der Streik damals tatsächlich schon tot war und die Konföderation nichts anderes getan hatte, als diesen Tod zu konstatieren. Es wurde sogar festgestellt, daß die nicht in syndikalistischem Geiste arbeitenden Organisationen zu viel, nicht zu wenig für den Streik getan hatten, indem sie gegen 200 000 Lire aufbrachten für eine Beivegung, deren Methode sie nicht billigten und die in der Tat Tausende von Arbeitern in bitterste Not ge- bracht hat. Weiter ging aus der Diskussion hervor, daß die Syndikalisten von Parma , die sich für berechtigt hielten, für ihre Beivegung jedes Opfer des italienischen Proletariats i» Anspruch zu nebmen, gar nichts für die sozialistische Erziehung ihrer Arbeitermasje getan haben, da in verschiedenen Orten parmensische Arbeiter als Streikbrecher aufgetreten sind, sogar i» Frankreich , wo sie an der elsässischen Grenze die Löhne in einer Weise drückte», daß die Arbeiter von R c g g i o E m i l i a die Rückkehr in die Heimat den so geschaffenen Arbeitsbedingungen vor- zogen. Gerade die Uebcrtricbenheit und Grundlosigkeit der Angriffe gegen das Exekutivkomitee der Konföderation in Bezug auf die Panneufer Bewegung drängte andere, nicht grundlose und nicht übertriebene Aiillagen in den Hintergrund und verwandelte die Billigung der Aktion des Komitees in eine wahre Ovation. Als erster Punkt kam die Aenderung des Organi- fationsstatuts zur Diskussion. Bon den zur Annahme ge« langten Aenderungen waren besonders zwei von Bedeutung: die Verleihung des Stimmrechts an den Sekretär der Konföderation, der mit zwei Mitgliedern des Ausschusses das Exekutivkomitee bildet, und die ausdrückliche Erklärung, daß die auf dem Boden des Klassen- kampfes stehenden, ans Gewerkschaften entstandenen Genossenschaften der Konföderation der Arbeit angehören können. In dieser Erklärung wird endlich sanktioniert, daß die Genossenschaft, soweit sie Arbeits- oder Produklivgenossenschast ist, ebenso gut eine Kainpforganisation der Proletarier darstellt, wie die Gewerkschaft. Ueber die Disziplinierung der Streikunter- stütz ung referierte in trefflicher Weise Genosse Calda, Sekretär der Arbeitskammer von G e n u a, und R i c c i a r d i, Sekretär der Gewerlschajt der Flaschenarbeiter. Beide treten dafür ein, daß es an der Zeit sei, die sentime>itolen Beweggründe bei der Gewährung von Streikunterstützung beiseite zu laffen. Heute wendet das italienische Proletariat seine Unterstützung den Bewegungen zu, für die man.Reklame' zu machen versteht. Auch wenn man einen Streik zu gründe gehen siebt, gibt man tauscnde für ihn hin, ohne Gewähr für die rechte Verwendung der Gelder, die dann gelegentlich, wie m Parma , für die Unterstützung der syndikalistischen Presse anstatt für die der Streikenden dienen. Interessant war auch, daß Genosse Ricciardi mit größter Energie gegen die Verschickung der Kinder aus den Slreikgebieten auftrat. Es sei dies eine antipathische und unrationelle Form der Unterstützung. Wenn man daS Geld. ivas der Transport der Kinder und ihrer Begleitung, sowie der Unter« halt kostete, oder auch nur die Hälfte davon, den Streikenden zu- wendete, so würde nian die Sache unendlich weit mehr fördern. Dazu wären aber die Arbeiter nicht zu bringen, weil dabei ihre Seiitimentalilät nicht auf ihre Rechnung käme. Auch sei diese ver« schickung der Kinder für diese selbst vielfach unheilvoll, weil sie sich an einen Wohlstand gewöhnen, aus den sie leider in ihrem Heim wieder verzichten müssen. Nach langer und interessanter Diskussion tourden die folgenden Normen für die Etreikunlerslützung aufgestellt: 1. Aufrufe zu nationalen oder internationalen Sammlungen sind an die Organisationen ausschließlich durch die Konföderation der Arbeit zu richten. 2. Die Zemralverbände können unter ihren Mitgliedern im Inland und unter dem ausländische,, Verband, an den sie an- geschloffen sind, zugunsten von Streiks in ihrem Berus Sammlungen veranstalten. 3. Die wirtschaftliche Unterstützung eine? Streik« durch die Konföderation kam, nur durch den entsprechenden Zentralverband und. wo dieser fehlt, durch die Arbeitskammer des Ortes angerufen werden: sind die Streikenden nicht organisiert oder konfödencrt. so braucht die Organisation die Unterstützung nicht zu gewähren. 4. Vor der Eröffnung der Sammlung muß sich die Konföderation ver« qewisiern. ob die Unlerstützung des Streik» im Jntereffe der streitenden Kategorie und in dem des Proletariat» liegt Aus alle Fälle dors keine Unterstützung vor dem fünfzehnten Streiktage ge« währt werden. 5. Bei Streiks, die die Konföderation unterstützt, ha, sie daS Recht, auf die Leitung Einfluß zu üben und die Ver« teilung der Unterstützungen zu kontrollieren. 6. Wenn ein Streik aussichtslos erscheint. ,0 beschließt die Konföderativn durch Rc- fcrendum unter ihrem Ausschuß, ob sie daö Streikkomitee zum Aufgeben des Streiks auffordern soll und eventuell die Unterstützung einstellen. 7. Ein teilweiser oder völliger Wechsel der Streikleitung bei unterstützten StreilS darf nur durch die interessierten Organi- sationen und im Einvernehmen mit der Konföderation erfolgen 8. Die durch Initiative der Konföderation gesammelten Summen werden durch da» kon'ödcrnle Exekutivkomitee verteilt. 9. Bleibt nach beendeiem Streik ein Neberjchuß der Sammlung, so wird dieser der Zenlralstreikkasse zugeführt. io. Bei Streiks, die von nicht- oraanisierlen Arbeiten, prokiamiert wurden, wird die Konföderation ihr Verqalien von Fall zu Fall entscheiden, stets im Einvernehmen mit dem Zentralverbande des entsprechenden Berufs und der Arbeits-> kammer des entsprechenden Ortes, wenn diese der Konföderation an- gehören. Schließlich fordert die Konföderation die Organisationen auf. keinen ausgedehnten Streik in ihrem Berus oder Gebiet zu proklamieren, ohne vorher die Zustimmung der Konföderalion einzu- holen. In, Falle des Zuwiderhandelns gewährt die Konföderation keine Unterstützung, es sei denn, daß es sich um Abwehrstreils handele. Fast alle diese Beschlußfassungen sind direkt durch die Er- fahrungen des Streiks von Parma angeregt worden. Hier har das italienische Proletariat fortgefahren, Tausende und Zehntansende von Lire zu geben, als der Streik schon hoffnungslos war, hier haben die Syndikalisten jede Abrechnung verweigert und die nach Ende des Streiks bleibende Summe ihren Fraktionszwecke» zugeführt. Der wichtigste Teil des Kongresses war die Verhandlung und Beschlußfassung über die Stellung der Konföderationen zu den politischen Parteien. Wie bekannt, ist die Kon- föderation von Resormisten gegründet und von Anfang an mit reformerischem Geiste getränkt worden. In bezug auf die Stellung von Gewerkschaftsbewegung und Politik haben min unsere Reformisten zwei Phasen durchgemacht und stehen jetzt in der Eni- Wickelung zur dritten. Zuerst wollten sie— und ihre Wortführer waren Turati und Cabrini— jede Politik aus den Gewerkschaften verbannen. Die gewerkschaftlich Organisierten sollten lediglich ihre wirtschaftlichen Interessen schützen und bedurften keiner weiteren Einigung, als dieser Jntereffengemeinschaft. Dann kam man dazu, in den sogenannten demokratischen Parteien den Rückhalt, den politischen Ausdruck der Bedürfnisse des gewerlschaftlich organi- sterten Proletariats zu sehen. Die Jntereffen dieses Proletariats haben immer die Rechtfertigung der Bündnisse mit Republikanern und Radikalen abgeben müssen. In dieser Phase stand der Gewerk- schaftSkongreß. aber er deutete auch schon die neue an: die Tendenz zur Entimckelung einer Partei der Arbeit, mit eigenen Arbeiter- kandidaten, unabhängig von allen Parteien. Vielleicht hat die starke Gegenströmung auf dem Kongreß daS offene Hervortreten dieser Tendenz verhindert. Das Exekutivkomitee der Konföderation hatte eine Tagesordnung vorgelegt, die den Standpunkt der unpolitischen Gewerkschaften ver- wirst, die Notwendigkeit von Beziehungen mit politischen Parteien anerkennt und als in Betracht kommend bezeichnet:.Die sozialistische Partei sowie die anderen Parteien, die den proletarischen Klassen- kämpf nicht hindern und Programm und Methoden der Konföderation der Arbeit annehmen. Die Tagesordnung teilt dann der Konfede- ration und den Parteien ihre Aufgaben zu: die Konföderation solle die Leitung der ökonomischen Bewegung haben und das Recht, den Generalstreik zu proklamieren, die politischen Parteien sollen die Organisation, besonders die Gruppierung an Zentralverbände fördern, im Einklang mit der Konföderation die politischen Manisestationen organisieren usw. Gegen diese Tagesordnung nahmen einmal die Syndikalisten Stellung, die, als Geistesverwandte der Reformisten, die Politik aus den Gewerkschaften verbannen wollten. Da sie aber nur sieben Vev treter aus dem Kongreß hatten— die syndikalistischen Organisationen gehören der Konföderalion nicht an— blieb ihr Widerspruch einfluß loS. Dann wurde aber von feiten der nichtreformistischen Sozia sisien— oder doch nicht so ausgeprägt reformistisch, wie die Führer der Konföderation— gegen die Tagesordnung angeführt: daß sich auch ganz konservative Parteien finden können, die den Klaffen kämpf nicht hindern, weil er eben eine Tatsache ist und daß es lächerlich sei, den politischen Parteien, die man für bündnisfähig dielte, ihre Aufgaben vorzuschreiben. Die Tagesordnung der Kon- föderation wurde nun in dieser neuen Auffassung abgeändert und von Vertretern der Laiidarbeiterorganisationen von R a v e n n a, Mantua , Mirandola u.a. sowie von dem Zentralverband der StoatSarbeiter— im ganzen von etwa 110 000 Organisierte»— unterzeichnet. Die Tagesordnung Jirardini beginnt mit der Erklärung, daß das Prinzip der politischen Arbeiterorganisationen heute nicht mehr aufrecht erhalten werden könne, sondern der Erkenntnis Raum geben muffe, daß politische und gewerkschaftliche Organisation einander ergänzen sollen. Als politische Parteien, mit denen die Konföderation der Arbeit Beziehungen haben könne, werden be- zeichnet„die sozialistische Partei und diejenigen anderen Parteien, die die Methoden deS Klassenkampfes und daS Programm und d i e M e t h o d e n d er K onf ö d era ti o n der Arbeit annehmen.' Die Tagesordnung fährt dann fort: „Jeder der beiden großen Organismen, Gewerkschaft und die politisch organisierten Kräfte der Demokratie, hat seine eigene Wesenheit, die seiner Natur entspricht und der gemäß er seine eigene Aktion ganz selbständig regeln mutz. Aber der Klassen kämpf deS Proletariats führe immer mehr auf Gebiete, auf dem Forderungen durch Einvernehiiie» mit den politischen Parteien erleichtert werden. Darum wird der proletarische Kampf um so fruchtbarer sein, je mehr die beiden Organisationen im Einklang vorgehen, ohne ihre Wesenheit und Unabhängigkeit, und die Ein heittichleit und Kontinuität ihrer Aktion einzubüßen. Sobald sich Meinuiigsverschiedeiiheiten über die Zweckmäßige keit einiger Kampfmcthoden ergeben sollten, so haben die beiden Organisationen durch ihre ExelntivkoimteeS im wechselseitigen Interesse die Grundlagen des Einvernehmens festzustelleii. Der Kongreß erklärt, daß die Gewerkschaften ihre Pflicht im Kampfe für die Befreiung der Arbeiterklasse nur ersüllcn, wenn sie gleichzeitig eine energische und klassenbeivußte Aktion auf politischem Gebiete entfalten und daß die politischen Parteien nur dann den Grundsätzen der Demokratie gehorchen, wenn sie bei jeder Gelegenheit und mit jedem Mittel die Gewerkschaften in ihrem Kampfe für die soziale Hebung der Arbeiterschaft unter- stützen. Er erklärt weiter, daß die immer wachsende Konzentration der Produktionsmittel sowie die Vermehrung und Erstarkung der Unternehmerorganisationen die Arbeiterorganisationen zur Ohnmacht verurteilen würden, wenn diese sich allein ihre BerufSinteressen angelegen sein ließen, sich aus den Boden des Verbandsegoismus stellten, den LokalismuS der Organisationen begünstigten oder die Theorie der Jntereffenharmonie zwischen Kapital und Arbeit gelten ließen. Deshalb erklärt der Kongreß, daß ausschließlich der Kon- föderation zukommt: a) Die Leitung der wirtschaftlichen Streiks der der Konfvde» ratton angehörenden Organisationen, soweit sie allgemeine Jntereffen des Proletariats betreffen; d) Die Entscheidung über die Eröffnung von Sammlungen unter den konföderierten Organisationen für Streiks in Berufen, deren Zentralverbände im Widerstreit zur Konföderation oder deren Verband in Konflikt zu ihrem Zentralverbande stehen: ' �"...... in allen Berufen. o) Die Proklamierung des Generalstreiks und beschließt, eS dem Exekutivkomitee und überlaffcn, die Beziehungen mit den oben erwähnten Parteien, den allgemeinen Ereigniffen und der politischen Opportunität enl- sprechend zu regeln.' Diese Tagesordnung zeichnet sich nicht durch besondere Schärfe und Klarheit aus, was wohl darauf beruht, daß die Amendements in die altx Tagesordnung der Konföderation eingefügt wurden. Immerhin ist es klar, daß sie als.bündnisfähig' nur die sozialistische Partei gelten läßt, und die republikanische, soweit sie ihre bürger- liche Wesenheit und ihre- Geschichte verleugnet und die Methode des KlaffenkantpfeS als ihre Methode gelten läßt. Befremdend ist, daß die Unterzeichner den Generalstreik, der eine eminent politische Manifestation ist. der Kompetenz der Konföderation der Arbeit zu- wiesen. Die Leiter der Konföderation fanden denn auch, daß ihnen die Tagesordnung mehr gab, als sie ihnen nahm, und stimmten für sie. wodurch der Versuch der Unterzeichner, eine Opposition zujanunen zu scharen, vereitelt wurde. Die Unterzeichner der Tagesordnung haben nur die Befriedigung, ihrerseits den Plan vereitelt zu haben, auf dem Kongreß die Grundlage eines großen demokratischen Wahl- blocks zu schaffen. Mit der Abstimmung über diese Tagesordnung, die mit allen gegen die siedelt Stimmen der Syndikalisten durchging, war das Hauptinteresse des Kongresses erschöpft. Auch war man am Nach- mittage des vierten und letzten Verhandlungstages angelangt und die Delegierten waren müde. Nach der Wahl des Exekutivkomitees und des Nationalrats, die im wesentlichen den Lt-rtus quo bestätigt, werden die Referate Cabrini und d'Aragona über Arbeiterversicherung entgegengenommen und ihre Forde- rungen fast ohne Diskussion gebilligt. Wir werden Gelegenheit haben, auf diese Forderungen zurückzukommen, wenn sie vor daS Parlament gebracht werden. Zur Frage General st reik und öffentliche Dienste hatte Genosse dell'Avalla, Sekretär der Mailänder Arbeits- kammer, ein Referat vorgelegt, in dem er für die das ganze Land umfassenden Generalstreiks auch die Arbeitsenthaltung der Arbeiter der öffentlichen Dienste— Eisenbahnen, Trams. Be- leuchtung usw.— forderte, für lokale Streiks aber die Fortführung dieser Betriebe verlangte, da ihre Unterbrechung eine so tiefgehende Störung des sozialen Lebens mit sich bringt. Es zeigte sich aber bei der Diskussion, daß die Frage noch nicht genügend geklärt war. weshalb man beschloß, dieses Thema auf die Tagesordnung des nächsten Kongresses zu setzen. Schließlich referierte Genoffe P a g l i a r i über die Stellung der Gewerkschaftsangestellten, für die er Berufsausbildung durch be- sondere Kurse und bessere Bezahlung verlangte, worauf der Präsident, Genosse C h i e s a, den Kongreß mit einem Rückblick auf die gethane Arbeit und dem Wunsch für weitere gedeihliche Fortschritte schloß.— Der Kongreß, der auch in der bürgerlichen Presse viel Beachtung gefunden hat, war besonders dadurch bemerkenswert, daß die Ver- Handlungen mit ganz wenigen Ausnahmen ausschließlich von Arbeitern geführt wurden. Durch Ernst und Sachlichkeit stach er vorteilhaft von dem italienischen Parteitage ab. Daß die Meinungen nicht heftig aufeinander platzten, war freilich schon dadurch bedingt, daß die dissidenten Organisationen der Konföderation gar nicht bei- getreten sind. Jedenfalls hat die Zentralorganisation unserer Ge- werkschaften gezeigt, daß sie praktische Arbeit zu leisten versteht. Möge sie auch in Zukunft zeigen, daß sie der praktischen Arbeit und den praktischen Interessen der Gewerkschaften nicht die ideelle» Forde« rungen des Sozialismus unterzuordnen bereit ist.— Gmcbta-Zeitung. Ein sechzehnjähriger Sittlichkeitsverbrecher.__ Vor der zweiten Strafkammer des Landgericht» Berlin III stand gestern der fast 17jährige Arbeitsbursche Kurt Keller, der beschuldigt ist, durch fünf Handlungen Sittlichkeitsverbrechen in Schöncberg begangen und am 5. Januar d. I. Totschlag an der vierjährigen Else Michlke im Hause Knobelsdorf st raße 37 zu Char- lottenburg verübt zu haben. Den Vorsitz führt Landgerichts- direktor R e i ch h e l m, die Anklage vertritt StaatSanw.Rat Michaelis, die Verteidigung führt Rechtsanioalt Zauke. Es sind 37 Zeugen vorgeladen, ferner als Sachverständige Oberarzt Dr. Neustadt- Westend , Medizinalrat Dr. B ü t o w- Char- lottenburg, GerichtScBemiker Dr. I e s e r i ch und Gerichtsarzt Dr. Marx. Die Oefsentlichkeit wird während der Dauer der VerHand. lung ausgeschlossen. Der seit dem 4. März in Untersuchungshaft sitzende Angeklagte ist ein kleiner, schmächtiger, noch sehr jungen- Haft aussehender Mensch, der einen Teil seiner Untaten in ge- wisser harmloser Art zugibt. Zu seinen Personalien gibt er an, daß er am 6. Oktober 1891 geboren sei. Er ist der Sohn der unverehelichten Marie Keller, jetzigen Frau Börnick. Der Angeklagte hat die Schule bis zum 15. Lebens- jähre besucht und ist nur bis zur vierten Klasse gekommen. Im Jahre 1906 ist er aus der Schule entlaflen worden, dann war er in den ver- schiedenen Stellen als Lauf- bczw. ArbeitSbursch« beschäftigt. Am 4. März ist er in Steglitz verhaftet worden. Krankheiten, die Zweifel cm seiner geistigen Gesundheit zulassen, hat er nicht durch- gemacht. Auf Befragen des Vorsitzenden, ob er Räubergeschichten gelesen, erklärt der Angeklagte, daß er„Buffalo Bill ' und „Nick Carter' gelesen.— Er gibt in zwei Fällen die ihm zur Last gelegten unsittlichen Handlungen an einem kleinen Jungen und einem kleinen Mädchen unumwunden zu; den dritten Fall, in welchem es sich gleichfalls um ein an einem kleinen Mädchen bea gangeneS Sittlichkeitsattentat handelt, bestreitet er plötzlich, nachdem er ihn früher unumwunden zu gegeben hatte. Ebenso bestreitet er den Hauptfall der Anklage, die Tötung der kleinen Else Miehlke. Diese ist, wie bekannt, am Sonntag, den 5. Ja- nuar, nachmittags 5 Uhr, von einem jungen Mann in daS Haus Knobelsdorfstraße 37 verschleppt und ihr der Bauch aufge» schlitzt worden. Das Kind ist den furchtbaren Verletzungen ev» legen. Der Angeklagte hat bei seiner verantwortlichen Vernehmung vor der Polizei auch diese scheußliche Tat mit allen Einzelheiten zugegeben; er hat dann auch ein ganz freies Geständnis vor dem Unter. suchungLrichter abgelegt. Nachher hat er das Geständnis Wider. rufen. Später hat er sich aus freiem Antriebe vorführen laffen und angegeben, daß er doch der Täter sei. Er hat auch bei» dieser Gelegenheit die Tat mit allen Einzelheiten beschrieben, den Tatort genau bezeichnet und die Kleidung der Miehlke geschildert usw. usw. Trotzdem bestreitet er im lseutigen Termin, die Tat verübt zu haben. Der Vorsitzende hält ihm wiederholt eindringlich� vor, daß er bei seinen Geständnissen so viel zutreffende Einzel-, heiten der Tat angegeben, die nur jemand kennen konnte, der wirk. lich der Täter sei. Er weiß keinen irgendwie plausiblenc Grund anzugeben, wie er dazu gekommen ist. seine Ge- ständnisse abzuleugnen und woher er die Einzelheiten der T a t kannte. Auf Vorhalt meint er, er habe das Polizei. liche Plakat gelesen, es wird ihm aber sofort nachgewiesen, daß iw diesem die Einzelheiten nicht enthalten waren. Der Vorsitzende hält dem Angeklagten weiter vor, daß er doch unmöglich glauben konnte, sich durch ein falsches Geständnis zum Helden zu stempeln. Der Angeklagte gibt sodann an: er habe die Tat zugegeben, weil er gedacht habe, es könnte am Ende nicht so schlimm wer- den; er habe nicht geglaubt, daß er vor Gericht kommen werde, sondern angenommen, daß man ihn vielleicht in eine Erziehungsanstalt bringen könnte. Bei dem Vorhalt bestimmter Einzelheiten seines Geständnisses ver. schnappt sich der Angeklagte einmal, indem er dem Vorsitzenden er- klärt:„Die Kleider ides Mädchens habe ich nicht durchstochen, sondern nur die T r i k o t h ose n.' Die Verletzungen der kleinen Else Miehlke sind nach dem Gut- achten der Aerzte, die die Obduktion ausgeführt haben, ganz furcht- bare gewesen. Der Stoß mit dem Messer, daS diese Verletzungen hervorgerufen, � muß mit großer Gewalt geführt k en sei n. Die Beweisaufnahme zu den einzelnen Fällen entzieht sich ihrer ganzen Natur nach größtenteils der Wiedergabe. Der Angeklagte hat u. a. ein kleines Mädchen, dem er einen Ring geschenkt hate, in einem Hause vergewaltigen wollen. Als das kleine Mädchen schreien wollte, hat ihr der Angeklagte gedroht, sie zu schlachten, wenn sie sthreien würde und ihr den Mund zugehalten. Diesem kleinen Mädchen ist eS zu danken, daß man auf die Spur des Au,
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